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Sie fühlte sich wie fremdgesteuert, als sie durch die gläserne Eingangstür der Psychiatrie trat. Dort, in einem Klinikum im Allgäu, war ihr Sohn zwangseingeliefert worden. Gegen seinen Willen und mit Polizeieskorte. Adele hatte schon länger geahnt, dass da was nicht stimmt mit ihrem Jungen. Als sie ihm dann im Krankenzimmer gegenüberstand, musste sie seinen Anblick erst mal verkraften: „Für mich war er natürlich mein Sohn. Aber er sah sehr verändert aus. Irgendwie wie Jesus, mit langen Haaren und langem Bart.“

Über ein Jahr hatte sie ihn bis dato nicht mehr gesehen, da der Kontakt abgebrochen war. Ein Arzt erklärte Adele, dass ihr Sohn an einer schizophrenen Psychose erkrankt sei. Nach zwei Stunden Besuchszeit verließ sie die Klinik und ­heulte Rotz und Wasser.

Betroffene leiden an Wahnvorstellungen

Was ist eine Psychose? Der Begriff „Psychose“ umfasst verschiedene Erkrankungen. Trotzdem versteht man darunter im allgemeinen Sprachgebrauch die „schizophrene Psychose“. Hierbei handelt es sich um eine seelische Krankheit, bei der die ­Betroffenen unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen leiden. Dadurch hören sie zum Beispiel Stimmen, nehmen körperliche Veränderungen an sich wahr, spüren etwa Würmer unter der Haut, die sich medi­zinisch nicht nachweisen lassen. Erkrankte fühlen sich häufig verfolgt, wittern überall Spione und werden selbst Angehörigen gegenüber misstrauisch.

Prof. Dr. Joseph Bäuml Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der TUM. Er beklagt, dass es zu wenig psychoedukative Angebote für Angehö­rigengruppen gibt.

Prof. Dr. Joseph Bäuml Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der TUM. Er beklagt, dass es zu wenig psychoedukative Angebote für Angehö­rigengruppen gibt.

Im Kindesalter ist die Krankheit extrem selten. Meistens bricht die Psychose zwischen der Pubertät und dem 35. Lebensjahr aus. Grundsätzlich kann sie aber in jedem Alter auftreten. Das Geschlechterverhältnis ist eins zu eins: Männer und Frauen erkranken also gleichermaßen. „In jungen Jahren trifft es eher die Männer, weil ­Frauen ihren Östrogenschutz haben“, erklärt Prof. Dr. Josef Bäuml. Das gleiche sich mit den Wechseljahren aber aus, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der TUM.

Erkrankung wird oft spät diagnostiziert

Bevor Adeles Sohn überhaupt ins Klinikum kam, galt er in seinem Ort als Drogendealer. Dabei hatte er mit Drogen gar nichts am Hut. Doch im kranken Wahn redete er wirr vor sich hin, hatte ein bedrohliches und unberechenbares Auftreten.

Um ihren Sohn zu schützen, hat Adele seine gesetzliche Betreuung übernommen. Er soll nie wieder aufgrund der Krankheit im Gefängnis landen.

Um ihren Sohn zu schützen, hat Adele seine gesetzliche Betreuung übernommen. Er soll nie wieder aufgrund der Krankheit im Gefängnis landen.

Einmal wurde er niedergeschlagen, weil er einen Passanten angestarrt hatte. All das erfuhr seine Mutter nach und nach. Ebenso, dass er seinen Ausbildungsplatz und die Wohnung verloren und ein Jahr lang obdachlos auf der Straße gelebt hatte. Weil ihm das Geld fehlte, war er schwarzgefahren und mehrfach erwischt worden. Das brachte ihm zwei Monate Gefängnis ein. Erst dort im Gefängnis erkannte der Arzt, dass etwas mit Adeles Sohn nicht stimmt. Dass er ernsthaft krank ist.

Adele war tief geschockt, wie schlecht es ­ihrem 21-jährigen Sohn ergangen war: „Er konnte ja nichts dafür, dass er diese Krankheit bekommen hat. Und doch war er wie ein Schwerverbrecher behandelt worden.“ Acht Monate blieb er in der Klinik. Um für ihn da zu sein, zog Adele in seine Nähe.

Solange er seine Tabletten nahm, war er zugänglich und es ging ihm deutlich besser. Adele war froh, für ihn da sein zu können. Und er war dankbar. Doch das änderte sich, als er auf eigene Faust nach dem Klinikaufenthalt seine Medikamente absetzte. Er verfiel in alte Krankheitsmuster, wurde seiner Umwelt gegenüber wieder misstrauisch und aggressiv.

Angehörige fühlen sich ohnmächtig

Das ist für Angehörige ein Albtraum“, weiß Claudia Altmann. Die Wiener Psychotherapeutin hat in ihrer beruflichen Laufbahn im sozial­psychiatrischen Bereich mit Menschen mit Schizophrenie zu tun. Und auch mit deren Angehörigen. Enorm spürbar ist immer das Gefühl von Ohnmacht. Ohnmacht darüber, seinem kranken Kind, seiner kranken Mutter oder dem Vater nicht helfen zu können. Dabei zusehen zu müssen, wie sich der Krankheitszustand verschlimmert – und nicht wirklich eingreifen zu können.

„Bei psychotisch erkrankten Menschen wollen wir die Verantwortung übernehmen, weil sie nicht zurechnungfähig wirken. Aber vor dem Gesetz sind sie dies über lange Zeit“, schildert Altmann die schwierige Lage.

Menschen mit schizophrenen Psychosen können nach geltendem Recht nicht gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen werden, solange sie nicht sich oder andere akut gefährden. Leider muss deshalb oft erst etwas „passieren“, bevor eine Behandlung möglich ist. Manche nehmen im Wahn etwa eine Überdosis Tabletten und bringen sich so in Lebensgefahr.

Hilfe für Angehörige

„In der Regel können Angehörige nur begleiten“, so Altmann. Wer sich sehr belastet fühlt, den fordert die Psychotherapeutin auf, sich dringend Hilfe und Zuspruch bei Beratungsstellen, therapeutischen Ambulanzen und Selbsthilfegruppen zu holen. Längerfristig ist für Angehörige auch eine Psychotherapie sinnvoll. „Die häufigen Rückfälle und die fehlende Krankheitseinsicht der Betroffenen sind für die Angehörigen unfassbar belastend“, bestätigt auch Bäuml.

Mit das Schwierigste sei, dass die Angehörigen nie ganz sicher sein könnten, dass es jetzt ein für alle Mal vorbei ist: „Selbst wenn es der oder dem Kranken gut geht, kann das in drei Wochen wieder ganz anders ausschauen.“ Die ersten fünf Jahre sind in der Regel die unruhigsten. Angehörige brauchen ihre Zeit, um in die Krankheit des betroffenen Familienmitgliedes ­hineinzuwachsen. Bäuml: „Es ist ein Lernprozess. Und dieser Prozess ist oft sehr anstrengend.“

„Meine Mutter wollte mich schützen“

Mina war von klein an der Krankheit ­ihres Vaters ausgeliefert. Seine Wahnvorstellungen wurden kurz nach ihrer Geburt diagnostiziert. Weil der Vater in seiner Psychose auch gewalttätig wurde, lies sich Minas Mutter von ihm scheiden und zog das Kind bei sich auf. „Meine Mutter wollte mich schützen“, erzählt Mina rückblickend. Doch ihr Vater behielt weiterhin das Besuchsrecht.

„Für mich war es immer schwierig, dass er von Menschen gesprochen hat, die uns heimlich abhören. Er dachte, die Außen­welt könnte uns Böses tun. Er hatte unglaubliche Angst, Nachbarn würden ihn vergiften.“ In seiner Panik reagierte der Vater häufig impulsiv, trat um sich, warf Gegenstände durchs Zimmer. „Ich habe versucht, mich anzupassen“, schildert Mina: „Ich war ein sehr liebes und unauffälliges Kind, ­damit bloß nicht die nächste Explo­sion kommt.“

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Als Mina neun war, konnte ihre Mutter das Gericht überzeugen, dass der Vater sich künftig fernhalten soll. Zwei Jahre herrschte Funkstille. Dann meldete er sich wieder. Und seine Tochter freute sich. Das Trauma der Kindheit hatte sie verdrängt, konnte sich nicht mehr erinnern. Doch die Psychose des Vaters war noch da. „Es konnte passieren, dass er mich in einer Stunde 50 Mal angerufen hat. Meine Mutter sagte dann nur: Dein Vater spinnt wieder. Ruf ihn zurück. Das habe ich gemacht. Aber es war so belastend für mich.“

Immer wieder kam der Vater in die Klinik, wurde behandelt, kam heraus, setzte die Tabletten ab. „Er wollte sich schützen. Dieser Schutz wäre natürlich eine psychiatrische Behandlung gewesen. Aber dafür hätte er seine Krankheit akzeptieren müssen. Das tat mein Vater nie!“

Angehörige tragen keine Schuld

So auffällig die Symptome einer schizophrenen Psychose sind, so heimlich wird mit dem Thema oft umgegangen. Angehörigen fällt es schwer, die Krankheit im Verwandtenkreis anzusprechen. Eltern schizophrener Kinder fühlen sich schuldig und fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben. „Schnell kommen dann auch von ­außen Vorwürfe statt Unterstützung“, bestätigt Bäuml. Also tragen betroffene Angehörige die Last der Sorgen oft allein. Ein Versteckspiel, das viel Kraft abverlangt.

Was wir wirklich lernen müssen, ist, dass ein Mensch mit schizophrener Psychose krank ist. Und diese Krankheit bricht aus, ganz egal, wie gesund wir davor gelebt haben oder nicht

„Was wir wirklich lernen müssen, ist, dass ein Mensch mit schizophrener Psychose krank ist. Und diese Krankheit bricht aus, ganz egal, wie gesund wir davor gelebt haben oder nicht“, kann Alexandra Chuonyo gar nicht deutlich genug betonen. Als Leiterin der Geschäftsstelle des Landesverbandes Bayern der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. nimmt sie immer noch wahr, wie Familien mit psychotischer Erkrankung diskriminiert und stigmatisiert werden. „Der ist doch verrückt und gehört in die Klapse“ – für Angehörige sind solche Sprüche schwer auszuhalten, wenn die Gesellschaft so abwertend redet.

Die Krankheit akzeptieren lernen

Alexandra Chuonyos Ansatz, um Angehörigen zu helfen, ist die Psychoedukation: „Angehörige müssen verstehen können, wie eine Psychose kommt. Was alles dazugehört. Umso besser können sie auch damit umgehen und mit dem kranken Menschen in Kontakt sein.“ Denn so schmerzlich es ist: Schizophrene Psychosen sind eine lebensverändernde Diagnose für Erkrankte und deren Umgebung. Aber wenn klar ist, dass das seltsame Verhalten Symptom ­einer Krankheit ist, dann können alle Beteiligten die Krankheit besser akzeptieren.

Schizophrene Psychosen gab es schon immer. Es handelt sich um ein weltweites Phänomen. „Für einen besseren Umgang ist der Weg in die Offenheit wichtig“, betont Chuonyo. Im Idealfall bekommen Angehörige direkt Beratung, wenn sie das kranke Familienmitglied in der Klinik besuchen.

Oft mangelt es aber an der nötigen Kapazität. „Es ist ein Drama, dass die Angebote von Angehörigengruppen mit Austausch und psychoedukativen Informationen noch viel zu selten sind“, klagt Psychiater Bäuml. Denn: Die Teilnahme an Angehörigengruppen führt zu einer ganz wesentlichen Entlastung. Chuonyo bestätigt: „Das Reden mit jemandem, der es wirklich versteht, ist das Hilfreichste!“

Klarheit durch Arztgespräche

Brigitte und ihr Mann hatten das Glück, Unterstützung über den sozialpsychiatrischen Dienst zu bekommen. In der Klinik , in der ihr Sohn behandelt wurde, gab es einmal im Monat Angehörigentreffen. Da konnte Brigitte dem Arzt auch Fragen stellen: „Das Wissen hat uns geholfen, mehr Verständnis für unseren Sohn und seine Erkrankung zu entwickeln.“

Doch zu Beginn seiner Symptome waren sie noch komplett ahnungslos, oft wütend und sehr verzweifelt. Als ihr Sohn Teenager war, deutete Brigitte sein Verhalten als Macho-Getue. Auch von der Schule kam Druck, erinnert sie sich noch genau: „Ein Lehrer hat ausdrücklich betont, dass da Erziehungsfehler vorliegen – also dass es an uns liegt, wie sich mein Sohn aufführt.“

In Panik wollte sich Brigittes Sohn das Leben nehmen. Er flehte seine Mutter um Hilfe an. Sie rief den Notarzt.

In Panik wollte sich Brigittes Sohn das Leben nehmen. Er flehte seine Mutter um Hilfe an. Sie rief den Notarzt.

Nachdem er Schule und Ausbildung mit Ach und Krach geschafft hatte und im Betrieb der Eltern arbeitete, beschwerten sich Kunden immer wieder über sein seltsames Verhalten. Er sei auf Rollschuhen gekommen, habe auf einer Baustelle unkontrolliert Füllmaterial verspritzt. Brigitte wusste sich nicht mehr zu helfen und setzte Thorsten (Name von der Redaktion geändert) mit 21 Jahren vor die Tür. Drei Jahre später kehrte er zurück. „Er sah so vernachlässigt aus, dünn wie ein Strich und war extrem hektisch“, erzählt Brigitte. Da nahmen sie und ihr Mann ihren Sohn wieder auf.

Thorsten war nicht mehr der Mensch, den sie gekannt hatte. Er führte merkwürdige Selbstgespräche, blieb die meiste Zeit in seinem Zimmer, verweigerte das Essen. Eines Nachts rannte er im Winter nur mit Hose bekleidet in den Garten. „Er drohte, dass er sich von einem Auto überfahren lässt, wenn ihm niemand hilft“, schildert Brigitte. Darauf habe sie den Notarzt gerufen.

Ein Platz in einer betreuten Einrichtung

Für Brigitte waren seine insgesamt drei Aufenthalte in der Psychiatrie jedes Mal ­eine riesige Erleichterung: „Ich konnte für geraume Zeit die Verantwortung abgeben und Kraft tanken.“ Gleichzeitig wusste sie, dass es sich nur um eine temporäre Lösung handelt. Mehrmals pro Woche schickte sie ihrem Sohn Briefe in die Klinik: „Er sollte wissen, dass er das Liebste ist, was wir haben. Was immer kommt, wir stehen hinter ihm.“

Dann, nach seinem letzten Klinikaufenthalt, fanden sie für Thorsten einen Platz in einer betreuten Einrichtung. Er hatte im Lauf der Jahre begriffen, dass er nicht ohne Medikamente auskommt. „Da war ich unendlich dankbar“, so Brigitte. Endlich hatte sie wieder Zuversicht.

Gemeinsame Aufarbeitung

Noch lange blieb die Angst vor neuen Schüben. Diese Angst konnte Brigitte in ­ihrer Selbsthilfegruppe loswerden. Ebenso Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Hilf­losigkeit, Selbstzweifel. „Mein Mann und ich waren schuldlos und haben uns trotzdem schuldig gefühlt.“ Dass es anderen auch so geht, war für Brigitte wie ein Befreiungsschlag. Erst war sie selbst Teilnehmerin, dann gründete sie eine eigene Selbsthilfegruppe: „Diese Gruppe tut mir so gut. Auch wenn die Geschichten heftig sind, spüre ich die Verbundenheit. Es ist eine gemeinsame Aufarbeitung.“

Brigitte ist so stolz auf Thorsten, der seit 20 Jahren ohne Rückfall und sehr selbstständig lebt. Er hat eine Familie gegründet. Adele betreut ihren Sohn noch heute. Es geht ihm mal besser, mal schlechter. Minas Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Bis zuletzt bestritt er seine Krankheit. Für ­Adele, Mina und Brigitte bleibt die Psychose ein Lebensthema. Aber sie haben Verbündete gefunden – und die geben ihnen enorme Kraft.


Quellen:

  • Katja Kühlmeyer, Josef Bäuml, Alexandra Chuonyo et al.: Psychiatrische Versorgung von Menschen mit psychotischen Erkrankungen und fehlender Krankheitseinsicht: Probleme und Lösungsansätze, Nachbericht Symposium 2022. ApK Bayern: https://www.lapk-bayern.de/... (Abgerufen am 06.03.2023)
  • Daniel Hell , Daniel Schüpbach: Schizophrenien, Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige. Springer: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 06.03.2023)
  • APK Bayern E.V.: Schizophrenie, Psychische Erkrankungen. APK Bayern E.V. - Hilfe für Angehörige in Bayern: https://www.lapk-bayern.de/... (Abgerufen am 06.03.2023)
  • dgppn: Psychische Erkrankungen, Basisdaten. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.: https://www.dgppn.de/... (Abgerufen am 06.03.2023)
  • LWL-Klinik Paderborn: Schizophrenie, Was ist eine Schizophrenie und welche Anzeichen und Beschwerden treten bei der Erkrankung auf?. LWL-Klinik Paderborn: https://www.lwl-klinik-paderborn.de/... (Abgerufen am 06.03.2023)
  • Dr. Lisa Tlach, Prof. Dr. Thomas Bock, Gwen Schulz et al.: Wie häufig sind Psychosen?. dgppn - Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: https://www.psychenet.de/... (Abgerufen am 06.03.2023)