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Im Zuge der Corona-Pandemie stieg Analysen zufolge die Zahl der Menschen mit essgestörtem Verhalten. Gerade unter jungen Menschen ist dieses weit verbreitet – daher sind es oft die Eltern, die die Essstörung als erste bemerken. Viola Windgassen berät als leitende Psychologin Betroffene von Essstörungen und ihre Angehörigen bei der Beratungsstelle Cinderella e.V. in München. Sie kennt einen wichtigen Grund für den Einfluss der Pandemie: „Den Jugendlichen ging die Tagesstruktur verloren, Freunde haben gefehlt. Eine Magersucht zum Beispiel kann Struktur und Halt geben, sowie den jungen Menschen etwas, dass sie kontrollieren können.“

Wer an einer Essstörung leidet, braucht fundierte Hilfe.

Was sind Essstörungen?

Woran man Essstörungen erkennt, welche Auslöser sie haben können, wo Betroffene Hilfe finden. zum Artikel

Ein fehlendes oder kofliktreiches soziales Umfeld ist einer von verschiedenen Faktoren, der bei Jugendlichen essgestörtes Verhalten auslösen kann. Bei jedem fünften Jungen oder Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren in Deutschland konnten Forschende Anzeichen dafür ausmachen. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Essstörung zu erkranken, liegt bei Mädchen höher als bei Jungen. Probleme mit Magersucht, oder auch Bulimie und Binge-Eating bestimmen dann den Alltag der Betroffenen – und oft auch der Angehörigen.

Das Zusammenleben leidet – was können die Eltern tun?

Alle drei Erkrankungen haben enorme Auswirkungen auf das Miteinander daheim. „Eine Essstörung kann das ganze Familienleben durcheinander bringen. Sie sitzt mit am Esstisch, bringt Streit und Anspannung“, sagt die Psychologin Viola Windgassen. An die Expertin wenden sich vor allem Eltern. Diese seien in großer Sorge. Ihre drängendste Frage: Was können sie tun und wie soll man das Problem bloß ansprechen?

Gespräch mit betroffenem Kind suchen

Im Umgang mit Essstörungen braucht es zweierlei: Einfühlungsvermögen und Konsequenz. „Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind“, rät Windgassen. Möglichst ohne Vorwurf und Wertung sollten Mütter, Väter oder andere Angehörige ihre Sorge zum Ausdruck bringen und berichten, welches Verhalten sie beobachtet haben. „Es kann sein, dass die Jugendlichen dann alles abstreiten, nicht darüber reden wollen oder aus der Situation weglaufen. Versuchen Sie es trotzdem wieder, sprechen sie das Thema an, signalisieren Sie, dass sie da sind“, ermuntert die Psychologin.

Entschieden handeln: „Wir gehen jetzt zum Arzt!“

Scheint die Situation lebensbedrohlich, weil das Kind beispielsweise zu wenig wiegt, braucht es hingegen eher Mut, zu handeln, statt zu reden. „Da müssen Eltern auch auf den Tisch hauen können und sagen: ‚Wir gehen jetzt zum Arzt.‘ In der Regel machen die Kinder das auch mit“, sagt die Therapeutin.

Offene Worte braucht es zum Beispiel auch, wenn Eltern bemerken, dass Abführmittel genutzt oder Lebensmittel gehortet werden. Gehört exzessiver Sport zum Problemverhalten, sollten Eltern nicht für die Mitgliedschaft im Sportstudio bezahlen.

Das eigene Essverhalten nicht beeinflussen lassen

Eltern müssen aufpassen, ihre eigene Ernährung nicht zu geißeln. Manche kochen Extrawünsche oder lassen sich von den Diätbestrebungen der Kinder mitreißen. „Nehmen Sie sich den Freiraum für Ihr Leben“, betont Psychologin Windgassen. Eltern sollten ihr normales Leben führen, normal kochen und essen können. „Sagen Sie Ihrem Kind ruhig: ‚Ich bin für dich da, aber ich habe mein Leben. Und ich esse, was ich möchte.‘“

Tipps für den Umgang mit Betroffenen:

Mütter, Väter und andere Angehörige können Menschen mit essgestörtem Verhalten zwar nicht heilen, aber ihnen zur Seite stehen. Sie können die betroffene Person zum Beispiel unterstützen, indem sie:

  • immer wieder das Gespräch mit ihrer Tochter oder ihrem Sohn suchen und signalisieren, dass sie als Gesprächspartner da sind
  • sich selbst über Essstörungen und Behandlungsmöglichkeiten informieren
  • versuchen ihr Kind zu einer Behandlung zu motivieren – ohne Druck zu erzeugen
  • sich nicht auf Diskussionen übers Essen einlassen und stattdessen immer wieder auch gezielt andere Themen als Ernährung oder Gewicht suchen
  • auf Kontrollverhalten und stetiges Nachfragen, ob und was schon gegessen wurde, verzichten
  • das eigene Essverhalten und Diätneigungen reflektieren
  • beim Einkaufen oder Zubereiten von Essen nicht auf Sonderwünsche eingehen und keine Lebensmittel verstecken

Wichtig: Hilfe von außen hinzuziehen

Essstörungen sind ernstzunehmende Erkrankungen, die von Medizinerinnen und Psychotherapeuten behandelt werden müssen. Beratungsstellen wie Cinderella e.V. begleiten Betroffene und Angehörige auf dem Weg dorthin. Eine Therapie ist wichtig. Die Erkrankungen können nicht nur Spuren im Denken und Verhalten hinterlassen, sondern auch körperliche Schäden nach sich ziehen. Erster Ansprechpartner kann die hausärztliche Praxis sein.

Psychotherapie gilt als das Mittel der Wahl. Diese kann in einer ambulanten Praxis oder in einer Klinik stattfinden. Viola Windgassen regt an, je nach Intensität der Erkrankung eine stationäre Therapie in einer spezialisierten Klinik in Betracht zu ziehen. Hier würde mit den Kindern und Jugendlichen unter anderem auch das Essen an sich wieder geübt.

Sie wissen nicht mehr weiter?

Wenn Sie mit der Situation zu Hause nicht mehr zurecht kommen, dann gibt es Möglichkeiten, sich professionell beraten zu lassen. Zum Beispiel über das Infotelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Wer direkt eine Beratung vor Ort aufsuchen möchte, findet hier eine Beratungsstelle in der Nähe.

„Die meisten haben keine Ahnung mehr, wie normales Essen funktioniert, wie groß Portionen sind, wie sich Hunger oder satt sein anfühlt. Andere haben regelrecht Angst vor Lebensmitteln. Ambulant kann das schwer zu beheben sein“, sagt die Beraterin. Die Therapie in einer Klinik kann für die Erkrankten auch sinnvoll sein, um etwas Abstand zum täglichen Umfeld zu gewinnen.

Auf beide Therapieoptionen müssen Betroffene und Angehörige allerdings oftmals warten. In dieser Zeit können stetige Kontrolluntersuchungen beim Hausarzt einer Verschlimmerung vorbeugen sowie Selbsthilfegruppen für Menschen mit Essstörung und Beratungsstellen unterstützen.

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Bei alldem sollte zuhause Raum dafür bleiben, dass alle Familienmitglieder eine gute Zeit miteinander verbringen können. „Ihr Kind hat eine Essstörung, es ist nicht die Essstörung. In dem Menschen mit dem Essproblem steckt ein Kind drin“, erklärt Windgassen daher den Eltern. Es könne helfen, bei gemeinsamen Unternehmungen dem Thema Essen keine große Aufmerksamkeit zu schenken, um auch mal schöne Momente zusammen zu erleben.

Lebensgefahr erkennen – und handeln

Liegt der BMI, also das Verhältnis von Gewicht und Körpergröße, sehr niedrig, droht Lebensgefahr. Im Extremfall kann eine Zwangsernährung zum Beispiel in einer psychiatrischen Klinik nötig werden. Eine solche Behandlung gegen den eigenen Willen darf nur durchgeführt werden, wenn der oder die Erkrankte sich oder andere in unmittelbare Gefahr bringt. Ein Richter muss diese zudem genehmigen.

Eltern sollten bei starkem Untergewicht, aber auch wenn die erkrankte Person körperlich stark geschwächt ist oder schwere psychische Probleme zeigt, schnellstmöglich ärztlichen Rat einholen oder das Gespräch mit einer spezialisierten Beratungsstelle suchen.

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Quellen: