Wege aus der Magersucht
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist im Februar 2022 entstanden. Heute wurde er mit Zahlen aus einer im Mai 2022 veröffentlichten Analyse von Krankenhausdaten der DAK-Gesundheit ergänzt.
Wenn Lea Gericke sich neue Kleidung kauft, dann schneidet sie die Schilder mit der Größenangabe heraus und sammelt sie in einer kleinen Schatulle. So, als ob es sich um einen wertvollen Schatz handelt. Wenn aus einer Größe XS eine XXS wird, fühlt sich das an wie ein Rausch. Noch weniger essen, noch dünner werden – das ist ihr einziges Ziel.
Lea Gericke aus Berlin ist 14 Jahre alt, als sie 2002 die Diagnose Anorexia nervosa, besser bekannt als Magersucht, bekommt.
Während andere Teenager sich zum ersten Mal verlieben, auf Partys gehen und Zeit mit Freunden verbringen, zieht sie sich immer mehr zurück. „Bis zur vierten Klasse war ich sozial gut angebunden, dann habe ich die Schule gewechselt und wollte keine neuen Freundschaften schließen. Ich war überfordert mit der Welt, mein Selbstwert war gering. Ich hasste meinen Körper“, erzählt die heute 33-Jährige.
Krankheit beginnt häufig im Jugendalter
Die Welt kann sie nicht beeinflussen, wohl aber, wie viel sie isst oder nicht isst. Die Essstörung wird zu ihrer Strategie, ihren Hass nicht zu spüren. Sie verzichtet als erstes auf ihre geliebte Minzschokolade, lässt nach und nach immer mehr Lebensmittel weg. Auch Obst hat in ihren Augen aufgrund des Fruchtzuckergehalts zu viele Kalorien. Im Alltag nutzt sie jede Gelegenheit Sport zu treiben. Die Verhaltensweisen entwickeln sich immer mehr zum Zwang.
So wie Lea Gericke geht es vielen Mädchen und jungen Frauen. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erkranken 1,4 Prozent der Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens an Magersucht. Nur 0,2 Prozent der Jungs und Männer leiden an der Essstörung. Häufig beginnt die Erkrankung im Jugendalter.
Wut und Trauer durch die Essstörung kompensiert
Aron Boks ist schon 20 Jahre alt und gerade nach Berlin gezogen, als sich die Krankheit in sein Leben schleicht. Und das durch die beiläufige Bemerkung eines Bekannten „Du hast aber ein ganz schön flachen Bauch, dafür dass du so ein speckiges Gesicht hast.“ „Ich war nie übergewichtig oder dick, habe mir aber schon gewünscht dünner zu sein“, reflektiert der heute 23-Jährige, und so nimmt er immer mehr ab. Um die Krankheit zu verschleiern, trägt er bei seinen Auftritten als Poetry-Slammer drei Pullover übereinander. Doch Freunde und Familie erkennen den Ernst der Lage und überzeugen ihn, Hilfe zu suchen. Von Januar bis Mai 2018 geht er in eine Tagesklinik. „Ich habe dort gelernt, dass ich Emotionen wie Wut und Trauer durch die Essstörung kompensiert habe.“
Magersucht ist eine lebensbedrohliche Krankheit. Betroffene haben ein mehr als fünffach höheres Risiko zu sterben, als Gleichaltrige ohne Erkrankung. Sie versterben einerseits zum Beispiel an Herz- und Nierenproblemen und Infektionen. Zum anderen ist das Suizidrisiko erhöht.
Pandemie verschärft das Problem
Die Zahl der Magersuchtpatienten steigt wohl im Kindes- und Jugendalter seit Jahren, auch wenn in Deutschland genaue Zahlen fehlen. Einschränkungen durch die Corona-Pandemie haben das Problem verschärft. Der im September 2021 veröffentlichte Report der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigte für 2020, das erste Pandemiejahr, eine Zunahme bei starkem Untergewicht sowie Magersucht und Bulimie im Vergleich zu 2019. Untersucht worden waren anonymisierte Krankenhausdaten von knapp 800 000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis 17 Jahre, die bei dieser Krankenkasse versichert sind.
Auch im zweiten Pandemiejahr, 2021, setzt sich dieser Trend weiter fort, wie eine Analyse aktueller Krankenhausdaten der DAK-Gesundheit zeigt. Demnach wurden im Vergleich zum Vorjahr 17 Prozent mehr Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren wegen einer Essstörung – zum Beispiel Magersucht – in Kliniken aufgenommen. Betroffen seien vor allem Mädchen.
Warum die Pandemie-Zeit diesen Anstieg verursacht, weiß man noch nicht genau. Dazu fehlen noch wissenschaftliche Untersuchungen. „Viele der Patientinnen haben ihre Alltagsstruktur verloren und sich nur noch mit dem Gewicht und ihrer Figur beschäftigt, sodass sie in kurzer Zeit eine Essstörung entwickelt haben“, sagt Professor Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Uniklinik Aachen. „Uns besorgt auch, dass es bei den Kindern, also der Gruppe der Unter-14-Jährigen, eine besonders deutliche Zunahme der Fälle gibt“, sagt Herpertz-Dahlmann der dpa. Die U14-Altersgruppe sei bislang relativ selten von Magersucht betroffen gewesen. Das scheint sich durch die Pandemie zu wandeln.
Warum entsteht eine Magersucht?
Warum eine Magersucht entsteht, ist bislang noch nicht genau geklärt. Neben individuellen Faktoren und gesellschaftlichen Schönheitsidealen, geraten genetische Veranlagungen und der Stoffwechsel zunehmend ins Blickfeld der Forschung. „Wenn in der Familie schon jemand eine Magersucht oder andere Essstörung hatte, liegt bei Mädchen ein fünf- bis zehnfach höheres Risiko vor, auch daran zu erkranken“, sagt Herpertz-Dahlmann. In einer Studie konnten Forscher Veränderungen an den Genen feststellen, die zum einem mit psychischen Erkrankungen, wie Zwängen, Depressionen und Angststörungen zusammenhängen, aber auch mit dem Ausmaß körperlicher Aktivität und einem veränderten Stoffwechsel.
Hoffnung auf ein leptinhaltiges Medikament
Trotz neuer Erkenntnisse gibt es bislang kein zugelassenes Medikament gegen die Essstörung. Professor Dr. Johannes Hebebrand forscht an einer neuen Therapie. Der Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des LVR Klinikum Essen/Universität Duisburg-Essen vertritt die These, dass ein größerer Teil der Symptome durch einen Mangel des Hormons Leptin entstehen.
Leptin wird in den Fettzellen des Körpers hergestellt. Setzen die Zellen Leptin frei, gelangt es über das Blut ins Gehirn und signalisiert Sättigung. „Sinkt der Leptinspiegel im Blut, wird der Körper auf ‚Sparflamme‘ gesetzt; um den Organismus in die Lage zu versetzen Nahrung zu suchen steigt der Bewegungsdrang“ erklärt der Experte.
Hebebrand konnte 2020 ein leptinhaltiges Medikament bei einer kleinen Patientengruppe testen. Schon nach drei Tagen konnte er enorme psychische Verbesserungen beobachten: Die Stimmung der Patienten hatte sich aufgehellt, sie waren plötzlich wieder an sozialen Kontakten interessiert und konnten besser schlafen, der Drang sich zu bewegen, war zurückgegangen.
Hebebrand betont, dass weitere klinische Studien folgen müssen. Im Juni 2021 hat seine Klinik einen Antrag dafür beim Bundesministerium für Bildung und Forschung gestellt. Er hoffe, dass die Studie Ende 2022 starten kann – auch um die Sicherheit des Medikaments zu prüfen.
Welche Rolle spielt der Darm?
Neben dem Stoffwechsel scheint auch die Darmflora eine Rolle zu spielen. Herpertz-Dahlmann und ihre Mitarbeiter erforschen, wie sich die Darmflora von Gesunden und Magersüchtigen unterscheidet. Stuhluntersuchungen zeigten eine veränderte Zusammensetzung der Darmbakterien. Darunter finden sich in erhöhtem Maße Bakterien, welche die Darmschleimhaut schädigen und Entzündungen fördern.
„Wir dachten, das wäre eine Auswirkung des niedrigen Gewichts. Doch auch nach Gewichtszunahme normalisierte sich der Zustand nicht“, sagt Herpertz-Dahlmann. Eine weitere Studie soll Auskunft geben, ob der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln wie Omega-3-Fettsäuren und Probiotika die Darmflora verbessern und damit die Gewichtszunahme erleichtern kann.
Die Essstörung wird bislang durch Psychotherapie behandelt. Diese kann je nach Schweregrad vollstationär, in Tageskliniken oder ambulant erfolgen.
Aron Boks lernt in der Tagesklinik wieder regelmäßig zu essen. Drei Mahlzeiten muss er dort täglich zu sich nehmen. Das hat er mit seinem Therapeuten bei der Aufnahme in der Klinik vereinbart. Die Wochen verlaufen nach einem Therapieplan, welcher zuvor mit Aron besprochen wurde: Zwei Einzeltherapiestunden, Gruppentherapien, gemeinsames Kochen stehen auf dem Programm.
Freiwillige Therapien, wie Achtsamkeit, Musik- und Kunsttherapie werden zusätzlich angeboten. „Der Klinikaufenthalt hat mir mein Leben gerettet“, sagt Boks rückblickend. Nach fünf Monaten war er zwar nicht geheilt, aber auf einem guten Weg. Er setzt die Therapie ambulant fort.
Bei Lea Gericke folgt ein Klinikaufenthalt auf den nächsten. Über zehn Jahre kämpft sie gegen ihre Essstörung an. Wenn sie in der Klinik zunimmt, hungert sie es zu Hause direkt wieder runter. „Ich habe nicht gesehen, dass ich krank bin. Ich wollte es auch über Jahre nicht sehen“, resümiert Gericke. Lea hat es satt, sich immer wieder vor Ärzten und ihrer Familie erklären zu müssen.
Mit 25 Jahren stellt sie sich dann selbst die Frage: „Wer bin ich ohne meine Essstörung?“ Durch eine Hypnosetherapie kommt sie der Antwort näher. „Ich lernte mehr gesunde Entscheidungen für mich zu treffen.“ Dazu gehört zum einen, sich einen Minijob zu suchen, zum anderen ein Hobby zu finden. Durchs Tanzen lernt sie neue Leute kennen, was nach Jahren der Isolation wohltuend für sie ist. Sie wird selbstbewusster und möchte ihre Erfahrungen mit Gleichgesinnten teilen.
Weil es für Menschen mit Magersucht noch keine Selbsthilfegruppe in Berlin gibt, gründet sie mit Hilfe von SEKIS, der Selbsthilfe Informations- und Kontaktstelle in Berlin selbst eine. Das Interesse ist so groß, dass daraus das Projekt „AnaDismissed“ entsteht. Gericke leitet heute Gruppen für Betroffene und Angehörige. „Durch die Selbsthilfe habe ich wieder Verantwortung für mein Leben übernommen“, fasst Gericke zusammen.
Anschlusstherapie in den eigenen vier Wänden
Auch wenn das Gewicht steigt, kommt es bei Magersucht immer wieder zu Rückfällen. Eine ambulante Betreuung im Anschluss an eine stationäre Therapie hat daher eine hohe Bedeutung. “Im Schnitt dauert eine stationäre Therapie in Deutschland etwa 15 Wochen. Eine Zeit, in der Kinder und Jugendliche von ihrem üblichen Umfeld getrennt sind, nicht zur Schule gehen können“, sagt Beate Herpertz-Dahlmann.
Deshalb hat Herpertz-Dahlmann zusammen mit ihrem Team 2017 eine Pilotstudie zum sogenannten „Home-Treatment“ ins Leben gerufen. „Die Jugendlichen werden nach spätestens acht Wochen aus der stationären Behandlung entlassen und über vier Monate intensiv zu Hause betreut“, erklärt Herpertz-Dahlmann.
Ein Team aus Psychologen, Ärzten, Mitarbeitern des Pflegedienstes, Ergotherapeuten und Ernährungsberatern behandeln die Patienten und Patientinnen in den ersten beiden Monaten drei- bis viermal wöchentlich zu Hause. „Auch Eltern empfinden das Projekt als enorme Entlastung. Sie bekommen Hilfe im Alltag und das wirkt sich positiv auf die gesamte Atmosphäre in der Familie aus“, sagt die Klinikdirektorin.
Um die Wirksamkeit der neuen Therapieform zu bestätigen, startete am 1. Juni 2021 eine weitere Studie, in der mehr Patientinnen und Patienten, sowie vier weitere kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken eingebunden wurden. Das Projekt „Home-Treatment“ wird durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses für vier Jahre mit insgesamt rund zwei Millionen Euro gefördert. Herpertz-Dahlmann verspricht sich, dass die neue Therapieform künftig in die Regelversorgung übernommen werden kann.
Lea Gericke hat ihren Frieden mit der Krankheit geschlossen, die vermutlich immer ein Teil ihres Lebens bleiben wird. Ihre Schatulle mit Größenschildern und Bildern aus der Zeit der akuten Krankheitsphase hat sie weggeschmissen.
Aron Boks hat seine Erfahrungen mit der Erkrankung in einem Buch niedergeschrieben. Er fühlt sich heute gut, vergleicht die Krankheit dennoch mit Unkraut: „Man muss aufpassen, dass man es gut jätet, sonst wuchert es.“