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„Glauben Sie, ich bilde mir die Schmerzen nur ein?“ Wenn in der Schmerztherapie der Einfluss der Psyche zur Sprache kommt, reagieren viele Patientinnen und Patienten erst mal mit Abwehr. Sie fühlen sich nicht ernst genommen oder denken, man würde ihnen selbst die Schuld an ihren Beschwerden zuschieben.

Auch Professor Peter Henningsen kennt solche Reaktionen aus seinem Klinikalltag. Um zu erklären, wie Schmerz und Psyche zusammenhängen, nimmt er die Betroffenen dann mit in einen Teufelskreis, den viele kennen. „Stress führt zu Anspannung“, erklärt der Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums rechts der Isar in München. Ist man angespannt, wird der Schmerz stärker. Das stresst noch mehr – was den Schmerz weiter verstärkt. „Das heißt nicht, dass der Stress Ursache der Schmerzen ist“, sagt Henningsen. Er ist nur ein Faktor, der den Teufelskreis ins Rollen bringt.

Ungute Gefühle, körperlicher Schmerz? Werden ähnlich verarbeitet

Die moderne Schmerztherapie setzt hier an. Sie versucht, den Teufelskreis nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit anderen Therapieansätzen zu durchbrechen. Expertinnen und Experten arbeiten heute dabei mit einem sogenannten biopsychosozialen Modell der Schmerzentstehung. Es berücksichtigt außer den biologischen – also körperlichen – Ursachen auch die psychischen und sozialen Einflüsse. In der Regel sind diese fast untrennbar verwoben – übrigens auch in unserem Gehirn.

„Die Netzwerke, in denen körperliche Schmerzen und unangenehme Gefühle verarbeitet werden, überlagern sich stark“, erklärt Professorin Heike Rittner, die am Uniklinikum Würzburg das Zentrum für interdisziplinäre Schmerz­medizin leitet. Das lässt sich sogar sichtbar machen. Zum Beispiel in Experimenten, in denen Testpersonen in einem Spiel plötzlich von den anderen ausgeschlossen wurden. Jeder von uns weiß: Auch das tut weh. In unserem Gehirn sind dann ähnliche Bereiche aktiv wie bei körperlichem Schmerz.

„In der Therapie lernen die Betroffenen, ihre Erkrankung zu verstehen“: Professorin Heike Rittner leitet das interdisziplinäre Schmerzzentrum am Uniklinikum Würzburg

„In der Therapie lernen die Betroffenen, ihre Erkrankung zu verstehen“: Professorin Heike Rittner leitet das interdisziplinäre Schmerzzentrum am Uniklinikum Würzburg

Psyche beeinflusst stark, ob Schmerzen chronisch werden

Doch wie viel Psyche steckt im Schmerz? Verallgemeinern lässt sich das nicht. „Die Wirkung, die sich über die Psyche erzielen lässt, entspricht aber mindestens der eines Schmerzmedikaments“, sagt Professor Thomas Tölle, Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerzmedizin am Klinikum rechts der Isar. Entscheidenden Einfluss hat die Psyche vor allem bei chronischen Schmerzen – und das bereits, bevor sie chronisch sind. Ob Kreuzschmerzen zur Dauerqual werden, entscheidet nicht so sehr der Zustand der Wirbelsäule. „Der größte Risikofaktor sind psychische und soziale Belastungen“, sagt Tölle.

An interdisziplinären Schmerzzentren besteht die Therapie stets aus verschiedenen Teilen, sogenannten Modulen. Dabei arbeiten Fachleute aus verschiedenen medizi­nischen Bereichen eng zusammen. Ein wichtiger Baustein: „Die Betroffenen lernen, die eigene Krankheit zu verstehen“, sagt Heike Rittner. So findet man bei Schmerzen in Knie, Rücken oder Hüfte oft Abnutzungen, sogenannte degenerative Erscheinungen. Bilder aus dem Kernspin zeigen diese oft eindrücklich. Dennoch kann der Betroffene unter chronischen Schmerzen leiden oder fast gar nichts spüren. Klar wird: Im Körper ist nicht etwas kaputt, das unumgänglich zu Schmerzen führt.

Die Aufmerksamkeit vom Schmerz weglenken

Die Betroffenen erfahren zudem, wie sie ihr Leiden durch körperliche Aktivität und gezielte Entspannung verringern können. Ob Yoga, Tai-Chi oder Sport in der Gruppe: „Es geht darum, dass die Betroffenen herausfinden, was ihnen ganz persönlich guttut“, sagt Rittner. Hinzu kommen Übungen, die die Aufmerksamkeit vom Schmerz weglenken oder die Betroffenen helfen, ihren Körper wieder in allen Teilen wahrzunehmen – nicht nur die Bereiche, wo der Schmerz sitzt. „Viele Schmerzpatienten können sich nicht mehr auf eine schöne Sache konzentrieren. Auch das lernen sie wieder“, sagt Thomas Tölle.

Tipps gegen Schmerzen:

  • Mehr Entspannung: Entspannungstechniken wie das autogene Training oder progressive Muskelentspannung können Schmerzen deutlich verringern.
  • Bewegt bleiben: Körperliche Aktivität ist nicht nur für Menschen mit Knie- oder Rückenschmerzen wichtig. Sie kann auch andere Arten von Schmerzen lindern.
  • Gezielt ablenken: Schmerz zieht oft alle Aufmerksamkeit auf sich. Sich abzulenken kann man lernen. Aktiv zu sein hilft: etwa ein Kinobesuch oder Gartenarbeit.
  • Apps nutzen: Medizinische Apps können gute Helfer im Alltag sein. Bei Rückenschmerzen bewährt: „Kaia“, von Schmerzexperte Thomas Tölle mitentwickelt.

Zum Team jedes Schmerzzentrums gehören auch Fachleute aus dem Bereich Psychotherapie. „Psychotherapeutisch zu arbeiten bedeutet aber nicht, dass man eine psychische Ursache des Schmerzes vermutet“, sagt Peter Henningsen.

Eine bewährte Methode ist die Verhaltenstherapie. Betroffene lernen, ihr Verhalten und ihre innere Haltung so zu verändern, dass sie mit ihren Schmerzen besser zurechtkommen. In manchen Fällen führen auch tiefe seelische Wunden dazu, dass der Körper mit Schmerz schlechter umgehen kann. „Wir wissen, dass Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit das Risiko erheblich erhöhen, dass im Alter Schmerzprobleme auftreten“, so Tölle.

Bei länger anhaltenden Schmerzen frühzeitig Hilfe holen

Die vielleicht wichtigste Botschaft, die Patientinnen und Patienten mitnehmen: Ich bin den Schmerzen nicht ausgeliefert. Ich kann etwas dagegen tun. Eine Erfahrung, die viele leider erst spät machen, wenn die Beschwerden chronisch sind – und schwerer zu behandeln.

Tölle rät Patientinnen und Patienten, sich früh zu informieren: etwa in der Hausarztpraxis, die an eine spezialisierte Praxis überweisen kann. Die Deutsche Schmerz­gesellschaft setzt auf ein neues Angebot, in dem Betroffene bereits nach sechs Wochen anhaltender Beschwerden von einem interdisziplinären Team untersucht werden. Geplant ist, dies in 24 Zentren anzubieten. „Vielen kann das chronische Schmerzen ersparen“, weiß Expertin Heike Rittner. An ihrer Klinik hat sich das Behandlungskonzept schon in Studien bewährt.

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Quellen:

  • Eisenberger N, Lieberman m, Williams K: Does rejection hurt?, An FMRI study of social exclusion . Science: https://www.science.org/... (Abgerufen am 27.06.2022)
  • Bundesärztekammer, Kassenäztliche Bundesvereinigung. AWMF: Patienten-Leitlinie Kreuzschmerz. Leitlinie: 2017. Online: https://www.awmf.org/... (Abgerufen am 27.06.2022)

  • Huber S, Priebe J, Baumann K et al.: Treatment of Low Back Pain with a Digital Multidisciplinary Pain Treatment App, Short-Term Results. JMIR Rehabil Assist Technol.: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 27.06.2022)
  • Deutsche Schmerzgesellschaft: Chronische Schmerzen frühzeitig verhindern. Online: https://www.schmerzgesellschaft.de/... (Abgerufen am 29.06.2022)