Bloß kein Druck beim Stillen!
„Wir schaffen das nie.“ Es ist mitten in der Nacht, als sich dieser Satz in meinem Kopf festsetzt. Mein Sohn ist drei Tage alt, ich liege im Krankenhausbett, ein unzufriedenes Baby an der Brust. Das Stillen ist eine Qual. Mein Sohn bekommt die Brust nicht richtig zu fassen, jedes Mal lässt er nach ein paar Sekunden los und schreit frustriert auf. Ich würde gern mitschreien.
Ich hatte gedacht, Stillen klappt irgendwie automatisch. Meine Mutter hatte immer erzählt, das sei „so wunderschön“. Ich fühle mich wie eine Versagerin. Aber ich will es schaffen. Die Hebamme wird später sagen: „Das sind die Nahkampftage.“
Inneren und äußeren Erwartungen gerecht werden
Später frage ich mich: Warum war mir in dieser Nacht gar nicht klar, dass ich nicht die Einzige war mit Schwierigkeiten? Rund 90 Prozent der Mütter möchten nach der Geburt stillen. Klar: Machen ja alle, man kennt es aus der Familie, weiß um die Vorteile und dass es gut für die Bindung ist.
Nur ist Stillen – wie so vieles am Muttersein – längst mehr als eine private Entscheidung, nämlich eine schwer zu entwirrende Mischung aus inneren und äußeren Erwartungen. Es unterliegt dem Zeitgeist, gesellschaftlichen Anforderungen, wissenschaftlichen Entdeckungen, politischen Wellenbewegungen. Stillen kann super sein – aber auch Mythos und Druckmittel zugleich. Je nachdem, wem wir Frauen in Vorbereitungskursen, auf Wöchnerinnenstationen, in Kinderarztpraxen begegnen. Je nachdem, was wir lesen und von wem wir umgeben sind, können wir uns bestärkt fühlen oder zutiefst verunsichert.
Schmerzen aus der Hölle
Und dann muss das Ganze ja auch erst einmal funktionieren. Susann (Name geändert), 41, denkt vor der Geburt ihres dritten Kindes nicht groß übers Stillen nach: „Doch plötzlich war es alles andere als easy. Ich hatte unfassbar schmerzende Brüste, auch nach dem Milcheinschuss. Hölle! Eine Hebamme, die als Vertretung vorbeikam, erwähnte, dass ein Pilz in den Milchgängen so etwas verursachen könne – nie gehört.
Also: Untersuchung bei der Gynäkologin, warten aufs Ergebnis, weiterstillen, weiter Zähne zusammenbeißen. Ein Medikament wirkte – immerhin – nach einer weiteren langen Woche. ‚Jetzt geht’s endlich richtig los‘, dachte ich. Aber dann nahm die Kleine nicht ordentlich zu. Und sobald das mit reinspielt – dass die Milch nicht reichen könnte –, fühlst du dich in deiner gesamten Identität als Mutter komplett zerlegt. Das ist echt Biologie: dieser Instinkt, dass du doch dein Baby nähren können musst. Und wenn es nicht klappt, bist du irgendwie nicht richtig.“
Wenig Unterstützung in der Klinik
Was für ein Druck. Woher kommt er nur? Wer baut ihn auf? Wie können wir Frauen uns von ihm lösen?
Eine Studie von 2019 zeigt: Es gibt viele verstreute Still-Initiativen in Deutschland – und wenig Koordination. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte wissen oft verblüffend wenig darüber, erzählen aber viel von den Vorzügen des Stillens – gesund, bequem, billig: „Entspannen Sie sich einfach.“ Bei Problemen aber verweisen sie an Stillberaterinnen. Und die sind oft hoffnungslos überlaufen.
Ähnlich erlebe ich es die ersten Tage in der Klinik: Medizinisch sind wir gut betreut – aber Stillen scheint unser Privatproblem zu sein. Als ich nach Hilfe klingle, schaut erst wesentlich später eine Schwester vorbei: sorry, Personalmangel.
Madlen Storch vom Verein „La Leche Liga Deutschland“ sagt: „In den Kliniken wird oft der Grundstein für Stillprobleme gelegt, weil niemand Zeit hat, das richtige Anlegen zu erklären.“ Oder weil je nach Schicht eine andere Schwester irgendetwas Neues mit uns versucht.
Hilflos ohne Hebamme
Katrin, 36, zwei Töchter, wurde zum Still-Fan: „Ich finde es super und vor allem praktisch, um das Baby bei Aufregung runterzuholen: Ich stille notfalls auch im Stehen, das macht mir nichts aus. Ich hätte meine erste Tochter noch viel länger stillen können, musste aber wegen Medikamenten gegen Schwangerschaftsübelkeit beim zweiten Kind leider aufhören.“
Sind Frauen wie Katrin, bei denen alles wie von selbst zu klappen scheint, diejenigen, die die Messlatte für uns andere Mütter so hoch legen? Mein Sohn und ich werden an Ostern aus der Klinik entlassen, aber die Hebamme kommt erst in vier Tagen aus dem Urlaub. Das Anlegen klappt immer noch nicht, ich google hilflos, irgendwie gehen diese Tage rum, dann noch mal der Neustart – diesmal mit Hebamme.
Stillen ist gesund für Mutter und Kind
So viel habe ich vorher übers Stillen gelesen: Muttermilch senkt beim Baby das Risiko für Atemwegsinfekte, Durchfallerkrankungen und plötzlichen Kindstod, kann sogar Übergewicht oder Asthma entgegenwirken. Und: Stillende Mütter erkranken seltener an Brustkrebs oder Endometriose, bekommen seltener Diabetes Typ 2.
Sind wir Frauen heute zwar theoretisch top informiert, aber fehlt dieses praktische Wissen, das einst in Familien von Frau zu Frau weitergegeben wurde? Plötzlich treffen wir Für-und-wider-Entscheidungen ja auch nicht mehr nur für uns allein. Im Geburtsvorbereitungskurs war Stillen fünf Minuten Thema. In der Klinik lagen Flyer von Beratungsstellen aus.
Bald nach der Geburt sinken die Stillraten
Ich spreche mit Prof. Dr. Regina Ensenauer, Expertin für Kinderernährung am Max Rubner-Institut in Karlsruhe. Eigentlich, sagt sie, sollten Frauen schon vor dem Wochenbett alles erfahren. Sie erzählt von einem Projekt namens „U0“, bei dem werdende Eltern vor der Geburt in Arztpraxen beraten werden. Nahezu alle Betriebskrankenkassen bieten es an. Andere Kassen nicht. Bestimmt ist Unsicherheit ein wesentlicher Grund dafür, dass die Stillraten in Deutschland schon wenige Wochen nach der Geburt rapide sinken. Dann muss sich nämlich alles eingespielt haben, die Hebamme sitzt längst bei einer anderen Wöchnerin am Bettrand. Meine Startschwierigkeiten dauern etwa drei Wochen an. Doch was, wenn die Probleme nicht aufhören?
Bei Nora (Name geändert), 40, schaukelt sich alles hoch: „Lag es an mir oder dem Kind? Nichts lief rund: Wegen wunder Brustwarzen habe ich zeitweise abgepumpt, dann aber hat meine Tochter nicht mehr gut an der Brust getrunken. Die Hebamme riet, viel und häufig anzulegen, um die Milchmenge zu steigern. Das hat mich total belastet, mein Körper gehörte gar nicht mehr mir. Eine Stillberaterin empfahl dann, unser Baby auch nachts alle zwei Stunden zu wecken und dazu eine Ernährungssonde zu nutzen.
Da haben wir gesagt: Stopp, das ist für alle eine Tortur. Seitdem praktiziere ich ‚Zwiemilchernährung‘: Ich stille und gebe die Flasche. Meine Tochter trinkt an der Brust, irgendwann wirft sie den Kopf zur Seite und weint – für mich das Zeichen, dass sie noch Hunger hat. Dann kriegt sie ein Fläschchen. Der Kinderarzt sagt, sie entwickelt sich gut. Und mir geht es super damit. Aber ich ernte oft Unverständnis, wenn ich davon erzähle.“
Mehr Aufklärung für Mütter
Egal, ob Mütter sich unter großem Leidensdruck oder total pragmatisch vom Stillen verabschieden, ob sie arbeiten gehen müssen oder einfach ihre Freiheit wollen: Viele berichten, dafür verurteilt zu werden – notfalls von sich selbst. Dabei gibt es Nähe und liebevolle Zuwendung auch mit der Flasche. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster sagt, fürsorgliche Eltern von Flaschenbabys müssten keine Angst vor einer schlechten Bindung haben: „Bedürfnisorientierte Begleitung geht auch mit Fläschchen wunderbar, wenn sonst die Zutaten stimmen.“
Seit 2021 gibt es eine sogenannte Nationale Stillstrategie, sie will besser aufklären, berufstätige Mütter unterstützen, Leitlinien entwickeln, Datensammlungen anlegen. Stillberaterin Storch kritisiert die Unverbindlichkeit: Die Strategie habe „weder Zeitplan noch Konsequenzen“.
Ein Report von Stillorganisationen habe schon untersucht, wie gut Regierungen das Stillen fördern: Von 98 Ländern landet Deutschland auf Platz 95. Das ist nicht mehr Mittelfeld. Es fehlten Hebammen und stillfreundliche Kliniken, so Madlen Storch. Und es fehle zugleich die nötige Akzeptanz für die Mütter, die ihre Babys auch weit über das erste Lebensjahr hinaus stillen wollen.
Kann eine „Nationale Stillstrategie“ helfen?
Was uns Müttern fehlt: Anleitung mit Muße. Stillen ist kein Selbstläufer, das habe ich am eigenen Beispiel gelernt. Aber ich kann meiner Mutter jetzt zustimmen. Ich wünsche mir und anderen Stillenden die ruhige Gewissheit, dass es keine fundamental falsche Entscheidung gibt. Es ist okay, es genau so zu gestalten, dass es allen in der Familie gut damit geht.
Quellen:
- Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: So wird Deutschland stillfreundlich!, Ergebnisse und Empfehlungen aus dem internationalen Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly. https://www.gesund-ins-leben.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- Luecke, S.: Becoming Breastfeeding Friendly , So wird Deutschland stillfreundlich. www.gesund-ins-leben.de : https://www.gesund-ins-leben.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ): Brustkrebs, Risiken und Vorbeugung. https://www.krebsinformationsdienst.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- Bundesministerium Ernährung und Landwirtschaft: Stillen - Die beste Ernährung in den ersten Lebensmonaten, Stillen bietet gesundheitliche Vorteile für Kind und Mutter.. https://www.bmel.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- Ärztezetung: Neue U0, Vorsorge beim Pädiater noch vor der Geburt als Pilotprojekt. Ärztezeitung: https://www.aerztezeitung.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- World Breatfeeding Trends Initiative : WBTi World Ranking, Where Nations Stand? . https://www.worldbreastfeedingtrends.org/... (Abgerufen am 01.12.2023)
- Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) Referat 212 : Nationale Strategie zur Stillförderung. https://www.bmel.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)