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Was sind Big Data?

Wer Diabetes hat, sammelt auch jede Menge Daten zu seiner Krankheit: Blutzuckerwerte, Aufnahmen etwa mit einem Ultraschall, Arztbriefe, Laboranalysen. Insgesamt erzeugt eine Krankheit wie Diabetes täglich Millionen von Informationen: Big Data. Sie nutzen der Forschung derzeit punktuell.

Wie hilft Künstliche Intelligenz (KI) bei der Diagnosestellung?

Zum Beispiel bei Professor Robert Wagner. Er kann auf einen Blick erkennen, ob ein Patient Typ-2-Diabetes hat. Dafür genügt eine Ganzkörperaufnahme aus dem Kernspintomograph (MRT), die Körperfett sichtbar macht. Sieht Wagner darauf ein bestimmtes Muster der Fettverteilung, ist die Diagnose klar. Diabetes mit einem MRT-Bild erkennen? „Das geht“, sagt der Leiter der Endokrinologischen Ambulanz der Universitätsklinik Tübingen – dank künstlicher Intelligenz (KI), also einem Computerprogramm, das selbstständig Aufgaben löst.

Die KI hat entdeckt, was Forscher bis dahin nicht wussten: Nicht jedes Fettdepot in der Bauchhöhle ist gleich gefährlich, es kommt auf die Lage an. Fett um die Organe im Unterbauch geht am häufigsten mit Diabetes und auch mit Prädiabetes einher, fand die KI heraus. Zuvor hatte sie 2500 MRT-Bilder von Menschen mit Diabetes und Prädiabetes miteinander verglichen und wiederkehrende Muster entdeckt.

Warum werden die Gesundheitsdaten derzeit kaum genutzt?

Unzählige Daten zu Diabetes landen täglich in den Computern von Arztpraxen und Kliniken. Auch die Patienten selbst sammeln: Allein durch die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) entstehen pro Person und Jahr mehr als 100 000 Glukosedaten. Künstliche Intelligenz ermöglicht es, die gewaltigen Informationsmengen zu analysieren und die Erkenntnisse zu nutzen, um Prävention, Diagnose, Therapie und Prognose von Menschen mit Diabetes zu verbessern. „Wir haben einen riesigen Datenschatz – wir müssen ihn nur heben“, sagt die Ärztin und Ingenieurin Professorin Sylvia Thun vom Berliner Institut für Gesundheitsforschung.

Das bloße Vorhandensein von Daten reicht nicht. Forscher müssen an sie herankommen. Bislang sind Gesundheitsdaten verstreut abgelegt, denn es gibt kein nationales Diabetes-Register, das systematisch alle erhobenen Versorgungsdaten bündelt. Informationen zusammenzuführen ist schwierig, weil jede Praxis, jede Klinik und jede Forschungseinrichtung ein eigenes IT-System nutzt. Auch sind nicht alle Informationen computerlesbar. „Noch ist der Rohstoff Daten praktisch kaum nutzbar“, bedauert Thun.

Wann kommt das nationale Diabetes-Register?

Die Medizininformatikerin soll das ändern. Seit Ende 2021 leitet sie das nationale Expertengremium für Interoperabilität im Gesundheitswesen. Dessen Ziel ist es, eine standardisierte „Weltfachsprache“ einzuführen, mit der Ärzte und Forscher künftig Werte und Diagnosen in den Computer eingeben. Danach will das ­Gremium Daten über das Smartphone standardisieren. Patienten könnten dann zur Therapiekontrolle regelmäßig Informationen an ihren Arzt schicken.

Ab 2023 sollen standardisierte Daten unterschiedlicher Herkunft in der elektronischen Patientenakte zusammengeführt werden – wobei die Versorgungsdaten von Menschen mit Diabetes in einer Unterakte, der elektronischen Diabetes-Akte, archiviert werden sollen. Stimmen Patienten einer Datenspende für medizinische Forschung zu, fließen ihre Daten künftig verschlüsselt weiter in ein angeschlossenes nationales Diabetes-Register. Dann endlich ließe sich das Potenzial von Big Data und KI voll ausschöpfen.

Möglichkeiten der digitalisierten Diabetes-Medizin

Wie Big Data heute die Vorsorge verbessert:

Professor Robert Wagner, Leiter der Endokrinologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Tübingen

„Typ-2-Diabetes entsteht oft schleichend. Anfangs ist der Blutzucker nur leicht erhöht. Damit sich aus dieser Vorstufe, dem Prädiabetes, kein Diabetes entwickelt, gilt es früh gegenzusteuern.

Bisher ließ sich bei Menschen mit so einem Prädiabetes nicht vorhersehen, ob sie die Stoffwechselstörung und schwere Folgeerkrankungen wie Nierenversagen entwickeln oder eher nicht. 2021 haben wir nachgewiesen, dass es sechs klar unterscheidbare Subtypen von Prädiabetes gibt. Dafür nutzten wir die sogenannte Cluster-Analyse: ein Verfahren, das Ähnlichkeiten in den Gesundheitsdaten von 900 Probanden aufdeckte, die seit 1996 wiederholt untersucht worden waren. Die sechs Subtypen haben ein unterschiedlich hohes Risiko für Diabetes und Folgeerkrankungen. Besonders ausgeprägt ist diese Gefahr bei Subtyp 6: übergewichtige Menschen mit viel Fett im Bauchraum und an den Nieren und oft bereits mit Nierenschäden.

Zur Vorbeugung sind diese Ergebnisse ein Durchbruch: Bestehen sie den Praxistest, könnten wir Menschen mit ungünstigem Risikoprofil künftig früh entdecken und eine Therapie anbieten.“

Wie Daten bei der Behandlung helfen:

Gabriele Bochem, Team-Coach aus Frechen, Typ-1-Diabetes

„Für mich bedeutet die Kombi aus kontinuierlichem Glukosemonitoring und automatischer Insulinpumpe nach 38 Jahren Diabetes ein riesiges Stück Freiheit und unbeschwertes Leben.

Das System besteht aus Sensor, Sender und Insulinpumpe. Der Sensor wird mitsamt Sender zum Beispiel am Arm getragen. Er misst fortlaufend den Gewebezucker und der Sender schickt die Daten an die Insulinpumpe. Darin steckt ein kleines logisches Rechensystem, das auf fallende oder steigende Zuckerwerte mit der Abgabe von mehr oder weniger Insulin reagiert. Das sorgt für stabile Blutzuckerwerte, gesündere Langzeitwerte und mindert unter anderem nächtliche Unterzuckerung.

Das Prinzip nennt man Hy­brid-Closed-Loop. ,Hybrid‘ steht für ,halbautomatisch‘, denn das System macht noch nicht alles alleine. Für Essen und Sport kann es die passende Insulindosis noch nicht berechnen. Auch der Grundbedarf an Insulin muss voreingestellt werden. Ich muss also einige Werte von Hand eingeben: etwa aufgenommene Kohlenhydrate oder den Glukose-Zielbereich, wenn ich Sport treibe.

Anfangs fand ich es schwer, dem System zu vertrauen. Nun weiß ich: Wenn ich genaue Informationen ­übermittle, kann es die Blutzuckerwerte deutlich optimieren. Wichtig ist, dass der Sensor richtig funktioniert, sonst kann die Pumpe nicht gut arbeiten. Deshalb rate ich, vor der Entscheidung für ein System den Sensor zu testen. Hätte ich einen Wunsch frei, wäre es toll, wenn das System so ausgereift wäre, dass ich endlich auch spontan sporteln könnte.“

Wie künstliche Intelligenz das Augenlicht rettet:

Professor Thomas Haak, Chefarzt des Diabetes Zentrums Mergentheim

„Jährlich erblinden in Deutschland rund 2000 Menschen infolge eines Diabetes. Das wäre in den meisten Fällen vermeidbar, würden Ärzte frühzeitig erkennen, wenn bei jemandem die Durchblutung der Netzhaut wegen zu hoher Blutzuckerwerte gestört ist. Die Realität sieht anders aus: Vielerorts kommen Augen­ärzte mit den Untersuchungen nicht mehr nach, weil die Zahl der Menschen mit Diabetes kontinuierlich steigt – und damit auch die Fallzahl diabetischer Retinopathien. Automation ist der einzige Weg, um weltweit ein regelmäßiges Retinopathie-Screening zu gewährleisten.

Am Diabetes Zentrum Mergentheim nutzen wir dafür künstliche Intelligenz und sind damit Pioniere. Die Untersuchung ist einfach: Mit einer Funduskamera schauen wir in das Auge hinein und fotografieren den Augenhintergrund. Die Kamera ist mit einer Software verbunden. Sie vergleicht das Bild des Patienten mit Hunderttausenden archivierter Aufnahmen und findet Übereinstimmungen: ob der Patient oder die Patientin gesunde Augen hat und nicht wegen Diabetes zum Augenarzt muss. Oder es gibt Alarm: Die Makula, die Stelle des schärfsten Sehens, ist geschädigt – der Patient benötigt also rasch eine Behandlung.

Die Trefferquote des KI-basierten Retinopathie-Screenings beträgt 95 Prozent. Das entspricht der eines Augenarztes. Der Zeitaufwand aber ist wesentlich geringer: Wir brauchen sieben Minuten, bis das Ergebnis vorliegt. Ein Facharzt ist dafür nicht nötig. Auf diese Weise entlasten wir Augenärzte und schaffen Ressourcen für jene Patienten, deren Augen geschädigt sind und die sonst gar nicht entdeckt worden wären.

Das KI-basierte Retinopathie-Screening gehört meiner Meinung nach in jede Diabetes-Schwerpunktpraxis. Leider erstatten es die Krankenkassen noch nicht. Daran lässt sich einmal mehr ablesen, wie sehr Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt.“

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