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Frau Bagus, Sie haben als Psychologin in der Hirnforschung gearbeitet, jetzt schreiben Sie fiktive Romane. Ist Ihnen das menschliche Hirn irgendwann zu langweilig geworden?

Nein, das Hirn ist mir nie zu langweilig geworden, aber der Drang zum Schreiben wurde größer. Ich hatte tatsächlich immer für beides eine Leidenschaft.

Gibt es denn wirklich etwas Spannenderes, als das menschliche Gehirn zu erforschen?

Das Gehirn ist schon großartig, keine Frage. Ohne unser Hirn sind wir nichts. Es ist unsere ganze Identität. Richtig bewusst geworden ist mir das während meiner Studienzeit in den USA. Am Stanford Medical Center haben wir Gehirne, die in Formaldehyd konserviert waren, in Scheiben geschnitten und untersucht. Sie glichen einem Stück Mettwurst. Das war wirklich absurd.

Das klingt in der Tat etwas absurd.

(lacht) Ich gebe zu, ich hatte anfangs große Hemmungen, meine ersten Schnitte zu machen. Aber das ganze Ich einer Person in der Hand zu halten – das war unglaublich. Und enorm spannend. Ganz real zu sehen, was sonst nur Bilder zeigen: diese Löcherchen – Läsionen genannt – in der weißen Substanz von Demenzkranken zum Beispiel. Einfach großartig!

Sie waren offenbar eine leidenschaftliche Forscherin.

Oh ja! Wobei auch die klinische Psychologie immer wichtig für mich war. Mit Menschen zu sprechen, sie zu therapieren. Was mich allerdings immer umgetrieben hat, war die negative Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft – eine Schattenseite der Medizin.

Was meinen Sie genau?

Ich habe nie verstanden: Wieso bekommt jemand, der an Krebs erkrankt ist, mehr Mitleid entgegengebracht als jemand, der eine schlimme Depression und sogar suizidale Gedanken hat? Psychische Erkrankungen haben oft ihren Grund im Hirnstoffwechsel, etwa weil bestimmte Botenstoffe in Unordnung geraten sind. Das ist gut untersucht. Trotzdem wird Menschen mit einer psychischen Erkrankung immer noch unterschwellig die Schuld an ihrem Erleben gegeben.

Wieso bewegt Sie dieses Thema so?

Weil ich diese Ungerechtigkeit auch selbst immer wieder erfahren habe. Meine Großmutter war an Depressionen erkrankt, meine Mutter ist früh an Leukämie gestorben. Und ich habe schnell den Unterschied wahrgenommen: Mit meiner Mutter waren die Menschen viel mitfühlender. Dabei hat eine psychische Erkrankung doch genauso Berechtigung, beachtet zu werden, wie ein Krebsleiden. Beides kann einen Menschen an seine absolute Grenze bringen. Dieser Gedanke beeinflusst immer wieder auch meine Bücher.

Womit wir wieder bei meiner allerersten Frage wären …

Stimmt. Sie wollten ja wissen, warum ich mit der Hirnforschung aufgehört und mit dem Schreiben angefangen habe. Die Möglichkeit, anderen etwas Gutes zu tun, habe ich eher in der Literatur verwirklicht gesehen. Weil ich mit meinen Büchern und Gedanken viel mehr Menschen erreichen kann, als wenn ich ein Gehirn nehme und es in Scheiben schneide.

Wieso bekommt jemand, der an Krebs erkrankt ist, mehr Mitleid entgegengebracht als jemand, der eine schlimme Depression und sogar suizidale Gedanken hat?

Sie wollen Ihre Leserinnen und Leser nicht bloß unterhalten?

Nein. Mein Anspruch ist, etwas mit den Lesern zu machen. Ihnen zu helfen, ihnen Hoffnung zu schenken, sie zu berühren. Sie sollen aus meinen Büchern leichter rausgehen, als sie reingegangen sind. Deshalb wird es bei mir auch nie ein Buch geben, das schlecht endet. Meine Bücher beginnen alle grausam, aber sie enden gut.

Das hört sich fast nach einem therapeutischen Ansatz an

Meine Idee ist, die Leser durch verschiedene imaginäre Leben zu führen und sie miterleben zu lassen, was es für Schicksale und Probleme gibt. Ihnen dann aber auch zu zeigen, wie sie sich lösen lassen. Dinge, die sich vielleicht im Unterbewusstsein aufgetürmt haben, abzufangen und zu vermitteln: „Schau mal, es gibt einen Weg, auch wenn du gerade nicht weißt, wo er ist.“ Ich will Menschen in ihren dunklen Stunden beistehen.

Woher kommt dieser Wunsch?

Vermutlich ist er in meiner Vergangenheit begründet. Meine Herkunft war keine Schachtel Pralinen. Ich habe eine geistig behinderte Schwester. Meine Eltern sind ständig an ihre Grenzen gekommen. Wir hatten damals kaum Geld. Meine Mutter ist früh gestorben. Und mit 17 hatte ich einen Autounfall, den ich auch nur knapp überlebt habe.

Puh …

Ja, das war die geballte Ladung, die einen gar nicht mehr das Urvertrauen haben lässt: Das Leben kann auch schön sein. Ich sage aber rückblickend, all diese Dinge, die mir da passiert sind, haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Und sie haben mich empfindsam gemacht. Vor allem für die Menschen, die gerade ihre schwärzesten Momente erleben.

In Ihrem neusten Buch „Der Klang von Licht“ geht es um den Tod. Sie lassen ihn sogar als Erzähler auftreten.

Ja, ich wollte mir den Tod zum Freund machen, weil ich schon so viele Begegnungen mit ihm hatte. Bei meinem eigenen Unfall oder als meine Mutter starb. Und vor drei Jahren, als unser sechsjähriger Sohn beinahe an Lymphdrüsenkrebs gestorben wäre. Das hat mich fast zerrissen. Ich habe gedacht, ich breche auseinander. Vielleicht hatte ich deshalb das Bedürfnis, dem Tod dieses Skelett, dieses Dunkle, dieses Kalte wegzunehmen.

Ist Ihnen das gelungen?

Ich erlebe den Tod mittlerweile nicht mehr als dunkle Sache. Ich glaube, er ist hell und leicht. Insofern habe ich mich mit ihm versöhnt. Womit ich mich aber nicht versöhnt habe, ist, dass er zu früh kommt. Er soll mir keine Kinder und auch den Mann nicht nehmen. Und ich möchte bitte auch noch ein bisschen hierbleiben.

Dann hat Ihnen Ihr neues Buch dabei geholfen, Ihre eigenen Erlebnisse zu verarbeiten?

Meine Kraft ziehe ich aus der Rückschau auf das, was mir bislang passiert ist. Das Buch ist quasi die Zusammenfassung. Wenn ich zurückblicke, ist alles stimmig gewesen, auch wenn es sich im Moment des Schreckens anders angefühlt hat. Vieles hat sich zum Guten gefügt.

Apropos Fügung: In Ihren Büchern geht es oft um das Schicksal, vorherbestimmte Begegnungen. Glauben Sie an so etwas?

Ich glaube nicht, dass alles vorherbestimmt ist und wir gar nichts mehr tun müssen. Aber ich glaube, es gibt bestimmte Wegmarker. Ich bin kein gläubiger Mensch im Sinne von Gottesglauben, aber mir hilft der Glaube ans Universum. Ich glaube, dass es eine Kraft gibt, die uns verbindet und die alles gut werden lässt.

Ein schöner Gedanke. Aber hat nicht gerade die Naturwissenschaft – aus der Sie ja auch kommen – immer für alles eine logische Erklärung?

Ich denke, es gibt viele Wissenschaftler, die an etwas Höheres glauben. Vielleicht ist das sogar logisch. Sie entdecken schließlich ständig Dinge, von denen sie vorher nicht mal etwas geahnt haben. Ich glaube jedenfalls, ein Forscher tut gut daran, auch Raum für das zu lassen, was er noch nicht weiß. Mich hat das immer glücklich gemacht.

Clara Maria Bagus’ neuestes Buch „Der Klang von Licht“ erschien im Herbst letzten Jahres im Piper Verlag.