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Sie hatten 2022 einen runden Geburtstag. Jetzt ist das erste Jahr mit der „7“ vorne vorbei. Wie hat es sich angefühlt?

Egal. Hoffentlich ist es bei der 8 auch noch so. Natürlich spüre ich, dass ich mittlerweile in manchen Dingen langsamer bin als meine Kinder. Aber ich kann noch alles tun, was mir Spaß macht, und das ist der Schlüssel, sich alterslos zu fühlen. Und meine Enkel füllen mich sehr aus. Doch die Verluste unter den Freunden werden zahlreicher, da spürt man, dass man langsam den Berg wieder hinuntergeht.

Zu Ihrem 70. Geburtstag erschien Ihre Biografie. Perfektes Timing.

Entscheidender war der Tod meiner Mutter, die 2019 mit 97 Jahren starb. Bis dahin galt der unausgesprochene Codex, dass wir die Geschichte meiner drei Geschwister nicht erzählen, um uns selbst zu schützen. So wie andere in der Corona-Pandemie ihre Schränke aufräumten, habe ich dann mein Leben aufgeräumt. Und die Kisten meines Bruders, die ich seit seinem Tod nie aufgemacht hatte, endlich geöffnet.

Sie hatten zwei Brüder und eine Schwester, die sich mit 28, 34 und 22 Jahren infolge von Depressionen das Leben nahmen.

Erst jetzt war ich so weit, dass ich dachte: Wenn ich davon erzähle, kann ich vielleicht Menschen helfen, die auch einen schweren Rucksack zu tragen haben. Und ihnen zeigen, wie man trotz eines solchen Schicksals noch lebensfroh durch die Welt gehen und das Leben genießen kann. Meist nimmt man mich als Gesunde, Starke, Fröhliche wahr und ist umso überraschter, von meiner Geschichte zu erfahren.

Welche Reaktionen bekommen Sie?

Ich höre immer wieder: „Sie haben mir wieder Lebensmut gegeben“ oder „Ich gehe so leicht aus Ihrem Buch heraus“ oder „Man kann also doch über den Schmerz hinwegkommen.“ Die Menschen haben das Gefühl: „Die May hat das geschafft, ich schaffe das auch.“ Ich lese viel in psychiatrischen Kliniken und für AGUS, einen Verein für Suizidtrauernde, und höre, dass das vielen hilft. Dass es so eine Entwicklung nimmt mit dem Buch, hätte ich nicht erwartet.

Michaela May am Set des ARD-Films „Eine Sennerin zum Verlieben“.

Michaela May am Set des ARD-Films „Eine Sennerin zum Verlieben“.

Sie erfahren sicherlich von vielen schweren Schicksalen. Ist das nicht belastend?

Es kommt bei Lesungen immer wieder vor, dass Zuhörende in Tränen ausbrechen und mir von Fällen aus ihrer Verwandtschaft und Bekanntschaft erzählen. Ich denke dann: Es ist schon mal gut, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen. Das ist schon eine erste Hilfe – und für mich eine Art Geschenk: Ich konnte jemandem einen Ausweg zeigen. Ich bin keine Psychologin, will es auch nicht sein, aber ich kann den Anstoß geben, das Tabu zu brechen und sich psychologische Hilfe zu suchen. Wer einen Menschen durch Depressionen verloren hat, traut sich nicht, darüber zu sprechen. Weil immer dahinter steht: Warum hat er nicht eingegriffen? Es bleibt immer ein Hauch von Schuld bei den Hinterbliebenen. Aber es gibt keine Schuld.

Ich möchte Menschen zeigen, wie man trotz eines schweren Schicksals noch lebensfroh durch die Welt gehen und das Leben genießen kann.

Sie schreiben, durch Dreharbeiten waren Sie damals viel unterwegs und abgelenkt. Ansonsten galt in der Familie: Wir reden nicht drüber?

Wenn ich sagte, heute hätte der oder die Geburtstag, antwortete meine Mutter nur: „Ich weiß schon. Aber gehen wir doch lieber an den See oder ins Café.“ Wir sind nicht ans Grab, haben Kerzen oder Blumen abgelegt oder in alten Fotoalben geblättert. Das haben wir zwischendurch mal gemacht. Aber nicht mit der Last: Jetzt kommt der Todestag, jetzt kommt der Geburtstag. Meine Mutter sagte, sie wollte sich „da nicht so reinstürzen“. Es ist wie ein Aufkratzen einer alten Wunde.

Verständlich. Aber ist das nicht einfach Verdrängung?

Der Schmerz wird nie verdrängt, den hat man immer tief in sich. Nur wenn man sich ständig darauf stürzt, verdrängt man die schönen Augenblicke der Gegenwart. Wenn man sich so hineinstürzt in dieses Trauern um das, was war, verpasst man das, was gerade ist. Was du erlebt hast, kannst du nicht ausradieren. Ich lege es hinten in den Schrank, ich weiß, dass es da ist, aber ich muss es nicht immer wieder hervorholen, um zu sehen, dass es mir wehtut.

Hatten Sie Angst, dass die Depression auch Sie packt oder Ihre Kinder?

Ich war mir sicher, dass ich leben möchte. Ich wusste, dass ich keinen Hang dazu habe, das Leben nicht auszuhalten. Beim letzten Suizid war ich im fünften Monat schwanger, der Schock war groß, und ich dachte, hoffentlich wirkt er sich nicht auf das Kind in meinem Bauch aus. Vielleicht hat mich der Schauspielberuf da früh rausgezogen. Mein Leben war ein Spiel. Das hat mich gerettet. Meinen älteren Bruder hat der Sog nach unten gezogen.

Ihr Bauchgefühl habe Sie sehr weit gebracht, sagen Sie. Inwieweit?

Ich habe mir den Rat anderer angehört, aber mich immer auf mich verlassen und aus meinem inneren Gefühl heraus entschieden – egal, ob es um eine Rolle ging, eine Partnerschaft oder Freundschaften. Ich wäre auch wieder in meinen erlernten Beruf als Kindergärtnerin gegangen, wenn nicht die Anfrage von Helmut Dietl für die „Münchner Geschichten“ gekommen wäre. Danach kamen noch mehr bayerische Serien, aber ich wollte nicht zur bayerischen Volksschauspielerin werden. So habe ich in meiner Karriere öfter mal einen Haken geschlagen, um nicht in einer Rolle stecken zu bleiben.

Welchen unvernünftigen Plan möchten Sie demnächst umsetzen?

Ich weiß doch gar nicht, was unvernünftig ist (lacht). Mir gefällt, dass die Enkelkinder langsam in ein Alter kommen, wo ich ihnen etwas in der Welt zeigen kann. Die Wüste hat mich schwer beeindruckt: die Stille, der Himmel, die Sterne, die enorme Einsamkeit und Weite, die einem das Ameisendasein dieser Welt so klarmacht. Dieses Wüstengefühl würde ich meinen Enkeln gerne vermitteln. Und sie aus ihrer technisierten und hochzivilisierten Welt an die kulturellen Ursprünge heranführen. Auf was kommt es an im Leben, und wie
wenig brauche ich eigentlich?