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Wenn Kevin Schultes von „Beratung auf Augenhöhe“ spricht, ist das in seinem Fall wörtlich zu nehmen. Seit einem Sturz von ­einer Leiter vor 28 Jahren sitzt der Vorsitzende der Förderge­meinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland (FGQ) im Rollstuhl. Kommt er als Peer-Berater (sprich: „Pier“) zu Menschen, die erst seit Kurzem eine Lähmung haben, redet er nicht von oben herab.

Das Wesentliche ist für den 55-Jährigen jedoch die Haltung. „Wir beraten aus der ­eigenen Betroffenheit heraus – und das ist immer etwas anderes als eine medi­zinische, therapeutische oder juristische Beratung durch eine Fachperson“, sagt Schultes. Das eine sei nicht besser als das andere. Er versteht Peer-Beratung – also die Beratung von Neu-Betroffenen durch erfahrene Betrof­fene – als ergänzendes Angebot.

Peer-Beratung: Oft eine Gratwanderung

„Die haben gut reden“ – solche Sätze hört Kevin Schultes immer wieder bei diesen Gesprächen. Erst neulich: Der behandelnde Arzt habe gerade den Raum verlassen, der junge Mann, der kürzlich verunglückt und noch nicht mobilisiert gewesen sei, fühlte sich spürbar alleingelassen von der Welt. Schultes weiß: Schwierig ist für Betroffene besonders die erste Zeit zu Hause, weil sie auf dramatische ­Weise erfahren, wie ihr Leben sich verändert. In der Klinik und der Reha war alles barrierefrei, jetzt fällt jeder Handgriff schwer. Und überhaupt: Wie geht das mit dem Einkaufen, welcher Hausarzt hat eine Rampe, welches Sanitätshaus kann man empfehlen?

Die meisten der 160 Peers der FGQ sind erfahrene Rollstuhlnutzerinnen und -nutzer, die Regel sind fünf bis sechs Kontakte zu den Neu-Betroffenen, die meisten nach dem Klinikaufenthalt. Man trifft sich, gibt Tipps, trinkt vielleicht einfach mal nur einen Kaffee zusammen. Der, der durchlebt, durchlitten und bewältigt hat, ist da – das ist die Hauptsache.

Schultes weiß, dass die Peer-Beratung oft eine Gratwanderung ist: Man möchte Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigen, aber ohne Druck zu machen. „Meine Lebenszufriedenheit ist kein Selbstläufer, vieles war ein Prozess“, erzählt der Unternehmensberater. Er möchte Betroffenen aber immerhin eine Idee geben, wo die Reise hingehen kann: zu einem weitgehend normalen Leben, mit Ehefrau, Erfolg im Beruf und Freunden.

Mit eigenen Erfahrungen helfen

„Wer mit besonderen Lebenslagen konfrontiert war oder ist oder mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung lebt, verfügt über ein ganz spezifisches ­Erfahrungswissen“, erklärt Marie-Luise Dierks, Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz. Auch wenn „Erfahrungen und Lebenssituationen natürlich nie genau gleich sind, sondern nur ähnlich“.

Marie-Luise Dierks leitet an der Medizi­nischen Hochschule Hannover den Forschungsschwerpunkt Gesundheits­bil­dung. Mit ihrem Team bietet sie bundesweit für Menschen mit chronischen Erkrankungen das Selbst­managementprogramm „Insea aktiv“ an. Das Kürzel steht für „Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben“. Das Programm wurde vor mehr als 20 Jahren in den USA entwickelt.

Über sechs Wochen kommen die Teilnehmenden einmal wöchentlich zusammen – die Moderation der Treffen übernehmen Menschen, die selbst erkrankt sind. Themen sind beispielsweise Stressmanagement, Umgang mit Medikamenten oder gesunde Ernährung. Als Richtschnur dient ein wissenschaftlich erprobtes Handbuch. Auch wurden die Moderatorinnen und Moderatoren speziell auf ihre Aufgabe vorbereitet – das soll einer Beliebigkeit in der Weitergabe des Wissens vorbeugen. Aber das scheint nur ein Grund zu sein, weshalb die Kurse aus Sicht von Dierks erfolgreich sind.

Peer-to-Peer-Beratung ist vielversprechend

„Die Teilnehmenden sehen, dass andere chronisch kranke Menschen gelernt haben, so einen Kurs selbst zu leiten“, beschreibt die Forscherin die Funktion der Moderierenden – sie seien ein Rollenmodell. Oft käme im Laufe der Zeit der Wunsch auf, ebenfalls in diese Richtung aktiv zu werden. „Neue Kursleitungen rekrutieren wir stets aus dem laufenden Geschehen“, sagt Dierks. Sie hat bei den bundesweit bislang über 2000 Teilnehmenden deut­liche Verbesserungen ermittelt: Sie tun sich leichter mit dem Selbstmanagement der Erkrankung. Und sie haben eine stärkere Selbstwirksamkeit, wie es in der Sprache der Wissenschaft heißt: Sie trauen sich mehr zu.

Ein Mentoring-Projekt für junge Erwachsene mit Krebs des Universitätsklinikums Leipzig kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Auch dieses Programm, „Peer2Me“ genannt, arbeitet mit der geschulten Selbsthilfe, auch hier verbesserte sich die Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden in einer Pilotstudie messbar. „Die Gruppe war mit 19 Teilnehmenden klein“, so Projekt­leiterin Dr. Diana Richter, „die Ergeb­nisse aber sind vielversprechend.“ Die Forscherin will den Ansatz nun weiter untersuchen.

Ihre Wurzeln hat die Peer-to-Peer-Beratung in den USA, wo Peers unter anderem in Veteranenverbänden, bei den Anonymen Alkoholikern und in der Behindertenarbeit Im­pulse setzten. In den 1980er-Jahren kam die Idee nach Deutschland und eta­blierte sich zunächst in der Beratung von Menschen mit Behinderungen. Auch hier berichtet die Forschung von Erfolgen: In ­einer deutschen Studie von 2017 mit mehr als 900 Teilnehmenden gaben rund 90 Prozent an, sich nach der Beratung durch ­einen Peer besser zu fühlen – oft hätten die Ratsuchenden den Impuls mitgenommen, etwas an ihrem Leben zu ändern. 55 Prozent meinten, ihre Frage könne nur ein Peer beantworten.

Peer-Beratung ist breit gefächert

Im Gesundheitswesen reicht die Bandbreite der Peer-Beratung heute vom Typ „guter Bewältiger“, der an Unikliniken gezielt von Ärztinnen und Ärzten angesprochen wird und zu Patienten kommt, über Betroffenenverbände, die ehrenamtlich tä­tige Peer-Beraterinnen und Peer-Berater aus ihren Selbsthilfegruppen rekrutieren, bis hin zum professionellen „Peer-Counceling“.

Vorreiter sind auch hier Menschen mit Behinderungen. So bildet die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. regelmäßig zertifizierte Peers aus, die im ­Zuge der sogenannten ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung in Beratungsstellen oder auf Ämtern zum Einsatz kommen. Voraussetzung: Die Beratenden müssen sich selbst als Mensch mit Behinderung sehen – und eine positive Haltung zu ihren Einschränkungen haben. Diese Beratung soll für Betroffene der erste Schritt sein, bevor sie Leistungen beantragen – sie soll sie nicht zuletzt darin bestärken, ihre Rechte auch wahrzunehmen.

Kevin Schultes stellt fest, dass in den letzten Jahren die Peer-to-Peer-Unterstüzung zunehmend strukturierter wurde. Für ihn umfasst eine gute Peer-Arbeit zweierlei: die Idee der Spontaneität, ein zwangloser Kontakt unter gleich oder ähnlich Betroffenen – und Andockpunkte an professionelles Wissen inklusive der Möglichkeit, kritisch nachzufragen. Ein Mittelweg zwischen zu viel Nähe und zu viel Distanz, so Kevin Schultes: Es geht darum, die eigene Betroffenheit mit Professiona­lität in Einklang zu bringen.

Peer-Konzept wird wissenschaftlich untersucht

Nicht zuletzt wegen seines sprachlichen und kulturellen Hintergrunds – Schultes’ Mutter ist Engländerin – hat sich der Unternehmensberater aus Bietigheim-Bissingen über die Jahre international vernetzt. Inspiriert von europäischen Verbänden hat er ein sogenanntes erweitertes Peer-Konzept entwickelt, das bei der FGQ seit 2016 zum Einsatz kommt.

Seit vergangenem Jahr wird der Ansatz in Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg wissenschaftlich untersucht. Interessierte Menschen mit Querschnittlähmung können sich nun an vier Wochenenden zu Peer-Berater oder Peer-­Beraterin qualifizieren lassen. Wesentliche Bausteine sind dabei unter anderem: Kommunikationsstrategien und Fragen der Bewältigung. Auch wichtig: die jährlichen Netzwerktreffen, bei denen die Peers von ihren Erfahrungen gegenseitig lernen. „Wer auf Augenhöhe beraten will, muss bereit sein zur Selbstref­lexion“, betont Kevin Schultes.

Wie Peers und Betroffene „andocken“ können

Für den Peer-Experten gilt: Vorbild kann nur sein, wer das eigene Schicksal gut bewältigt hat. Über ein Auswahlverfahren, „fast wie ein Bewerbungsgespräch“, soll das sichergestellt werden. Bestimmte Merk­male sollen aufzeigen, wie stabil jemand ist. Eine gute Vernetzung und wenn jemand sozial eingebettet ist, sind schon mal ein ­gutes Zeichen. Tatsächlich gab es bereits Fälle, in denen jemand abgelehnt wurde. Auch noch nach einer bereits begonnenen Ausbildung.

Peers und Rat suchende Betroffene müssen zusammenpassen – auch dieser Punkt kann neben Empathie und einer gewissen Sachkenntnis über den Erfolg der Beratung entscheiden. Das betrifft zum Beispiel den kulturellen Hintergrund. Kranke oder behinderte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte könnten besser erreicht werden, wenn man sich bei der Peer-Beratung in der Heimat­sprache unterhalten kann, lässt die Forschung zum Thema vermuten.

Kevin Schultes spricht vom „guten An­docken“. Und davon, dass ein Peer immer nur so gut sei wie seine Lebenserfahrung. Von Frau zu Frau, von Sportler zu Sportler – bei der FGQ versucht man stets, den idealen Ansprechpartner und die ideale Ansprechpartnerin zu finden. Auch darauf, dass Peer und Neu-Betroffene eine ähnliche Höhe der Lähmung haben, wird geachtet.

Übrigens wird bei der FGQ wie auch bei anderen Betroffenen-Verbänden noch eine weitere Gruppe zusammengebracht: die Angehörigen. Deren Lebenssituation ist häufig ebenfalls vergleichbar – und durch ihre Brille sieht das Geschehen oft noch mal ganz anders aus als durch die der Betroffenen.

Erfahrungsberichte von Betroffenen und ihren Peers

Jutta und Dirk

Oft höre ich einfach nur zu
Jutta Görlich und Dirk Rohde

Jutta Görlich und Dirk Rohde

„Wenn ich zu Patienten mit Tumoren im Mund- und Rachenbereich komme, holt mich manches gedanklich und emotional zurück zu dem, was ich vor acht Jahren durchgemacht habe. Damals wurde mir ein bösartiger Tumor am Zungengrund entfernt. Das Kauen und Schlucken ist unvorstellbar schmerzhaft, oft bleibt monatelang der Geschmack weg.

‚Wenn Sie die Kartoffel essen, schmeckt das so, als würden Sie auf Pappe beißen‘, habe ich neulich zu einem Patienten gesagt. Bei mir war das genauso, aber inzwischen ist es wieder anders, das lässt die Patienten hoffen. Es wird vorbeigehen – viele scheinen das durch meine Anwesenheit erstmals zu be­greifen. Manchmal weine ich mit den Pa­tien­ten, oft höre ich einfach nur zu, vieles ergibt sich durch die Fragen: Wie ich mit den Schmerzen umgegangen bin etwa.

Aber das Wichtigste ist gar nicht mal so sehr, was ich über ­Worte transportiere, denke ich. ­Manchmal komme ich bewusst mit meinem Motorrad. Die Leute dürfen, sollen sehen, dass es mir gut geht. Einige der Patienten, mit denen ich in Kontakt war, haben nicht überlebt. Vielen geht es heute aber wieder gut. Ich bin überzeugt, dass wir es ein Stück weit selbst in der Hand haben, ob wir uns immerzu nur das Schlimmste ausmalen oder daneben auch anderen Bildern Raum geben. Das motiviert mich. Auch wenn es nicht ­immer leicht ist.“

Wenn ein Peer sagt, du schaffst das, ist das was anderes

„Am Tag, an dem das Ergebnis der Gewebeprobe kam, hat mir die Psychoonkologin der Klinik eine Visitenkarte zugesteckt. Der Mann sei selbst von Zungenkrebs betroffen gewesen, so wie ich jetzt, meinte sie. Er sei sehr offen. Ich solle schauen, ob das das Richtige für mich sei. Ich schrieb eine Mail, keine zwei Stunden später war Dirk Rohde da. Die beiden Peer-to-Peer-Gespräche in der Klinik und die Treffen danach waren das ­Beste, was mir passieren konnte.

Wenn ich in Panik bin, werde ich sehr ruhig – auch als ich erfuhr, dass mir eine achtstündige OP bevorstand, war das so. Andere haben meine Ruhe wohl als Stärke interpretiert. Vielleicht wollten sie sich auch selbst entlasten, als sie sagten ‚Du schaffst das‘. ­‚Wovon redet ihr?‘, fragt man sich. So wie bereits im ein oder anderen Arztgespräch. Letztlich bleibt vieles Theorie, wenn es nicht durchlebt wurde.

Ja, Dirk Rohde war offen. Aber ich durfte entscheiden, wie weit er gehen sollte. Ob ich wissen wolle, wie das nach dem Eingriff aussehe, fragte er. Einerseits war der Anblick der halben Zunge erschreckend. Aber gleichzeitig hat mir die Konfrontation Mut gemacht. Mein Gegenüber stand schließlich fest im Leben und vermittelte Stärke. Auch während der Chemotherapie hat mich ‚mein Peer‘, in voller Montur als Motorradpolizist, besucht. Mit jedem Besuch sind meine Ängste weniger geworden, obwohl er nichts beschönigt hat. Wenn ein Peer sagt, du schaffst das, ist das was anderes. Du sollst recht behalten, habe ich mir vorgenommen. Das ist jetzt vier Jahre her und mir geht es gut.“

Melanie und Sylvia

Dass wir beide Mütter sind, war ein Türöffner
Melanie Wittke und Sylvia Wehde

Melanie Wittke und Sylvia Wehde

„Bei unserem telefonischen Erstkontakt war Melanie gerade aus dem Krankenhaus zurück. Ich habe alles drangegeben, mich so rasch wie möglich mit der jungen Frau zu treffen, der nun wegen einer Krebserkrankung der Unterschenkel fehlte. In der Regel dauert es einige Wochen, bis die Stumpfheilung so weit vorangeschritten ist, dass eine Interims­prothese angefertigt werden kann. Erst dann geht es in die Reha. In der Zeit davor hängen viele Patienten in der Luft. Einmal mit ­unzäh­ligen Fragen zur Alltagsbewältigung, aber natürlich auch seelisch.

Menschen gehen ganz unterschiedlich mit einer Amputa­tion um. Ab ist ab, sagen die einen und schauen nach vorn. Andere können kaum reden oder fragen immerzu: Warum ich? Melanie wollte ganz viel wissen. Wie kriege ich mein Leben hin? Werde ich wieder arbeiten können? Was ist mit Urlaub? Bin ich für ­meinen ­Partner jetzt noch attraktiv? Ein Groß­teil der Über­legungen von Melanie betrafen ihren damals 13-jährigen Sohn. Ich selbst war kurz vor meiner ersten OP, einer Amputation des Vorfußes, Mutter geworden. Dass wir beide Mütter sind, war ein Türöffner. Wenn man auf einer Wellenlänge ist, werden die Gespräche schnell intensiv, vieles wird dann zum Selbstläufer. Bis heute beeindruckt mich, was für eine Schnellstarterin Melanie beim Bewältigen ihres Schicksals wurde. Als es Sommer wurde, kam sie in kurzen Röcken.“

Das Schlimmste war das Gefühl, ganz allein mit diesem Schicksal zu sein

„Als Sylvia zu mir nach Hause kam, wusste ich lediglich, dass sie diese Selbsthilfegruppe leitet. Ich hatte keine Ahnung, dass sie selbst amputiert ist. Im Gespräch merkte sie das eher so nebenbei an – und ich versuchte mich zu erinnern: Wie war sie ins Wohnzimmer gelaufen? Ganz normal, das war das Erste, was Mut machte. Das Zweite: Sie war gleich zweifach amputiert und trotzdem ein lebensfroher Mensch. Und sie war Mutter, genau wie ich.

Weil die OP bei mir geplant gewesen und gut verlaufen war, war ich nur acht Tage im Krankenhaus. Eine Physiotherapeutin hatte mit mir zwar den Einsatz der Gehstützen geübt, mir erschien das Programm in der Klinik aber eher rudimentär. Niemand bereitet einen wirklich auf das vor, was einen erwartet. Das Schlimmste war dieses Gefühl, ganz allein mit diesem Schicksal zu sein. Aber schon mit Sylvias Besuch gab sich das. Und erst recht, als ich vier Wochen später zum ­ersten Mal in die Gruppe kam. Man gab einander Tipps, plante gemeinsame Unternehmungen. Bogenschießen, Spargelessen, Bootstouren. Die geballte Lebensfreude! Inzwischen bin ich selbst Peer-Beraterin. Ich hoffe, ich kann etwas von dem weitergeben, was damals bei mir angekommen ist.“

Ulrike und Martina

Ich möchte Halt geben
Ulrike Behring und Martina Ulmer

Ulrike Behring und Martina Ulmer

„Psychische Störungen stoßen in der Gesellschaft auch heute noch eher auf Vorurteile als körperliche Erkrankungen. Damit zu leben ist oft nicht einfach – ich habe selbst viele Jahre Erfahrung mit psy­chischen Krisen. Als ich vor zehn Jahren anfing, als Peer-Beraterin und Genesungsbegleiterin in der Psychiatrie zu arbeiten, war das ein Wendepunkt.

Die Weiterbildung, EX-IN genannt, dauerte über ein Jahr, wir trafen uns jedes zweite Wochenende. Vor allem die Auf­arbeitung der eigenen Genesungsgeschichte ist herausfordernd. Oft traten mir Dinge wieder ins Bewusstsein, die ich lieber der Vergangenheit beigegeben hätte. Aber für die Wertschätzung, die man erfährt, und den gesellschaft­lichen Stellenwert, den Menschen mit psychischen Störungen so bekommen, lohnt es sich. Ich bin jetzt jeden Mittwoch in der Klinik, um Betroffene zu beraten und zu begleiten. Ich arbeite ehrenamtlich, teile mir mit anderen ein Büro. Mit Ulrike Behring habe ich Methoden erarbeitet, mehr das Positive im Leben wahrzunehmen. Dazu haben wir gemeinsam Karteikarten mit positiven Botschaften angelegt. Diese Karten gehören heute in Frau Behrings Leben zu einem Netz an Unterstützungen. So wie der Besuch von kul­turellen Veranstaltungen oder der regelmäßige Kontakt zu Freunden.

Vieles ergibt sich nicht von selbst, man muss dranbleiben, be­stimmte Verhaltensweisen üben. Nur so werden sie zu verläss­lichen Ankern in Krisen. Als Frau Behring zum ersten Mal zu mir in die Peer-Beratung kam, war ihre Haltung gebeugt, die Stimme gedämpft. Jetzt geht sie aufrecht und spricht sehr klar. Es tut gut, wenn ich im Gegenüber Veränderungen wahrnehme, die mir ­bekannt sind. Mit meiner Arbeit möchte ich dazu beitragen, das Leid meines Gegenübers zu ­verringern, Hoffnung und Halt zu geben. Die Peer-Beratung ersetzt keine Therapie, sie kann aber the­rapeutischen Wert haben.“

Zaghaft öffnete sich eine andere Perspektive

„Nach jahrelangem Mobbing im Job bin ich zusammengebrochen. Ärzte diagnostizierten eine schwere Depression und eine Angststörung. Eine Zeit lang ging es mir so schlecht, dass ich nicht mehr leben wollte. Vor allem der zweite Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hat mich aus heutiger Sicht zurück­geholt. Es gab viele intensive Gespräche und Behandlungen wie Ergotherapie und Massagen, bei denen ich mich seit Langem endlich wieder gespürt habe. Ich wollte nicht sterben, ich hatte nur vergessen, wie schön das Leben war – bei meiner Entlassung aus der Klinik vor sechs Jahren konnte ich das so sehen. Allerdings blieb diese Überzeugung zunächst Theorie, das ließ mich ein Stück weit schwimmen.

Mit der Peer-Beratung änderte sich das. Während des ersten Termins bei Frau Ulmer habe ich nur gejammert. Aber ich weiß auch noch, wie sich ganz zaghaft eine andere Per­spektive öffnete. Die Person mir gegenüber hatte Ähnliches durchgemacht und es ging ihr ganz offensichtlich gut. Martina Ulmer spricht manchmal von einer Kerngesundheit. Etwas, was auch durch Krankheit nicht zerstörbar sei. Ich drehe beispielsweise negative Gedanken. Aus ‚Ich habe dicke Beine‘ haben Frau Ulmer und ich ‚Diese Beine tragen durchs Leben‘ gemacht. Meine Depression ist ­heute nicht weg, aber viel weniger stark. Die Peer-Beratung ist eine wunderbare Ergänzung der psychiatrischen Behandlung.“


Quellen:

  • Medizinische Hochschule Hannover: INSEA Aktiv, Leben mit chronischer Krankheit. Online: https://www.insea-aktiv.de/... (Abgerufen am 31.05.2023)
  • Universitätsklinikum Leipzig: Peer2Me – Peer Mentoring für junge Erwachsene mit Krebs. Online: https://www.uniklinikum-leipzig.de/... (Abgerufen am 31.05.2023)
  • Braukmann J, Heimer A, Jordan M et al.: Evaluation von Peer Counseling im Rheinland, Endbericht. Online: https://www.lvr.de/... (Abgerufen am 30.05.2023)
  • Schu, M, Martin M, Czycholl D. Zugänge finden, Türen öffnen: transkulturelle Suchthilfe. Praktische Erfahrungen aus dem Modellprogramm transVer. Lengerich 2013: Pabst Science Publishers