Diagnose Hirntod: „Es hilft zu begreifen, dass jemand tot ist“
Dr. Thomas Weig ist seit März 2023 Transplantationsbeauftragter am Uniklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Interview erklärt der Intensivmediziner, warum er Angehörigen oft anbietet, bei der Diagnose des Hirntods dabei zu sein und warum viele überrascht sind, dass auch ein alter Mensch als Organspender in Frage kommen kann.
Herr Dr. Weig, um den Hirntod ranken sich viele Mythen. Zum Beispiel man sei womöglich noch nicht tot.
Thomas Weig: Irreversibler Hirnfunktionsausfall heißt es korrekterweise. Wir nutzen jetzt aber den Ausdruck Hirntod, da der griffiger ist. Es gibt die Ängste, dass man vielleicht gar nicht tot ist und die Organe entnommen werden. Ich kann nachvollziehen, dass dies ein Grund sein kann, für sich oder andere keine Entscheidung zur Organspende treffen zu wollen.
Der Mensch sieht ja nach dem Hirntod noch lebendig aus.
Weig: So ist es. Sein Herz schlägt. Die Haut ist warm. Die Nieren produzieren Urin. Der Brustkorb hebt und senkt sich, weil eine Maschine die Beatmung übernimmt. Doch diese Lebenszeichen bestehen nur, weil wir die Funktionen künstlich aufrechterhalten. Die Hirnfunktionen sind unwiederbringlich erloschen. Ich biete den Angehörigen immer an, bei der Hirntod-Diagnostik dabei zu sein. Das hilft vielen zu begreifen, dass ihre Liebste oder ihr Liebster tot ist.
Wie oft erleiden Menschen den Hirntod?
Weig: Der Hirntod ist ein seltenes Ereignis. Nur bei etwa einem Prozent der Menschen, die im Krankenhaus versterben, fällt das Gehirn aus, bevor der Herzstillstand eintritt. In Deutschland sind das also ungefähr 4500 Menschen pro Jahr. Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Menschen ihren Willen dokumentieren: damit mehr Organspenden realisiert werden, die möglich wären.
Welche Untersuchungen führen Sie durch, um den Hirntod festzustellen?
Weig: Für Laien sind die zum Teil erschreckend. Wir fassen ins offene Auge, wir stechen in die Nasenscheidewand, wir langen tief in den Rachen. Wir überprüfen, ob die Person spontan atmet, wenn wir die künstliche Beatmung unterbrechen. Wir messen in der Regel zusätzlich noch die Hirnströme – auch um den Angehörigen zu zeigen, dass diese erloschen sind. In Deutschland laufen alle Hirntod-Untersuchungen immer nach dem strengen Protokoll ab, das die Bundesärztekammer vorgibt. Die Diagnose des Hirntods ist also absolut sicher hierzulande.
Aber was stellt sicher, dass Therapien nicht vorzeitig beendet werden, um den Hirntod schneller herbeizuführen?
Weig: Grundsätzlich handeln wir Ärztinnen und Ärzte immer im Sinne des Lebens des Menschen, der uns anvertraut ist. Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, zu dem wir davon ausgehen können: Dieser Zustand ist nicht mehr mit dem Leben vereinbar. Dafür gibt es viele Anzeichen. Wenn etwa das Gehirn extrem stark angeschwollen ist oder sich schon auflöst. Erst wenn wir nahezu sicher sein können, dass jemand tot ist, leiten wir die Untersuchungen für den Hirntod ein.
Und erst wenn der Hirntod festgestellt ist, teilen Sie das den Angehörigen mit und sprechen mit ihnen über eine Organspende?
Weig: Früher war das in der Regel so. Mit dem Patientenrechtegesetz hat sich das geändert. Es verpflichtet uns, die Angehörigen früher über den kritischen Zustand ihres Familienmitglieds zu informieren. Ist der Hirntod wahrscheinlich, liegt es nahe, auch darüber zu sprechen, ob eine Organspende grundsätzlich infrage käme. Hat sich die sterbende Person dagegen ausgesprochen, werden wir die künstliche Atmung unter Umständen sogar früher beenden als bei jemandem, der die Organspende verfügt hat. Potenzielle Organspender werden also tendenziell eher etwas länger intensivmedizinisch behandelt.
Diese Information könnte manch einen auch dazu bewegen, die Organspende abzulehnen: um nicht unnötig lange zu leiden.
Weig: Mit dem Hirntod steht fest, dass ein Mensch nicht mehr leidet – die Hirnfunktion ist ja unwiederbringlich ausgefallen. Und schon bevor die Diagnose steht, ist das Gehirn in der Regel zu stark geschädigt, um noch etwas wahrzunehmen. Hinzu kommt zudem: Medizinische Maßnahmen werden allenfalls um wenige Tage verlängert, um Organspenden durchzuführen.
Und wenn Angehörige gemäß dem Willen des Patienten oder der Patientin einer Organspende zustimmen, beim längeren Warten auf den Hirntod aber wünschen, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden?
Weig: Das Sterben kann sich über einige Tage hinziehen. Es kommt vor, dass die Angehörigen irgendwann die Kraft verlieren. Das kann Anlass sein, einen Menschen sterben zu lassen: ohne eine Diagnostik des Hirntods und ohne Organspende. Ich würde die Angehörigen allerdings so schonend wie möglich fragen, warum sie sich gegen den Willen ihres Familienmitglieds stellen.
Heftig, angesichts der schlimmen Situation.
Weig: Es ist meine Pflicht, diese Frage zu stellen. Auch der Sterbende hat prinzipiell das Recht, dass sein Wille vollzogen wird. Übrigens belastet es die Hinterbliebenen am meisten, wenn sie nicht wissen, was ihr Angehöriger wollte. Deswegen halte ich es für extrem wichtig, in der Familie seinen Wunsch zu äußern, egal ob für oder gegen die Organspende. Es ist unfair, die Hinterbliebenen im Ernstfall raten zu lassen, was man wohl gewollt hätte.
Wie oft erleben Sie eine solche Ratlosigkeit?
Weig: Ich habe viele solcher Gespräche geführt. In den meisten Fällen gab es keinen erklärten Willen. Besonders häufig erlebe ich das bei alten Patienten. Die Angehörigen reagieren oft überrascht, wenn ich sie zur Organspende befrage: Sie denken, dass der Verstorbene dafür zu alt ist. Dabei zählt allein der Zustand der Organe. Der älteste Spender in Deutschland war 98.
Quellen:
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Hintergrundinformationen. https://www.organspende-info.de/... (Abgerufen am 04.03.2024)
- Walter U: Hirntodkriterium und Organspende: aktuelle neurowissenschaftliche Perspektive. In: Bundesgesundheitsblatt: 12.11.2020, https://doi.org/...