Ist mein Kind depressiv? Über Ursachen, Symptome, Therapie
Fröhlich und unbeschwert – so stellen wir uns eine ideale Kindheit vor. Doch nicht bei jedem verläuft sie so. Auch Kinder können bereits unter Depressionen leiden. Das betrifft zwar nur weniger als zwei Prozent der Kindergartenkinder[1]. Allerdings werden Depressionen in dieser Altersgruppe oft nicht so leicht als solche wahrgenommen, berichtete die Stiftung Kindergesundheit im März in einer Stellungnahme. „Depressionen bei Kindern und Jugendlichen sind tatsächlich schwer zu erkennen“, sagt Professor Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München.
Kinder könnten aus verschiedenen Gründen vorübergehend traurig sein, zum Beispiel wenn das Haustier stirbt oder der beste Freund wegzieht. Eltern könnten diese normalen Verhaltensweisen oft nicht gut von einer echten Depression abgrenzen.
Bei Jugendlichen ist das ähnlich: „Auch ernste Symptome einer Depression wie Freudlosigkeit oder Niedergeschlagenheit werden bei Kindern im Teenageralter häufig als eine Phase fehlinterpretiert, die zur Pubertät gehört“, sagt Kinder- und Jugendpsychiaterin Priv.-Doz. Dr. Katharina Bühren, ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Stiftung Kindergesundheit. Während der Pubertät weisen etwa acht Prozent der Jugendlichen Anzeichen einer Depression auf[2].
In den letzten Jahrzehnten nahmen psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen stetig zu – und die Coronapandemie ließ die Zahlen nochmals in die Höhe schnellen: Bereits vor der Pandemie war fast jedes fünfte Kind und Jugendliche in Deutschland von psychischen Auffälligkeiten betroffen[3]. Im Jahr 2019 benötigten 4,13 Prozent der Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe, im Jahr 2009 waren es nur 2,03 Prozent, das macht einen Anstieg von 104 Prozent[4]. „Im Verlauf der Pandemiejahre hat sich dann ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit weiter verschlechtert: Depressive und psychosomatische Symptome, Ängste und auch Essstörungen kommen zurzeit insbesondere bei Mädchen wesentlich häufiger vor als vor Corona“, so Bühren.
Symptome einer Depression bei Kindern
Bei depressiven Kindern und Jugendlichen können die Krankheitszeichen je nach Alter des Kindes unterschiedlich sein. Symptome, die auf eine Depression hinweisen können[5]:
Kleinkinder (1 bis 3 Jahre):
- wirken traurig, Gesicht ist ausdrucksarm
- können reizbarer sein, aber auch teilnahmslos
- haben wenig Lust zu spielen
- zeigen ein selbststimulierendes Verhalten wie Schaukeln des Körpers oder übermäßiges Daumenlutschen
- schlafen und/oder essen schlecht
Kindergartenkinder (3 bis 6 Jahre):
- wirken traurig, haben eine verminderte Gestik und Mimik
- sind leicht irritierbar, können sich nicht mehr freuen, ihre Stimmung schwankt
- sind in sich gekehrt oder verhalten sich aggressiv
- haben wenig Interesse an Bewegung
- essen und/oder schlafen schlecht
Schulkinder (7 bis 13 Jahre):
- sagen, dass sie traurig sind
- sind leicht reizbar, lustlos und unkonzentriert
- zeigen schlechtere Leistungen in der Schule
- fürchten, dass die Eltern sie zu wenig beachten
- zweifeln an sich und äußern eventuell Selbstmordgedanken
Jugendliche (14 bis 18 Jahre):
- sind schlecht gestimmt, lustlos, ziehen sich zurück und grübeln
- haben weniger Selbstvertrauen
- sind ängstlich, unkonzentriert, gleichgültig
- die Leistungen in der Schule fallen ab
- haben psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen
- äußern eventuell Suizidgedanken
Klar ist: Bei belastenden Ereignissen wie einem Todesfall in der Familie, der Scheidung der Eltern oder Mobbing in der Schule können vorübergehend depressive Symptome auftreten. „Diese sind aber abzugrenzen von einer Depression“, erklärt Schulte-Körne. Hier seien die Symptome schwerer, dauerten länger an und beschränkten sich nicht nur auf Traurigkeit.
Stellen Eltern bei ihrem Kind mögliche Symptome fest, sollten sie zunächst mit dem Kind sprechen und sehen, ob sie die Situation verbessern können, rät Schulte Körne. „Ist der Grund zum Beispiel Mobbing, klappt das manchmal – aber auch nicht immer.“ Dann können sich Eltern an eine oder einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater/-in, eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche oder auch an lokale Beratungsstellen mit psychosozialem Dienst wenden. „Liegt eine körperliche Symptomatik vor, sollten sie auf jeden Fall zuerst die Kinderärztin oder den Kinderarzt aufsuchen“, so Schulte-Körne.
Diagnosestellung
Psychiater und Psychiaterinnen für Kinder und Jugendliche sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche stellen die Diagnose Depression, wenn[6]
- die Traurigkeit über mindestens zwei Wochen die meiste Zeit des Tages anhält.
- zusätzlich negative Gefühle vorhanden sind, die etwa den Selbstwert betreffen. Die Kinder oder Jugendlichen sagen dann zum Beispiel „Ich bin nichts wert“, „Niemand hat mich lieb“ oder „Ich wünschte, ich wäre tot“.
- zusätzlich Tätigkeiten, die früher Spaß gemacht haben, nicht mehr gemacht werden.
Dazu befragt der Therapeut oder die Therapeutin bei der sogenannten Anamnese zunächst Eltern und Kind über die Familie, die frühe Kindheit, die Schule und das Umfeld. Außerdem muss die Therapeutin oder der Therapeut sicherstellen, dass keine organischen Ursachen für die Symptome vorliegen. Er oder sie wird bei Bedarf deshalb an entsprechende Fachärzte und -ärztinnen überweisen.
Therapiestelle finden
Bei einer Psychotherapie ist es wichtig, dass das Kind oder der Jugendliche mitmacht und sich öffnet. Leidet er oder sie unter einer Depression, fällt ihr oder ihm das aber oft nicht leicht. „Hierfür ist die sogenannte Probatorik wichtig: Das sind bei gesetzlich Versicherten bis zu drei Kennenlerntermine“, sagt Schulte-Körne.
Bei privat Versicherten sei es unterschiedlich, hier könnten bis zu fünf Termine zum Kennenlernen bewilligt werden. Eltern, Kind oder Jugendlicher können während der Kennenlertermine entscheiden: Kann ich mir vorstellen, dort regelmäßig hinzugehen und mich der Person zu öffnen? „Die Eltern sollten dabei unterstützen und eine positive Haltung zur Therapie haben“, sagt Schulte-Körne.
Vielen Betroffenen steht leider nicht sofort ein Behandlungsplatz zur Verfügung – häufig gibt es lange Wartezeiten. „Das kann sich negativ auf die Verfassung des Kindes oder Jugendlichen auswirken“, sagt Schulte-Körne. Dann verstärke sich oft das Gefühl, nichts wert zu sein – und äußert sich in Aussagen wie „Keiner kann mir helfen“. Für den Übergang empfiehlt Schulte-Körne Eltern deshalb, niederschwellige Angebote wie Krisentelefone oder Internetangebote wie ich ich-bin-alles.de zu nutzen, um sich zu informieren. „Es ist wichtig, dass das Kind die Eltern nicht hilflos erlebt“, erklärt er.
Therapie
Kinder und Jugendpsychiater oder -psychiaterin oder Therapeut oder Therapeutin entscheiden anhand der Komplexität der Erkrankung, wie sie therapeutisch vorgehen. „Wenn das Kind noch in die Schule geht und Kontakt zu Freunden hat, wird meist zunächst ambulant behandelt“, erklärt Schulte-Körne. Bei einer schweren Erkrankung mit lebensmüden Gedanken sei dagegen eher ein Klinikaufenthalt angezeigt. „Wenn der oder die Jugendliche und der Therapeut oder die Therapeutin das Gefühl haben, die Möglichkeit eines Suizids nicht ausschließen zu können, wird er oder sie in eine Klinik überwiesen.“
Am Anfang der Therapie klärt der Therapeut oder die Therapeutin über die Krankheit auf und erläutert, was man dagegen tun kann. „Wichtig ist, dass die Eltern gleich mit einbezogen werden, damit in der Familie eine Kommunikation über die Depression angestoßen wird“, sagt Schulte-Körne. Außerdem erfolgt meist eine Einzeltherapie in der nachgeforscht wird, welches die am stärksten belastenden Punkte sind. Der Therapeut oder die Therapeutin ermittelt zusammen mit dem Kind oder Jugendlichen, was sich an der Situation ändern muss.
„Die ärztliche Leitlinie empfiehlt hier die Verhaltenstherapie“, sagt Schulte-Körne, der aktuell die Überarbeitung der Leitlinie koordiniert. Bei Depressionen ist ein Verlauf in Phasen typisch. Betroffene befinden sich oft in einer Gedankenschleife, aus der sie nicht mehr herauskommen. Und es gilt, mögliche Auslöser depressiver Phasen zu meiden. In beiden Fällen werden entsprechende Strategien gebraucht – das kann die Verhaltenstherapie am besten leisten.
Eine Alternative ist die tiefenpsychologisch fundierte Therapie. „Aber hier ist die Wirksamkeit etwas geringer“, sagt Schulte-Körne. Eine Gruppentherapie könne auch sehr wirksam sein. „Sie unterstützt die soziale Interaktion, die bei einer Depression oft problematisch ist“, sagt Schulte-Körne. Die Gruppentherapie könne zusätzlich zu einer Einzeltherapie, aber auch als alleinige Therapieform erfolgen.
Bei Bedarf – vor allem bei schwereren Verläufen – werden zusätzlich Medikamente eingesetzt. „Aber gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, auch aus eigener Kraft eine Verbesserung zu erreichen“, sagt Schulte-Körne. „Die Psychotherapie ist also unersetzlich.“ Der Therapeut oder die Therapeutin verfolgt die Medikation engmaschig und beobachtet Wirkung und Nebenwirkungen genau. „Oft ist es nicht so einfach, das richtige Medikament und die richtige Dosis zu finden“, sagt Schulte-Körne. Dann muss das Medikament gewechselt oder die Dosierung angepasst werden.
In den meisten Fällen verschwindet die Depression auch nach einer Behandlung nicht vollständig. „Selten geht eine Depression auch ganz weg, aber ein Restrisiko bleibt“, erklärt Schulte-Körne. „Das muss man immer im Blick behalten.“ In der Psychotherapie ist es daher wichtig, ein Ziel festzulegen: Was will ich erreichen – und was kann ich erreichen? Tritt eine depressive Phase zum Beispiel häufig in Prüfungszeiten auf, gilt es, Strategien zu entwickeln, um dies beim nächsten Mal zu verhindern.
Ursachen und Prävention
Menschen mit Depressionen haben meist eine gewisse genetische Veranlagung für die Erkrankung. „Aber alleine die Gene reichen nicht aus, um eine Depression auszulösen“, sagt Schulte-Körne. Hinzu kommen belastende Faktoren wie frühe Traumatisierungen durch Gewalt oder Missbrauch, aber auch Mobbing oder Schul- und Leistungsstress. Ist die Belastung zu hoch, kann eine Depression entstehen.
Vorbeugen können Eltern, indem sie stets einen guten Kontakt zum Kind pflegen. „In der Pubertät gehört Abgrenzung zwar zur Entwicklung“, sagt Schulte-Körne. Eltern sollten aber immer gesprächsbereit sein und Rituale pflegen wie beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten oder Aktivitäten. Sind Eltern selbst an einer Depression erkrankt, hilft es, mit den Kindern über die Krankheit zu sprechen. „Viele betroffene Familien haben eine wahnsinnige Angst vor der Erkrankung und sprechen wenig darüber“, sagt Schulte-Körne. „Dabei senkt das Sprechen über die Krankheit das Risiko, dass die Kinder auch daran erkranken und lässt es nicht – wie viele glauben – ansteigen.“
Außerdem sei es wichtig, rechtzeitig Hilfe zu suchen. „Häufig warten betroffene Familien viel zu lange“, sagt Schulte-Körne. Durchschnittlich dauere es zwei Jahre bis zur Therapie – und das liege nicht nur an der schlechten Versorgungslage.
Quellen:
- [1] Stiftung Deutsche Depressionshilfe: Depression im Kindes- und Jugendalter. Online: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/... (Abgerufen am 15.05.2023)
- [2] Lutz Wartberg et al.: Depressive Symptoms in Adolescents, Prevalence and Associated Psychosocial Features in a Representative Sample. Deutsches Ärzteblatt Int.: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 15.05.2023)
- [3] Claus Barkmann, Michael Schulte-Markwort: Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis . J Epidemiol Community Health : https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 15.05.2023)
- [4] BARMER: Immer mehr Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. MedEcon Ruhr: https://medecon.ruhr/... (Abgerufen am 17.05.2023)
-
[5]
Schulte-Körne G., Greimel E., Hrsg. Depression im Kindes- und Jugendalter – Rechtzeitig erkennen, wirksam behandeln und vorbeugen, Stuttgart: Kohlhammer 2023
-
[6]
Remschmidt H., Schmidt M.H., Poustka F.: Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10. Göttingen: Hogrefe 2017