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Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS. Das haben doch nur Kinder. Und dann vor allem Jungs. Oder? Falsch! ADHS ist ein gutes Beispiel für eine Erkrankung, bei der ganze Gruppen von Betroffenen übersehen oder vertröstet werden können.

Genau das erlebte auch Johanna Gehrmann. „Sicher, dass du das hast? Übertreibst du nicht?“ Das waren typische Rückfragen, die sie bekam, als sie in ihrem Bekanntenkreis von ihrer frischen Diagnose erzählte. Nach ­einem langen Leidensweg, wohlgemerkt.

Dabei merkte Gehrmann schon relativ früh, dass etwas mit ihr anders war. Sie erinnert sich gut an ihre Schulzeit, in der sie oft Vermerke wie „stört sich und andere“ oder „schlechte Mappenführung“ im Zeugnis stehen hatte. „Ich habe mich häufig gefragt: Warum kriegen die anderen dieses oder jenes hin, können Hobbys nachgehen – und ich gar nicht?!“

Nicole Rebitzki hat ebenfalls ADHS und teilt diese Erfahrung: „Hausaufgaben waren zu Hause immer ein Krampf. Mit Heulen und Zähneklappern. Ich war total abgelenkt, saß ewig davor. Und konnte einfach nicht lernen, war immerzu abgelenkt.“

So läuft die Diagnose von ADHS bei Erwachsenen

Der Blick in die Kindheit und Schulzeit ist ein wichtiger Punkt in der ADHS-Diagnostik bei Erwachsenen: Gab es hier bereits Anhaltspunkte für eine ADHS? „Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es sehr fraglich, ob sich dahinter wirklich eine ADHS verbirgt“, erklärt Dr. Felix Betzler. Er leitet an der Charité Universitätsmedizin Berlin die ADHS-Sprechstunde.

Das Schwierige ist, dass sich die Störung bei Kindern anders zeigen kann als bei Erwachsenen. Frauen wiederum können andere Verhaltensweisen haben als Männer. Die Symptome sind so vielfältig wie die Menschen, die von ADHS betroffen sind. Daher spricht man inzwischen auch eher von einem „Spektrum“, in welchem sich ADHS ausprägt.

Drei Eigenschaften sind aber meist bei allen vertreten: Die Aufmerksamkeit ist gestört, die Betroffenen sind hyperaktiv und oft impulsiv. Allerdings mit unterschiedlich starker Ausprägung in den verschiedenen Gruppen.

Bei Kindern überwiegt zum Beispiel die motorische Unruhe, die Hyperaktivität. Sie müssen sich vor allem bewegen. Bei Erwachsenen sind die Symptome hierfür nicht so auffällig.

Ich bin immer überall angeeckt.

So unterscheidet sich ADHS bei Kindern und Erwachsenen

Lange war gar nicht bekannt, dass es ADHS bei Erwachsenen überhaupt gibt. Man weiß inzwischen: Im Erwachsenenalter überwiegt eher die innere als die äußere Unruhe. Während bei Kindern hyperaktives Verhalten schnell auffällt, weil es als störend wahrgenommen wird, sieht das bei Erwachsenen anders aus.

Hyperaktivität bedeutet hier: „Betroffene müssen sich stark kontrollieren, damit sie nicht häufig mit den Beinen wackeln, mit den Fingern spielen, irgendwas in der Hand haben müssen“, berichtet Felix Betzler. „Sie vergessen sehr viel, das Zuhören und das Planen von Aktivitäten fällt schwer. Häufig werden Dinge verlegt und die Alltagsbewältigung leidet darunter.“

Nicole Rebitzki bekam ihre Diagnose fast zufällig in der Reha-Klinik: „Ich bin immer überall angeeckt, habe immer viel diskutiert und Dinge aufgezeigt, die mir unlogisch vorkamen“

Nicole Rebitzki bekam ihre Diagnose fast zufällig in der Reha-Klinik: „Ich bin immer überall angeeckt, habe immer viel diskutiert und Dinge aufgezeigt, die mir unlogisch vorkamen“

Im Netz existieren unzählige Listen mit verschiedensten Eigenschaften, die alle Anzeichen für ADHS bei Erwachsenen sein können. Gesellschaftliche Vorurteile und Rollenklischees machen es zusätzlich schwer, gerade bei Frauen ADHS richtig zu erkennen. Statt Hyperaktivität überwiegt bei ihnen eher die Ausprägung Unaufmerksamkeit. Letztere fällt viel weniger auf als starke motorische Unruhe und wird schnell als „Tagträumerei“ abgetan.

Wie sich ADHS bei Mädchen und Jungen unterscheidet

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern lässt sich schon im Kindesalter beobachten. „Das sind die schüchternen Mädels, die nicht aufpassen können und von denen der Lehrer gar nicht weiß: War die eigentlich heute da oder nicht? Weil man sie übersieht.“ So erklärt es Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz aus Aschaffenburg. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und hat sich auf die ­Behandlung von ADHS spezialisiert.

Schnell werden Anzeichen, die eigentlich auf eine ADHS bei Frauen hinweisen, deshalb übersehen oder fehlgedeutet. Dass diese Problematik auch schon bei der Diagnose von Kindern eine Rolle spielt, zeigen die Zahlen: Auf drei Jungen mit ADHS kommt nur ein Mädchen.

Im Erwachsenenalter nähert es sich eher einem Eins-zu-eins-Verhältnis, wobei die Frauen noch leicht hinter den Männern liegen. Dabei „verwächst“ sich ADHS nicht, zwei Drittel der Betroffenen, die als Kind bereits Symptome hatten, haben diese auch noch im Erwachsenenalter.

Ich habe es einfach nicht hinbekommen, zu lernen und mich zu organisieren.

Wann sich ADHS bei Erwachsenen zeigt

Wurde die ADHS im Kindesalter nicht erkannt, haben die Betroffenen meist Strategien entwickelt, damit irgendwie klarzukommen. Das klappt aber nur eine begrenzte Zeit. „Wenn man eine vorliegende ADHS nicht im Schulalter diagnostiziert bekommen hat, wird sie vor allem dann besonders sichtbar, wenn es anspruchsvoller wird“, erklärt Felix Betzler. „Zum Beispiel wenn die Betroffenen auf eigenen Füßen stehen müssen, anfangen, ins Berufsleben zu gehen oder ins Studium.“

Das kann Johanna Gehrmann bestätigen: „Durch das Studium habe ich mich richtig durchgequält. Die Seminare, Klausuren, die großen Hörsäle mit den ganzen Menschen“, erzählt die Patientin. „Du hast 90 Minuten Zeit, zuzuhören, aber nicht darüber hinaus. Das war der reinste Horror, gerade wenn es um die Klausurenphasen ging. Ich habe es einfach nicht hinbekommen, zu lernen und mich zu organisieren.“

Warum die Diagnose von ADHS so schwierig sein kann

Die große Vielfalt an ADHS-Ausprägungen in verschiedenen Lebensaltern und die unterschiedliche Interpretation der Symptome bei den Geschlechtern machen die korrekte Diagnose so schwer. Viele betroffene Frauen erhalten zunächst die Diagnose Depression oder Angststörung – beides Begleiterkrankungen, die bei einer ADHS ebenfalls vorliegen können.

Aber sie sind eben nicht das Hauptproblem. „Ich fühlte mich nie depressiv, meine Werte sprachen dagegen, ich fühlte mich auch viel zu optimistisch dafür. Trotzdem stand eine Depression im Raum“, erzählt Nicole Rebitzki.

Welche weiteren Störungen im Zusammenhang mit ADHS gibt es?

Expertin Astrid Neuy-Lobkowicz erklärt, wie es zu den weiteren Störungen kommt: „Wenn man darüber nachdenkt, mit welchen Einschränkungen oder Beeinträchtigungen ADHS-Betroffene unterwegs sind, dann wirkt sich das auch auf das Selbstvertrauen und auf die soziale Interaktion aus. So kann sich eine soziale Phobie entwickeln. Panikstörungen sind ebenfalls sehr plausibel aus meiner Sicht, weil man eben immer wieder die Erfahrung macht: ‚Ich kriege das alles nicht hin.‘ Das führt dann häufig zu diesem Überforderungserleben.“

Was tun beim Verdacht auf ADHS?

Aber was macht man nun genau, wenn der Verdacht aufkommt: ADHS – habe ich das vielleicht? Johanna Gehrmann machte sich auf eigene Faust auf die Suche nach einer Praxis, die eine Diagnostik für Erwachsene anbietet. Das war mühsam.

„Ich habe bestimmt 27 Praxen abtelefoniert. Bei ganz vielen kam die Antwort: Nee, das machen wir hier nicht.“ So etwas kann gerade für Menschen mit ADHS eine besondere Hürde darstellen, denn man muss dranbleiben und auch noch Geduld haben.

Auf einen Termin müssen Hilfesuchende dann auch noch mehrere Monate warten, teils bis zu über einem Jahr. Hier zeigt sich der große Mangel an Therapieplätzen. So war es auch bei Johanna Gehrmann: „Dabei hatte ich damals Glück, ich musste ungefähr vier Monate warten. Inzwischen dauert das viel länger.“

Die Hartnäckigkeit lohnt sich aber, denn die richtige Diagnose und Therapie haben Auswirkungen auf das Leben: Ohne sie können sich Betroffene meist nicht ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln und bleiben aufgrund der ADHS-Probleme hinter ihren Möglichkeiten.

Das beschreibt auch Nicole Rebitzki: „Eigentlich hat sich nach der Diagnose alles verändert. Vor allen Dingen war es für mich eine Erleichterung. Zu wissen: Ich bin nicht doof, ich bin nicht blöd! Ich kann es, und ich bin auch nicht faul. Es ist ADHS. Das erklärt es. Jetzt kann ich damit arbeiten.“


Quellen:

  • Attoe DE, Climie EA: Miss. Diagnosis, A Systematic Review of ADHD in Adult Women. In: J Atten Disord 30.05.2023, 27: 645-657
  • Quinn PO, Madhoo M: A review of attention-deficit/hyperactivity disorder in women and girls, uncovering this hidden diagnosis. In: CNS Disord 13.10.2014, 16: 1-1
  • ADHS Deutschland e.V.: ADHS Deutschland e.V., Selbsthilfe für Menschen mit ADHS. Online: https://www.adhs-deutschland.de/... (Abgerufen am 06.02.2024)
  • Neuy-Lobkowicz A: Geschlechtsunterschiede bei ADHS im Erwachsenenalter. In: neuro aktuell 01.03.2023, 3: 20-24
  • Weyh A: Erwachsene mit ADHS müssen warten, Schnellere Behandlung bei Begleiterkrankung möglich. Online: https://www.hna.de/... (Abgerufen am 06.02.2024)
  • Universitätsklinikum Köln: Wichtige Zahlen und Fakten, Häufigkeit. Online: https://www.adhs.info/... (Abgerufen am 06.02.2024)