„Wer laut trötet, schnäuzt mit zu viel Druck“
Geht es Ihnen gut? Sie sehen etwas zerknittert aus.
Keine Sorge, ich fühle mich frisch – und bin es auch. Ich habe den Sommer über unbenutzt in der Gesäßtasche einer Jeans zugebracht und hatte bereits Angst, vor dem Waschen vergessen zu werden, wie es leider vielen meiner Kollegen passiert. Und das, ohne meine Aufgabe erfüllt zu haben.
Das dürfte sich bald ändern. Die Erkältungszeit steht bevor. Wie geht es ihnen damit?
Ich fühle mich gewappnet und sehe meiner Pflicht als wichtiger Mitarbeiter im Gesundheitssystem freudig entgegen. Stellen Sie sich eine Welt ohne uns vor! Damals waren die Menschen gezwungen, verschnäuzte Stofffetzen mit sich herumzuschleppen. Und selbst diese konnten sich anfangs nur reiche Adlige leisten. Die meisten Menschen verrichteten die Notdurft ihrer Nase direkt in die Finger – was die Schnupfenerreger freute. Untersuchungen zufolge steckt man sich über Händeschütteln sogar leichter an als durch Küssen.
Allerdings hatte das Stofftaschentuch doch auch seine großen Momente. Etwa als kunstvoll besticktes Liebespfand edler Damen. In Shakespeares Othello bringt es die Tragödie erst in Gang
Ach, jetzt werden Sie mal nicht sentimental. Hätte Desdemona ein Papiertaschentuch verloren, man hätte es schlicht entsorgt und sie wäre nicht Opfer falscher Verdächtigungen geworden. Die meisten meiner Vorfahren waren unnütze eitle Gecken, die ihr Leben faul in einer Brusttasche zubrachten. Und wenn der Besitzer eine Erkältung hatte, wurde aus dem schönsten Spitzentuch eine glibbrige Rotzfahne. Das änderte sich erst mit der Geburt von mir, dem Papiertaschentuch.
Darf ich so direkt sein und Sie nach Ihrem Alter fragen?
Mein ältester Vorfahre lebte vor mehr als hundert Jahren. Sein Vater war Gottlob Krum, ein Papierhersteller aus Göppingen. Er tränkte ein sehr dünnes Papier mit Glycerin, um es weich und nasenfreundlich zu machen, und ließ es im Jahr 1894 patentieren. Bis zu unserem Siegeszug sollte es aber noch einige Jahrzehnte dauern. 1929 wurde in Berlin das erste Papiertaschentuch aus reinem Zellstoff geboren. Sein Name: Tempo. Vor allem für Frauen eine große Erleichterung.
Für Frauen? Papiertaschentücher sind doch für jeden da.
Hier sieht man, dass Sie noch sehr jung sind. Früher war es vor allem die Aufgabe der Frauen, die Berge an Stofftaschentüchern per Hand zu waschen, wenn jemand in der Familie Schnupfen hatte. Und das passiert Erwachsenen im Schnitt zwei bis fünf Mal pro Jahr. Besser wurde es mit der Waschmaschine, die sich in Deutschland aber erst in den 1970er verbreitete. Die schmutzigen Tücher anfassen, mussten die Frauen aber trotzdem noch.
In Sachen Hygiene erfüllen Sie unschätzbare Aufgaben. „Don’t carry a cold in your pocket“, „Tragen Sie keine Erkältung in ihrer Tasche herum“, war ein Werbespruch, der Ihnen in den 1930ern zum Erfolg verhalf.
Sie sind besser informiert, als ich dachte. Dass man sich an einem benutzten Taschentuch erneut mit seinem eigenen Schnupfen anstecken kann, ist zwar ein Mythos. Für andere ist der feuchte Lappen aber durchaus ansteckend. Beim Schnäuzen gelangen zudem Bakterien ins Taschentuch, auch wenn hinter einem Schnupfen in 90 Prozent der Fälle Viren stecken. In der feuchten Wärme vermehren sich die Bakterien prima. Beim nächsten Schnäuzen reibt man sie sich dann wieder unter die Nase.
Passiert das nicht auch in einem Taschentuch aus Papier?
Nicht, wenn man sich schnell von uns trennt. Deswegen heißen wir ja auch Wegwerftaschentücher. Bei einer Erkältung haben wir auch nichts dagegen nach dem Schnäuzen in einer kleinen Plastiktüte zu landen statt in der Hosentasche. Schließlich sind wir von Geburt aus gesellig.
Haben Sie als Experte einen Schnäuz-Tipp für unsere Leserinnen und Leser?
Ich rate dazu, immer ein Nasenloch zuzuhalten, wenn man seine Nase erleichtern will. Wer laut trötet, schnäuzt mit zu viel Druck. Die Absonderungen des Riechorgans landen nicht nur im Taschentuch, sondern oft auch in die Nasennebenhöhlen. Das kann Entzündungen fördern. Schnäuzen Sie daher sachte. Das schont nicht nur uns Taschentücher, sondern auch die Nerven der Zuhörenden. Im Anschluss heißt es natürlich: Hände waschen!
Sie sagten, dass Sie aus Zellstoff bestehen. Dafür müssen Bäume gefällt werden. Bei weltweit etwa 20 Milliarden verkauften Papiertaschentüchern pro Jahr sind das ganze Wälder.
Wenn Sie mich genauer betrachten, bin ich nicht so strahlend weiß wie viele meiner Kollegen. Ich gehe mit der Zeit und bestehe daher zu 100 Prozent aus recyceltem Papier, trage sogar den Blauen Engel. Ich würde jedem raten, beim Kauf unbedingt darauf zu achten.
Dennoch landen Sie oft schon nach einem „Hatschi!“ im Müll. Oder nicht selten sogar direkt in der Natur.
Hier sprechen Sie eine ärgerliche Tatsache an. Auch wenn ich aus Bäumen gemacht bin, heißt das nicht, dass man mich einfach in den Wald werfen darf. Wir Papiertaschentücher sind recht langlebig und brauchen einige Monate, bis wir uns aufgelöst haben. Laut der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald kann es im ungünstigsten Fall sogar Jahre dauern. Ich gehöre übrigens auch nicht in die Toilette. Im Gegensatz zu meinen tapferen Kollegen, die dort als Papierrollen ihre Pflicht im Dienst der Hygiene verrichten, löse ich mich beim Kontakt mit Wasser nicht schnell auf. Das kann zu Verstopfungen führen. Auch gehöre ich weder in dem Kompost noch ins Altpapier, sondern in den Restmüll.
Ökologisch gesehen haben ihre Kollegen aus Stoff trotzdem die Nase vorn.
Nur dann, wenn sie aus biologischer Baumwolle oder biologischem Leinen gewebt sind und dazu schonend gewaschen werden, mit umweltfreundlichem Waschmittel und nicht zu heiß. Wirft man ein Stofftaschentuch nach ein paar Mal Waschen in den Müll, sind wir immer noch die bessere Alternative.
Herzlichen Dank, ich habe viel gelernt. Ich will Sie nicht weiter aufhalten. Sie werden ja sicher bald gebraucht.
Kommen Sie gut durch den Winter. Und wenn Ihre Nase doch mal läuft, sehen wir uns ja vielleicht wieder.