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Fragen an Dr. Michael Depner, Psychiater und Psychotherapeut aus Wuppertal:

Auch für einen Psychiater dürfte die aktuelle Situation Neuland bedeuten. Ist Einsamkeit derzeit ein großes Thema in Ihrer Praxis?

Natürlich ist es das. Und ich will da gar nichts beschönigen: Die Suchen nach therapeutischen Maßnahmen ist es auch. Denn vieles, was ich einem Patienten bislang an die Hand geben konnte, würde jetzt ja zynisch klingen. Kochkurse, Yoga, gemeinsames Häkeln – was sozialpsychiatrische Dienste bis eben im Angebot hatten, ist weggefallen. Die Möglichkeit, in die Aktivität zu gehen, ist weggefallen.

Was möchtest du für ein Freund sein, habe ich Patienten manchmal gefragt, wenn sie über mangelnde Sozialkontakte klagten. Mir ging es um einen Perspektivwechsel und darum, die Betroffenen weg von einer verbreiteten Anspruchshaltung zu bringen. Nach dem Motto: Freundschaft ist eine Art Gemischtwarenladen, in dem man sich munter bedienen kann. Fange bei dir an, werde selbst aktiv – jetzt allerdings klingt sowas schlicht grotesk. 

Kontakte sind aber doch durchaus auch virtuell möglich.

Das ist richtig, vergessen wir aber nicht: Kommunikation ist ein weites Feld. Wo manche Junge sich über Whatsapp so nah fühlen als stünden sie sich gegenüber, wenden Ältere die modernen Kommunikationsmittel oftmals eher sachlich an. Ins Internet geht man, wenn man eine Busverbindung sucht - und nicht, um zu plaudern. Um aus einem Chatverlauf Zwischentöne raushören und etwa Emojis entsprechend deuten zu können, braucht man Übung.

Wenn die Kanzlerin empfiehlt, dass Großeltern und Enkel sich jetzt Podcasts schicken sollen, ist das eine schöne Idee. An der Lebensrealität und den technischen Möglichkeiten vieler älterer Menschen dürfte das allerdings vorbeigehen. Die Lebensrealität ist doch derzeit eher die, dass die Tochter einkaufen geht, das Essen vor die Tür stellt, nicht mal klingelt. Bloß nicht das Risiko einer Infektion eingehen.

Das klingt alles ziemlich deprimierend. Wie können Sie Patienten, die sich in den eigenen vier Wänden wie gefangen fühlen, denn helfen?

Indem ich zunächst einmal erst nehme, was sie berichten und ihnen nicht mit pauschalen Tipps komme. Die 80-Jährige, mit der ich gestern sprach, wohnt an einem Steilhang. Gehen Sie raus, bewegen Sie sich? Das wäre also keine Option. Und der Bus, mit dem sie bis vor kurzem in die Stadt gefahren ist, wo es eben ist, der fällt jetzt weg. Schauen wir uns ganz individuell die Situation des Patienten oder der Patientin an und erarbeiten dann am besten gemeinsam einen Plan: Wo kann ich selbstwirksam sein? Die Treffen mit Freunden und Familie fallen weg, das Hobby fällt weg, nicht mal mehr gemütlich einkaufen gehen geht – eine erste spontane Reaktion wäre: Schrecklich, das alles, also Kopf in den Sand. Aber man kann auch etwas anderes tun.

Wenn all das nicht mehr möglich ist: Was geht denn noch? kann ich fragen. Ich nenne ein Beispiel, das mich selbst betrifft. Ich backe gerne, aber derzeit ist ja überall die Hefe ausverkauft. Es gibt keine Hefe, ich kann nicht backen, könnte ich sagen. Stattdessen habe ich etwas anderes getan: Ich habe gegoogelt, wie man Hefe herstellen kann und staunte, wie einfach es ist. Dass man dafür nur Zucker, Wasser und Trockenfrüchte braucht. Mal abgesehen davon, dass ich jetzt wieder backen kann fühlte es sich gut an, nicht weiter so ausgeliefert zu sein. Die eigenen Einflussmöglichkeiten zu sehen und zu spüren, wie man in die Aktivität kommt – das ist Selbstwirksamkeit.

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Geht es auch darum, zu sehen, was man hat? Nicht nur auf die Entbehrungen und den Mangel zu schauen? Man bedenke nur, was die Ausgangssperre in anderen Ländern bedeutet. Da, wo die Menschen viel beengter leben.

Schlimmer geht’s immer? Das funktioniert wenn überhaupt nur kurzfristig. Wertschätzung für das Bestehende, vielleicht auch Dankbarkeit, stellen sich eher ein, wenn wir uns innerlich anderweitig justieren.

Eine gute Übung kann sein, sich abends vor dem Einschlafen drei Dinge in Erinnerung zu rufen, die den Tag über passiert sind und die man als positiv erlebt hat. Da gibt es nichts, sagen manche. Aber auch Kleinigkeiten zählen! Die erfrischende Dusche am Morgen. Der Duft von Kaffee. Das Lied, das im Radio lief und zum Mitsingen animiert hat. Die Erfahrung zeigt: Je mehr wir die Wahrnehmung auf Schönes und Angenehmes richten, desto empfänglicher werden wir für neues Schöne und Angenehme.

Die Zeiten sind herausfordernd, viele Menschen machen sich Sorgen. Geht das nicht an der Realität vorbei, sich in so einer Situation auf Schönes und Angenehmes zu konzentrieren?

Keineswegs, denn diese Dinge sind neben all dem anderen ja da. Eine Gefahr ist, so sehr im Sich-Drehen um die Sorgen festzustecken, dass die Wahrnehmung keine Chance mehr bekommt, offen zu sein. Generell lässt sich sagen: Ungewohnte Situationen wie jetzt das Zurückgeworfen-Sein auf sich machen uns Menschen erst mal Angst. Aber sie bergen auch ein Potenzial. Wenn wir gefordert sind, probieren wir Neues aus, wir können ja oft gar nicht anders. Das kann uns auch voranbringen.

Es klingt fast, als würden Sie die aktuelle Situation auch als eine Chance sehen?

In einzelnen Bereichen ist sie das möglicherweise. Schauen Sie mich an. Ich bin 62, arbeite seit über 30 Jahren als Psychiater. Bis gestern früh wusste ich nicht, dass ich ab abends die Möglichkeit haben würde, mir die technischen Möglichkeiten für Video-Sprechstunden zu installieren. Auf einmal fördert die Kassenärztliche Vereinigung sowas. Bitte nicht, viel zu kompliziert, hätte ich vor kurzem über sowas noch gedacht. Aber gestern war ich überrascht über meine Freude und meinen Spaß daran, es einfach auszuprobieren.

Das erinnert an die Frau, die oben vom virtuellen Kaffeeklatsch erzählt?

Ich finde das großartig, wie sie versucht, die klassische Konferenz-Situation einer Skype-Sitzung zu durchbrechen. Durch sowas kommt Dynamik ins Geschehen. Man fühlt sich nicht weiter als Opfer, testet aus, ist kreativ – ist selbstwirksam, wie gesagt. Mein Sohn macht übrigens gerade eine ähnliche Erfahrung, hat das Kochen entdeckt. Per Video-Call ist er jetzt öfter bei uns in der Küche dabei, schaut sich Dinge ab. Wir lachen oft und viel dabei - auch in Zeiten von Covid-19.

Mit Hilfe anderer Mensch schafft man es vermutlich eher, gedrückte Stimmungen zu durchbrechen. Was aber, wenn man alleine ist?

Wie gesagt: Auch dann kann es gelingen, die Aufmerksamkeit wie ein Spot auf Heiteres und Schönes zu richten. Wichtig dabei: Es genügt nicht, sich sowas einmalig vorzunehmen. Man muss das üben, wieder und wieder. Neulich, zur Zeit der Abendnachrichten, bin ich ganz bewusst nach draußen gegangen, auf den Balkon. Ich wollte mich nicht schon wieder mit diesen schlimmen Bildern, der Gruselwelt beschäftigen. In der Dämmerung überraschte mich dann ein Vogelkonzert wie ich es selten gehört habe. Als ich wieder in die Wohnung gegangen bin, war ich froh. Hätte ich die Nachrichten gesehen, wäre ich das vermutlich nicht gewesen.

Aber man möchte doch informiert sein.

Natürlich, aber wie ich das tue, entscheide ich. Es kann hilfreich sein, sich einen Plan zu machen, um nicht immer wieder in die alten Muster zu fallen. Die Nachrichten schaue ich künftig morgens, könnte in so einem Plan festgehalten sein. Oder auch: Ich schaue nicht, ich lese lieber. Und danach mache ich einen Spaziergang oder fahre Rad. Und hinterher rufe ich die Kinder an. Wo alles Gewohnte wegfällt, hilft es, neue Strukturen zu schaffen. Räume für Möglichkeiten. Jeder kann das. Und wenn er die Zeit nur dafür nutzt, um in der Wohnung eine neue Ordnung herzustellen.

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