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Ein Morgen wie viele andere. Paul* schleppt sich ins Bad, das Handy in der Hand. Der 39-Jährige öffnet die App, die entscheidet, ob sein Morgen mit Glücksgefühlen startet oder mit depressiver Leere. Heute wird ein schlechter Tag. Verloren. 200 Euro, über Nacht.

Paul tippt auf seinem Smartphone, gibt wahllos Wetten ab – US-Open, Rugby in Australien, Tischtennis in Russland. Egal, Hauptsache wetten. Erst dann kann er Zähne putzen. Vielleicht holt er das Geld wieder rein, irgendwie. Bevor die Familie erfährt, dass er das Haus mit einer Hypothek beliehen hat.

Paul leidet an einer Glücksspielstörung und verzockt sein Geld vornehmlich in Sportwetten. Demnächst startet die Fußball-Europameisterschaft 2024. Der Münchner Suchtexperte Konrad Landgraf erwartet, dass durch das Großevent die Umsätze von Wettspielanbietern in die Höhe schnellen werden. Landgraf kennt die Branche. Er ist Geschäftsführer der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern und Mitglied im Bündnis gegen Sportwettenwerbung.

Sportgroßereignisse führen zu mehr Wetten

Ein Blick in die Jahresberichte der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder stützt die Einschätzung des Suchtexperten. Demnach zeigt sich bei sportlichen Großereignissen wie einer Europameisterschaft ein Aufwärtstrend bei den abgeschlossenen Wetten. Ein Grund: Werbung für Sportwetten ist im Fußball in der Werbepause oder als Bandenwerbung während des Spiels allgegenwärtig. Die Werbung der Anbieter, erklärt Landgraf, richtet sich gezielt an junge und sportbegeisterte Menschen.

In den Spots wird Glücksspiel als „Lifestyle“ dargestellt. Menschen, die Fußball spielen oder schauen, haben oft das Gefühl, über Expertenwissen in ihrem Sport zu verfügen und Voraussagen treffen zu können, wer als Gewinner vom Feld geht. Doch das ist ein Irrglaube. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Wissen über den Sport keinen signifikanten Vorteil bei Sportwetten bringt. Am Ende gewinnt immer der Wettanbieter.

Wetten als Einstieg in die Sucht

„Du hast das Wissen, wir haben die Wetten.“ So ähnlich lautete auch der Werbeslogan, der den 27-jährigen Nils* angesprochen hat. „Ich war davon überzeugt, bei der Sportwette gibt es das schnelle Geld, und ich habe die Kontrolle, das zu steuern“, erinnert er sich. „Sport habe ich sowieso gerne geguckt. Ich hatte das Gefühl, viel zu wissen und eine gute Strategie zu haben.“

Nils spielte damals Fußball im Verein und war erst 14 Jahre alt. Zuerst schloss er nur mit seinen Kumpels Wetten ab, später besorgte er sich über volljährige Freunde Wettscheine bei kommerziellen Anbietern. Denn Sportwetten sind für Minderjährige verboten. „Später habe ich im Wettbüro mit Kumpels Fußball geguckt und Wetten abgeschlossen. Das war nur Spaß, ohne eine Strategie.“ Seine Freunde fanden das irgendwann langweilig, Nils nicht. Das war der Anfang seiner Sucht.

Erhöhtes Suchtrisiko für Menschen in Sportvereinen

Geschichten wie die von Nils hört Konrad Landgraf häufig: „Menschen in Sportvereinen haben ein erhöhtes Risiko, eine Glücksspielsucht zu entwickeln“, ist Landgraf überzeugt. Meistens sind es junge Männer, die das Gefühl haben, sich mit Sport gut auszukennen. „Sie unterliegen der Illusion, etwas kontrollieren zu können und glauben, mit ihrem Wissen über Sport bei den Wetten das schnelle Geld zu machen“, so Landgrafs Einschätzung.

Dabei gehen die Betroffenen einem psychologischen Effekt auf den Leim – sie schätzen ihre Chancen falsch ein. Denn genau wie beim klassischen Roulette im Casino bestimmt nicht Wissen, sondern Wahrscheinlichkeit über Sieg oder Niederlage.

Wetten bis zum Bankrott

Hoffen und bangen – bis das Konto leer ist. Als Paul immer tiefer in die Glücksspielstörung abrutscht, macht er gerade eine schwere Zeit durch. Seine Freundin hat sich von ihm getrennt, er ist Anfang 20, trinkt viel und kämpft mit depressiven Symptomen. Der neue Freund seiner Ex fährt BMW und ist wesentlich reicher als er.

„Ich dachte, ich kann alle meine Probleme lösen, wenn ich mehr Geld habe“, erinnert er sich. Das Spielen bedeutet für ihn eine Perspektive, Ablenkung, einen Weg, um wieder besser drauf zu sein. Ihn packt der Nervenkitzel. Paul schließt Wetten ab, viele Wetten. Im Geiste ist er schon Millionär. Er hat zu den Spielen so gut recherchiert, diesmal muss es klappen. Er hofft auf das nächste Match, legt Listen an mit Dingen, die er kaufen wird. Dann, wenn er alles kaufen kann. Irgendwann ist sein Konto leer.

Männer am häufigsten von Spielsucht betroffen

Pauls Absturz ist typisch für Menschen mit Glücksspielstörung. Bundesweit sind bis zu 1,3 Millionen, häufig Männer, betroffen. Die meisten setzen nicht nur auf eine Spielart, sondern zocken sich quer durch alle Sparten.

Dr. Anja Kräplin forscht an der Technischen Universität Dresden im Bereich Abhängiges Verhalten. Sie versucht, Muster zu finden, die in die Spielsucht führen. Dabei untersucht die Psychologin verschiedene Risikofaktoren, die ein komplexes Bild zeichnen: „Es gibt nicht einen Typ Mensch, der eine Glücksspielstörung entwickelt“, so Kräplin. „Aber es gibt bestimmte Merkmale, die wir oft bei spielsüchtigen Personen beobachten.“ So handeln etwa Betroffene häufig impulsiv. Verluste können sie generell im Vergleich zu anderen Menschen gut wegstecken. Aber im Einzelfall kann das immer anders aussehen.

Chasing behaviour: Den Verlusten hinterherjagen

Paul kann es nicht glauben, als er eines Tages den Wettschein in der Hand hält: 20 000 Euro, auf einen Schlag. Ein sehr unwahrscheinliches Ergebnis mit einem riskanten Einsatz. Egal, Paul ist endlich reich. Vielleicht könnte er das nächste Mal 50 000 Euro gewinnen? Es folgen riskantere Einsätze, mehr Wetten. Paul ist im Wettfieber. Führt Listen, ersinnt Strategien. Und verliert binnen drei Monaten 30 000 Euro.

Wenn er heute auf den Tag des großen Gewinns zurückblickt, sagt er: „Das war das Schlimmste, was mir passieren konnte.“ Der Gewinn ist der Anfang von Pauls persönlichem Abgrund. Denn er fängt an zu spielen, um verlorenes Geld wieder reinzuholen, Verlusten hinterherzujagen. „Chasing behaviour“ nennt man dieses Verhalten. Damit geraten die Betroffenen meist tief in den Sumpf der Abhängigkeit.

Diese Erfahrung macht auch Nils. Er verspielt nicht nur sein Erspartes, sondern auch Geld seiner Eltern und Großeltern. Er verheimlicht seine Sucht vor der Familie, fängt Briefe von der Bank ab. Spielen hat für ihn die höchste Priorität im Leben, all seine Gedanken kreisen darum. In kurzen Raucherpausen zockt er auf dem Handy, erfindet immer neue Ausreden und Lügen, um nicht aufzufliegen. In seiner Sucht findet er das nicht schlimm. An die Auswirkungen für sich und seine Familie denkt er nicht.

Beziehungspartner leiden bei Spielsucht oft mit

Nils zeigt typische Symptome für eine Glücksspielstörung. Psychologinnen und Psychologen stellen diese Diagnose auf Basis bestimmter Kriterien. Wenn mindestens vier der neun Symptome zutreffen, spricht man von einer Erkrankung. Unterstützen Angehörige oder Freunde die Sucht indirekt oder direkt, etwa indem sie Geld verleihen, bezeichnet man das als Co-Abhängigkeit. Sie kann sich unterschiedlich auf die Menschen mit Suchtproblemen auswirken.

Für Nils passiert die unvermeidbare Katastrophe: Eines Tages erreicht ein Schulden-Brief von der Bank seine Eltern. „Meine Mutter und mein Vater haben sofort verstanden, dass ich ein Problem habe“, erinnert er sich. Seine Eltern überreden ihn, eine Therapie zu machen, doch Nils will nichts verändern. Eigentlich will er nur an Geld kommen, um weiterzuspielen. Auf Drängen der Eltern beginnt er trotzdem eine Therapie.

Im September 2022 steht auch Paul das Wasser bis zum Hals. An diesem Punkt hat er etwa eine halbe Million Euro verspielt. Er hat eine Hypothek aufgenommen – auf das Haus, in dem er gemeinsam mit seiner Frau lebt. Paul fühlt sich miserabel. Noch hat seine Frau keine Ahnung von dem finanziellen Desaster, das ihr Mann angerichtet hat. Doch dass etwas nicht stimmt, spürt sie schon länger.

Angehörige leiden häufig mit unter der Spielsucht. Oftmals, ohne vom eigentlichen Problem zu wissen. Einer Studie zufolge wirken sich Glücksspielprobleme nicht nur finanziell, sondern auch emotional auf Angehörige aus. Sie sind belastet durch die Verhaltensänderungen und emotionalen Probleme der Spielsüchtigen, berichten etwa von verminderter Leistungsfähigkeit oder Schlafproblemen. „Der wichtigste Punkt für Angehörige ist, dass sie sich erst selbst schützen müssen“, rät deshalb Anja Kräplin.

Weniger als zehn Prozent der Menschen mit Störung durch Glücksspiel sind in Behandlung. Das Angebot muss also noch niederschwelliger werden

Offen darüber reden

Lisa*, Pauls Ehefrau, hat lange Zeit unter der Sucht ihres Mannes mitgelitten, ohne zu ahnen, wo sein eigentliches Problem liegt. In der Zeit, als Paul gezockt hat, war er wie ein anderer Mensch. „Ich habe gemerkt, wie ihm die Kraft ausgeht. Wie reizbar er plötzlich war.“ Sie erinnert sich noch an den Tag, der ihrer beider Leben veränderte.

Sie waren zu Hause und Paul meinte, er müsse mit ihr reden. „Ich bin spielsüchtig. Wenn du dich von mir trennen willst, verstehe ich das.“ Diese Worte trafen Lisa wie ein Schlag ins Gesicht: „Es war, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegreißen. Ich habe alles gefühlt: Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Schock.“ Lisa will sich nicht von Paul trennen, sondern ihn auf seinem Weg begleiten, ihm dabei helfen, die Sucht hinter sich zu lassen.

Nach dem Gespräch mit seiner Ehefrau geht Paul erst einmal eine Runde spazieren: „Ich habe mich unglaublich erleichtert gefühlt, bin mit einem Lächeln durch die Straßen gelaufen.“ Von nun an teilen die beiden die Last der Sucht. Lisa verschafft sich einen Überblick über die Schulden, hat alleinigen Zugriff auf das gemeinsame Konto und grenzt sich finanziell von Paul ab.

Ambulante und stationäre Hilfe für Süchtige

Seit über einem Jahr macht Paul nun eine Therapie, die ihm hilft, nicht wieder zu spielen. In Deutschland können Betroffene aus knapp 400 ambulanten und stationären Hilfeeinrichtungen für Menschen mit Glücksspielproblemen die für sie passende Therapie auswählen. Dazu gibt es etwa 150 Selbsthilfegruppen. Anja Kräplin sagt aber: „Weniger als zehn Prozent der Menschen mit Störung durch Glücksspiel sind in Behandlung. Das Angebot muss also noch niederschwelliger werden.“ Denn die Scham in Bezug auf die Erkrankung ist hoch.

Paul hat einige Anläufe gebraucht, um seine Scham zu überwinden. Noch bevor er den Mut fand, sich seiner Frau anzuvertrauen, suchte er Hilfe in einer Online-Beratung, fragte: „Wie komme ich da raus, ohne dass irgendjemand von meiner Sucht erfährt?“ Die Antwort der Suchtberaterin lautete: „Gar nicht.“

Später sucht sich Paul eine Selbsthilfegruppe: „Meine größte Angst war, verlassen zu werden. Ich dachte wirklich, dann mag mich niemand mehr, dann wenden sich alle von mir ab. Ich darf es nicht sagen – aber ich muss.“ Doch als er den Mut findet, sich zu offenbaren, ist die Unterstützung durch die Gruppe, seine Frau und seine Freunde überwältigend. Zum ersten Mal in seinem Leben redet Paul offen über seine Gefühle.

Bin ich gefährdet?

Kennen Sie folgende Gefühle oder Verhaltensweisen von sich selbst? Diese Symptome können auf eine Glücksspielstörung hindeuten:

  • Ich brauche Glücksspiel mit immer neuen Einsätzen, um eine gewünschte Erregung zu erreichen.
  • Ich fühle mich unruhig und reizbar, wenn ich versuche, das Glücksspiel einzuschränken oder aufzugeben.
  • Ich habe schon mehrmals versucht, das Glücksspiel zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben.
  • Glücksspiel nimmt mich gedanklich sehr ein. Ich grüble etwa über vergangene Verluste und plane, mit welchen Strategien ich diese wieder ausgleichen und mehr Geld gewinnen kann. Ich beschäftige mich damit, wo ich das Geld für mein Glücksspiel beschaffen kann.
  • Ich spiele häufig in belastenden Gefühlszuständen (zum Beispiel bei Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, Angst, depressiver Stimmung).
  • Ich wiederhole Glücksspiel am nächsten Tag, um entstandene Verluste auszugleichen.
  • Ich belüge andere, um das Ausmaß der Verstrickung in das Glücksspiel zu vertuschen.
  • Ich laufe Gefahr, eine wichtige Beziehung oder den Arbeitsplatz zu verlieren. Aufstiegschancen sind durch das Glücksspiel gefährdet.
  • Ich verlasse mich auf finanzielle Unterstützung durch andere, um die durch Glücksspiel verursachte finanzielle Notlage zu überwinden.

Therapie gegen die Sucht und Begleiterkrankungen

Offen über Gefühle reden – genau dieses Ziel strebt die Verhaltenstherapie bei Glücksspielstörungen an. Anja Kräplin beschreibt sie als eine Mischung aus Aufklärung über die Sucht, den systematischen Aufbau alternativer Lebensinhalte, die Vermeidung riskanter Situationen, Rückfallprävention und die Behandlung von Begleiterkrankungen wie etwa Depressionen.

„Besonders wichtig ist, dass die Betroffenen akzeptieren lernen: Ein Rückfall bedeutet nicht das Ende der Welt. Es ist normal, dass es im Verlauf der Therapie Schwankungen gibt“, macht die Psychologin Mut. Besonders wenn Menschen mit Glücksspielstörung ständig mit Werbung konfrontiert werden, sind Rückfälle leider ein Stück weit normal. Denn Werbung kann ein Trigger für Menschen mit Glücksspielproblemen sein.

Die Wettanbieter gaben 2020 laut Nielsen Media Research 895 Millionen Euro für Werbung aus. Was das in der Praxis bedeutet, erlebt Eva Vitzthum in der Suchtberatungsstelle Weiden. Die Suchtberaterin sieht besonders kritisch, dass der lokale Sportverein in Weiden mittlerweile mit einem Sportwettenanbieter ein Sponsoring mit den ersten beiden Herrenmannschaften eingegangen ist: „Mir bereitet es Bauchschmerzen, wenn junge Erwachsene in einem gesponserten Pullover mit dem Logo von einem Glücksspielanbieter darauf trainieren. Diese Sportler sind Vorbilder für die Jugendmannschaften.“ Ein Wettspielanbieter als Sponsor normalisiert in den Augen von Eva Vitzthum das Thema Sportwetten für die Zielgruppe und erweckt den Eindruck, Sport und Wetten gehörten zwangsläufig zusammen.

Akzeptanz für Glücksspiel-Werbeverbot steigt

Es ist Sache der Vereine, wie sie sich zum Angebot des Sponsorings durch Sportwettenanbieter positionieren. Ein Bremer Verein etwa hat die Wetten-Logos überflockt und so unkenntlich gemacht. In einer Studie sprachen sich fast drei Viertel aller Befragten für die Beschränkung der Werbung für Glücksspiele aus. Die Akzeptanz für ein generelles Werbeverbot von Glücksspielen in der Bevölkerung hat von 2021 bis 2023 signifikant zugenommen. Betroffene müssen sich aber zuerst selbst schützen.

Paul und Nils konnten mittlerweile ihr Leben wieder aufnehmen. Nils hat das Lesen für sich entdeckt und findet, dass das Leben ohne Sucht entspannter und leichter ist. Paul trifft sich mit Freunden, macht Sport und stottert seine Schulden ab. Im Zusammenleben mit seiner Frau gibt es keine Heimlichkeiten mehr. Er spielt immer noch gerne Fußball und freut sich auf die anstehende EM. Wetten wird er nicht.

*Alle Namen von der Redaktion geändert


Quellen: