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Frau Speidel, wenn ich Sie jetzt auf Ihren 70. Geburtstag im nächsten Jahr ansprechen würde …

Jutta Speidel: Nur zu! (lacht) Sie sind die Erste, die fragt. Deshalb haben Sie Vorkaufsrecht. Aber ich bin da ohnehin ganz entspannt.

Tatsächlich?

Absolut. Ich kann es zwar nicht fassen, aber eigentlich ändert sich ja nichts. Das normale Altern habe ich ja schon 70 Jahre miterlebt. Das werde ich die nächsten 20 Jahre, oder so lange mir der liebe Gott gibt, auch noch ertragen. Ich bin ja dankbar, dass ich so viele Jahre so gut gelebt ­habe – mit allen Höhen und Tiefen.

Worauf ich eigentlich hinauswollte: ­Andere denken in Ihrem Alter an den Ruhestand. Sie sind regelmäßig im ­Fernsehen zu sehen und stemmen für Ihren gemeinnützigen Verein „HORIZONT e.V“ gerade das nächste Mammutprojekt: Sie bauen ein drittes Haus für obdach­lose Frauen und Kinder.

Na ja, das mit dem Ruhestand ist bei mir ja auch ein bisschen anders. Als Schauspielerin mache ich dann Schluss, wenn ich die Nase voll habe. Aber noch macht mir das viel Spaß. Und das ­dritte Haus wird in der Tat noch einige Zeit und Energie in Anspruch nehmen. Wir hoffen sehr, dass es in drei Jahren fertig ist.

HORIZONT e. V.

Der Verein HORIZONT e. V. betreut Mütter und Kinder ohne festen Wohnsitz sowie sozial benachteiligte Familien. Mehr Infos unter: horizont-muenchen.org

Knapp 60 Angestellte beschäftigt Ihr Verein – das ist ein mittelständischer Betrieb. Sind Sie mittlerweile mehr ­Unternehmerin als Schauspielerin?

Eigentlich haben diese beiden Dinge gar nichts miteinander zu tun. Natürlich profitiert „Horizont“ von meinem Bekanntheitsgrad als Schauspielerin. Und umgekehrt habe ich als Schauspielerin profitiert, als ich anfing, Unternehmerin zu werden.

Wieso das?

Weil ich ganz viel Selbstständigkeit gelernt habe. „Horizont“ hat mir gezeigt, dass ich mich auf mich verlassen kann. Als Erstes habe ich mich von meiner Agentur verabschiedet. Ich dachte mir: „Für das Geld, was ich dorthin überweise, kaufe ich mir lieber etwas Schönes!“ (lacht) Und dann habe ich mir ein Jaguar Cabriolet zum 50. Geburtstag geschenkt. Bei der Benefiz-Versteigerung des Autos vor zwei Jahren sind ­übrigens immerhin noch 17 000 Euro für „Horizont“ zusammengekommen.

Sie stecken viel Zeit und Energie in Ihren Verein. Viele Prominente machen es sich leichter, wenn sie sich sozial ­engagieren wollen und übernehmen zum Beispiel eine Schirmherrschaft …

Ich bin der Schirm!

Im Ernst: So etwas hätte Ihnen nicht gereicht?

Wissen Sie, mit wie vielen Organisationen ich davor zusammengearbeitet habe? Und alle hatten mich gerne, weil ich so wunderbar Geld einsammeln, Lose verkaufen und ihre Ideen weitertragen konnte. Aber glauben Sie mir: Ich habe von keiner dieser Organisa­tionen je eine Einladung bekommen, mir auch nur einmal anzuschauen, was mit diesem Geld passiert ist. Ich fühlte mich ­irgendwann so „benutzt“. Das reichte mir einfach nicht. Ich wollte selbst etwas Sinnvolles machen!

Aber wie kamen Sie ­darauf, obdachlosen Frauen und ihren Kindern zu helfen?

Ich habe in einer Münchner Obdachlosen-Zeitschrift gelesen, dass es in unserer Stadt obdachlose Kinder gibt. Das war für mich ein No-Go. Das hat mich erschüttert!

Und dann?

Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, wie man einen Verein gründet. Ich wusste nicht mal, was eine Satzung ist. Mein Steuerberater hat dann die Satzung eines Schäferhundezüchtervereins umformuliert. (lacht) Die ist dann auch erst mal abgelehnt worden.

Das klingt nach einem holprigen Start.

Oh ja! Ich weiß noch, wie ich im Münchner Sozialreferat saß und man vehement versucht hat, mir die Idee auszureden, indem mir gesagt wurde: „Frau Speidel, Sie sind Schauspielerin, kümmern Sie sich mal da drum und nicht um Dinge, die Sie nicht kennen.“ Da dachte ich mir: Diese Hoch­näsigkeit, die ihr habt! Ich zeig es euch!

Sie haben mittlerweile mehreren ­Tausend Müttern geholfen, ein Zu­hause zu finden. Woher kommen die Frauen?

98 Prozent unserer Mütter und Kinder haben Gewalterfahrungen gemacht, was auch sehr schnell zu einem Ausschluss von Männern in unserem Schutzhaus geführt hat. Die Frauen kommen aus allen Schichten. Viele schlüpfen anfangs noch bei Freunden oder der Familie unter. Andere leben gleich auf der Straße.

Das klingt unglaublich…

Es gibt irrsinnige Geschichten. Wir hatten eine Rumänin mit fünf Kindern, die jahrelang jeden Tag den Schlafplatz gewechselt hat. Weil sie wusste, wenn man sie findet, muss sie zurück zu ihrem Mann nach Rumänien und der bringt sie um. Und das ist kein Einzelfall. Es bräuchte alleine in München Hunderte Wohnungen für solche Fälle. Es sind Tausende Frauen und Kinder, die das brauchen. Die Dunkelziffer ist riesig.

Wie helfen Sie und Ihr Team den ­Familien, die bei Ihnen unter­kommen?

Wir bieten den Betroffenen – neben einem sicheren Dach über dem Kopf – eine engmaschige therapeutische Unterstützung. Und wir helfen den Müttern, möglichst finan­ziell unabhängig zu werden, den Einstieg in die Berufstätigkeit zu finden. Die Familien zu stärken und ihnen wieder Perspektiven zu geben, das ist unser wichtigstes Ziel.

Was tun Sie, damit das gelingt?

In dem Schutzhaus, das wir gerade planen, wollen wir ein Traumatherapiezentrum eröffnen. Viele Mütter und Kinder haben schreck­liche Dinge erlebt. Bei uns wohnen Kinder, die vergewaltigt und halb totgeprügelt wurden oder gesehen haben, wie das mit ihren Müttern passiert ist. Und wir haben festgestellt, dass eine sozialpädagogische Betreuung, wie wir sie in den anderen beiden Häusern haben, allein nicht mehr ausreicht.

Und die Familien können sicher nicht ewig auf einen Therapieplatz warten.

Richtig. Bis dahin hat sich zu viel manifestiert. Das kriegt man nie wieder raus. Man muss bei den Menschen bleiben, um was zu bewirken. Und das 24 Stunden am Tag.

Im Mai ist Ihr Verein 25 Jahre alt ge­worden. Was sagen eigentlich die Leute aus dem Rathaus dazu, die Ihnen Ihre Idee damals ausreden wollten?

(lacht) Ach, ich habe so viele Auszeichnungen bekommen! Die haben alles wieder gutgemacht. Ich bin mittlerweile sogar Ehrenbürgerin der Stadt München. Aber im Ernst: Dass „Horizont“ mal das wird, was es heute ist, hätte mir keiner zugetraut.

Sie selbst haben nie gezweifelt?

Nein. Nie. Wenn ich einmal ein Ruderboot besteige, dann paddel ich damit ans andere Ufer – auch über stürmische See.