Senioren Ratgeber

Frau Prof. Franke, soziale Distanz ist das Gebot der Stunde. Wie finden Sie den Begriff?

Ich finde ihn unglücklich gewählt. Es geht ja nur um räumlichen Abstand. Es hat nichts damit zu tun, dass man Menschen alleine lassen soll. Das setzt ja auch so viele Angehörige von pflegebedürftigen Menschen unter Druck: Man möchte sich kümmern, kann aber oft nicht hin. Da ist eine große Anspannung da.

Sie beschäftigen sich seit Langem mit Angehörigen, die sich aus der Ferne um pflegebedürftige Menschen kümmern. Wie verändert die Corona-Krise die Lage?

Man kann sagen, dass jetzt ganz viele, die sich um ältere Angehörige oder Freunde kümmern, in gewisser Weise aus der Ferne pflegen müssen – selbst wenn sie in der Nachbarschaft wohnen. Das macht alles komplizierter. Man kann den Einkauf vor die Tür stellen, aber man sollte eben meist nicht in die Wohnung gehen, um zum Beispiel bei der Tabletteneinnahme zu helfen. Hier kreative Lösungen zu finden ist nicht immer einfach.

Dr. Annette Franke ist Professorin für Gesundheitswissenschaften, Soziale Gerontologie und Sozialarbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschung zählt die Situation pflegender Angehöriger.

Ambulante Pflegedienste arbeiten am Limit. Auch bei osteuropäischen Betreuungskräften wird von Engpässen berichtet. Was raten Sie pflegenden Angehörigen, die auf Hilfe angewiesen sind?

Es ist gerade wirklich sehr schwierig, keine Frage. Was mir Hoffnung macht: Es gibt im Zuge von Corona eine Reihe ehrenamtlicher Initiativen, die Einkaufsdienste anbieten oder Rezepte in der Apotheke einlösen. Meist sind es junge Leute – das finde ich ganz toll. Ich rate pflegenden Angehörigen, auch solche Angebote in Erwägung zu ziehen. Und man sollte das Thema noch mal in der Familie ansprechen: Wie können wir die Pflege unter den aktuellen Bedingungen organisieren? Digitale Wege der Kommunikation können dabei eine große Rolle spielen. Dass man eine Nachbarin per Kurznachricht bittet, beim Vater zu klingeln, ob es ihm gut geht. Dass man online einen Lieferdienst mit einer warmen Mahlzeit für die Eltern bestellt.

Es ist jetzt viel vom Segen der Digitalisierung die Rede. Sollte man den Eltern oder Großeltern einen Tablet-PC mit Internetzugang schicken?

Ich bin mir nicht sicher, ob das in jedem Fall eine gute Idee wäre. Aber es gibt doch viele ältere Menschen, die schon ein Smartphone oder Tablet haben, aber es kaum benutzen. Und da kann die jetzige Situation ein Impuls sein: Komm, jetzt probieren wir das mal aus mit der Videotelefonie! Vielleicht können die Jüngsten ein selbst gemaltes Bild schicken, oder man sendet Fotos aus dem Garten, wo Tulpen und Narzissen blühen. Ich bin mir sicher, dass die Technik jetzt für ältere Menschen eine viel menschlichere Seite bekommt. Ich hoffe, sie freunden sich auf Dauer damit an.

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Auch die digitale Medizin erfährt gerade einen Schub, zum Beispiel mit Videosprechstunden.

Stimmt. Auf einmal ist vieles möglich, was vor Kurzem noch undenkbar schien: Physiotherapie oder Ergotherapie können jetzt am Bildschirm erfolgen, der MDK führt Begutachtungen als Videokonferenz durch. Außerdem können viele Berufstätige im Homeoffice arbeiten. Das sind alles Dinge, die pflegenden Angehörigen zugutekommen, auch auf lange Sicht.

Was bedeutet es für Enkel, die Großeltern nicht mehr besuchen zu dürfen?

Ich glaube, hier entsteht gerade ein neues Verantwortungsgefühl: Indem du zuhause bleibst, schützt du deine Großeltern. Du leistest einen wichtigen Beitrag! Jung und Alt können sich jetzt in wunderbarer Weise ergänzen: Jugendliche können den Älteren helfen, Freude an der digitalen Technik zu finden. Und viele Ältere können eine Erfahrung beisteuern, die jüngeren Generationen meist fehlt: Wie man schwierige, entbehrungsreiche Zeiten im Leben übersteht, wie man sich trotz allem die Zuversicht bewahrt.

Ist die Corona-Krise eine Chance für das Miteinander der Generationen?

Ja, das ist meine große Hoffnung. Man sieht das ja auch gesellschaftlich, die Situation der Älteren gerät jetzt viel stärker in den Blick. Das ist wichtig – besonders für viele allein lebende Menschen oder Ältere mit niedrigen Einkommen. Natürlich wünsche ich mir, dass sich das auch nach der Krise fortsetzt. Zum Beispiel, indem das Thema stärker in der Schule Berücksichtigung findet, dass man sich in Projekten überlegt, wie man älteren Menschen vor Ort künftig helfen kann, aber auch erkennt, welcher Schatz in deren vielfältigen Biografien steckt.

Wie kann man älteren und pflegebedürftigen Angehörigen helfen, die Situation der Isolation psychisch zu überstehen, sei es im Heim oder zuhause?

Ich finde es wichtig, nicht nur mit negativen, Angst machenden Botschaften zu kommen: "Du bist gefährdet!", "Du darfst jetzt nicht raus!". Sondern zum Beispiel zu sagen: "Jetzt ist doch die beste Zeit, um das Beet im Garten zu bestellen" oder "Wolltest du nicht schon lange mal mit deinem Schulfreund telefonieren?" Gut ist es, wenn man kleine Rituale schafft, etwa indem man einmal am Tag zu einem festen Zeitpunkt telefoniert oder per Smartphone Nachrichten in der Familie austauscht. Man sollte seine Angehörigen auch ermuntern, in Bewegung zu bleiben, spazieren zu gehen, wenn das möglich ist.

Wie lässt sich verhindern, dass in dieser Zeit bei pflegebedürftigen Menschen das Gefühl entsteht: Ich bin nur noch eine Last?

Indem man ihnen Wertschätzung entgegenbringt. Kleine Zeichen der Sympathie, eine freundliche Postkarte oder ein Päckchen und eben regelmäßige Anrufe oder Nachrichten. Jetzt, wo so vieles stillsteht, ist auch eine gute Zeit für wohlgemeinte Neugier: "Erzähl doch mal, wie war das damals? Wie hast du das geschafft?" Viele Ältere bringen eine große psychische Widerstandskraft mit, das unterschätzt man leicht.

In wenigen Tagen ist Ostern. Ein typisches Familienfest.

Ja, und machen wir uns nichts vor: Das kann noch mal eine Krisensituation sein. Ich kann auch an dieser Stelle nur raten, die neuen Kommunikationswege zu nutzen. Vielleicht sendet man ein Foto vom Ostertisch herum. Oder die Enkel bemalen Eier, die sie an die Großeltern schicken. Es ist jetzt so wichtig, Vertrauen ineinander zu haben und sich auch im Familienkreis zu sagen: Es wird wieder besser.