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Herr Professor Feldkamp, warum kann es sinnvoll sein, kritisch auf das verordnete L-Thyroxin zu schauen?

Früher hat man schon L-Thyroxin verschrieben, wenn es nach heutigem Verständnis nicht nötig ist. Die Patienten von damals nehmen die Tabletten teilweise immer noch, obwohl sie bei ihnen eher schädlich sein können: Auf lange Sicht steigt durch eine zu hohe ­Gabe von L-Thyroxin das Risiko für Vorhofflimmern, Schlaganfall und ­Osteoporose. Bei diesen Langzeit-Patienten müssen die Tabletten reduziert, vielleicht sogar ganz abgesetzt werden. Das gilt aber nicht für Menschen mit einer ausgeprägten Schilddrüsen-Erkrankung oder sogar Operation.

Trotzdem hat in Deutschland die Zahl der Menschen, die Schild­drüsenhormone einnehmen, seit 2010 um vierzig Prozent zugenommen. Wie erklärt sich das?

Meine Kollegen und ich vermuten, dass das Internet ein Hauptgrund ist. Viele finden dort Hinweise darauf, dass ihre Beschwerden wie Konzen­trationsstörungen oder Müdigkeit mit der Schilddrüse zusammenhängen können. Das führt dazu, dass viele ­aktiv die Tabletten einfordern …

… und gleich ein Rezept bekommen?

Da eine Behandlung mit einer niedrigen Dosis Schilddrüsenhormonen zunächst nicht gefährlich ist, geben manche Hausärzte dem bei leicht ­erhöhten TSH-Werten vielleicht erst mal nach – in der Hoffnung, dass sich die Symptome verbessern. Manche Patienten verlangen die Tabletten aber auch, weil sie abnehmen wollen.

Abnehmen dank L-Thyroxin, das klingt nach einer leichten Lösung. Wo liegt das Problem?

Bei einer Überfunktion der Schilddrüse, die der Körper selbst verursacht, nehmen Menschen typischerweise ab. Der Umkehrschluss, die Überfunktion zum Abnehmen also durch Tabletten herzustellen, funktioniert aber nicht. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die künstlichen Hormone den Umweg ins Blut über den Darm nehmen müssen. Der TSH-Wert sinkt bei ihnen zwar, aber das Gewicht geht durch die Tabletten nicht runter.

Warum bekommen sie eventuell trotzdem L-Thyroxin verschrieben?

Das Regelhormon TSH, das die Schilddrüse steuert, liegt bei übergewichtigen Menschen über der Norm.

Prof. Dr. Joachim Feldkamp ist Leiter der Klinik für allgemeine innere Medizin, Endokrinologie, Diabetologie und Infektiologie an der Uniklinik Bielefeld.

Prof. Dr. Joachim Feldkamp ist Leiter der Klinik für allgemeine innere Medizin, Endokrinologie, Diabetologie und Infektiologie an der Uniklinik Bielefeld.

Das heißt, sie haben tatsächlich eine Unterfunktion?

Nein, das täuschen die Werte nur vor. Der erhöhte Wert ist eine Anpassung des Körpers an das Mehrgewicht. Nimmt die Person ab, sinkt auch der TSH-Wert wieder. Diese Menschen müssen also eigentlich kein L-Thy­ro­xin nehmen, bekommen es aber trotzdem manchmal verschrieben.

Wie finde ich heraus, ob ich vielleicht selbst zur Gruppe derer ­gehöre, die übertherapiert sind?

Das geht bei der Diagnose los: Ganz wichtig ist die Kontrolle des TSH-Blutwerts ein paar Wochen nach der ersten Messung – mehr als die Hälfte der Fälle erledigt sich dann von selbst. Bei einem erhöhten Wert müssen aber auch erst mal Krankheiten, wie Ha­shi­moto-Thyreoditis, ausgeschlossen werden. Mit Schilddrüsenhormonen sollte immer eine Krankheit behandelt werden und nicht nur der Laborwert. Es müssen also schon auch andere gesundheitliche Probleme wie Müdigkeit oder ­Antriebslosigkeit vorhanden sein.

Wenn ich schon jahrelang L-Thyroxin nehme, vielleicht noch aufgrund der veralteten Grenzwerte: Welche Möglichkeiten habe ich?

Zuerst mit dem Arzt sprechen, ob er befürwortet, einen aktuellen Bluttest zu machen und das Präparat zu reduzieren. Falls es noch den allerersten TSH-Wert gibt, kann man an ihm ablesen, ob es generell sinnvoll ist.

Und falls es den ersten Wert nicht mehr gibt?

Wenn der Arzt dafür ist, könnte man die tägliche Dosis halbieren. Ist der TSH-Wert zwei Monate später noch im Normbereich, kann man die Tabletten weiter ausschleichen oder ganz absetzen. Ein Ultraschall der Schilddrüse kann auch etwas darüber aussagen, ob ein Absetzen sinnvoll ist.

Unser täglich L-Thyroxin

5 Tipps von Apothekerin Annett Wenzel aus Weißenfels, wie die L-Thyroxin-Tablette am besten wirkt:

1. Auf den richtigen Zeitpunkt achten: Mindestens eine halbe Stunde vor dem Früh­ stück mit Leitungswas­ ser einnehmen. Milch, manche Mineralwasser, Kaffee oder Schwarztee verringern die Wirkung. Wer morgens nicht dazu kommt: ärztlich ab­ klären, ob die Einnahme abends möglich ist.

2. Einnahme vergessen? Kein Problem Ausnahmsweise die Tablette ausgelassen? Nicht so tragisch: Das Hormon bleibt mehrere Tage im Blut. Einfach am nächsten Tag wie gewohnt mit der Arznei weitermachen.

3. Vorsicht vor Wechselwirkungen! Eisenpräparate, Kalziummittel, Coles- tyramin, Antazida und einige andere Medika- mente vertragen sich nicht mit L-Thyroxin. Zwei Stunden Abstand einhalten und Werte im Blick behalten.

4. Tablette teilen? Bei L-Thyroxin kein Problem. Die Tabletten haben eine Bruch- kerbe und können leicht halbiert werden.

5. Bei einem Produkt bleiben. Apotheken können die Tabletten nicht einfach austauschen, wenn es Lieferschwierigkeiten gibt. Die Dosis ist sehr genau in der Tablette eingestellt. Änderun- gen müssen deshalb mit Arzt oder Ärztin abgesprochen werden

Die Tabletten ausschleichen lassen ist also die beste Option?

Erst einmal ja. Schilddrüsenhormone bleiben sehr lange im Blut nachweisbar. Sie binden sich an Eiweiße und werden langsam verbraucht. Wer seine benötigten Medikamente plötzlich absetzt, wird es trotzdem erst etwa zwei Wochen später merken und in die Unterfunktion kommen. Sind Arzt und Patient aber überzeugt, dass die Schilddrüse wahrscheinlich normal arbeitet, könnte man die Tablette auch ganz absetzen und ein paar Wochen später den Blutwert prüfen. Das muss aber immer individuell und in Absprache entschieden werden.


Quellen:

  • Ludwig, W.; Mühlbauer, B; Seifert, R;: Arzneiverordnungs-Report 2022, Das Nachschlagewerk für den deutschen Arzneimittelmarkt.. In: Springer Berlin, Heidelberg: 27.02.2023, https://doi.org/...