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Mitten im Gottesdienst rang die Frau plötzlich nach Luft. Sie fühlte, dass in ihrem Körper etwas nach oben drückte. Ein spitzer Schrei – und sie brach ohnmächtig zusammen. Die Ursache war schnell gefunden: ein typischer Fall von Gebärmuttererstickung.

Wenn Krankheiten plötzlich populär werden

Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert waren Fälle wie dieser keine Seltenheit. „In manchen Arztpraxen war die Gebärmuttererstickung die häufigste Diagnose überhaupt“, berichtet Professor Michael Stolberg, der als Medizinhistoriker an der Universität Würzburg über die Entwicklung von Krankheitskonzepten forscht. Nach alter Vorstellung wanderte die Gebärmutter frei im Körper herum und konnte, wenn sie einen Ausflug Richtung Brustkorb unternahm, zu Atemnot und Herzrasen führen.

Wer heute in einer Arztpraxis die Vermutung äußert, an einer Gebärmuttererstickung zu leiden, dürfte verwunderte Blicke ernten. Krankheiten, die plötzlich populär werden, gibt es aber noch immer. Zum Zeitgeist jeder Epoche gehören eben auch ihre charakteristischen Leiden.

Modediagnosen - Fluch und Segen für Erkrankte

ADHS und Asperger-Autismus, Burn-out und Borderline, Lipödem, Laktoseintoleranz – und neuerdings Long Covid: Dies sind nur einige Begriffe, die Suchmaschinen beim Begriff „Modediagnosen“ ausspucken. „Die meisten davon sind ernsthafte Erkrankungen“, betont Dr. Michelle Hildebrandt, Autorin von „Die Patientenfänger“. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie beschreibt darin zahlreiche Leiden, von denen man annehmen darf, dass sie weitaus öfter diagnostiziert oder von vermeintlich Betroffenen vermutet werden, als sie auftreten.

Diagnose von Dr. Google: Wer im Internet nach seinen Symptomen sucht, fühlt sich schnell schwer krank

Diagnose von Dr. Google: Wer im Internet nach seinen Symptomen sucht, fühlt sich schnell schwer krank

Für die wirklich Erkrankten ist es Fluch und Segen, wenn ihr Leiden Karriere macht. „Die Krankheit wird seltener übersehen, die Therapieangebote verbessern sich“, sagt Hildebrandt. Die Schattenseite: Die Patientinnen und Patienten werden oft nicht ernst genommen. „Ach, Ihr Kind hat ADHS?“, sagt eine Nachbarin. Und man kann in ihren Augen lesen, dass sie glaubt, dass die Eltern versagt haben. Auch wer ein Gericht mit Milch oder Weizen ablehnt, weil er Laktose oder Gluten nicht verträgt, wird gern belächelt.

Wir leben im Zeitalter der Psyche

Doch auch wenn keineswegs alle Betroffenen eingebildete Kranke sind: Trifft eine Krankheit den Nerv der Zeit, hat sie gute Chancen, zum Trendleiden zu werden. Wie etwa die „vapeurs“, an denen die feinen Herrschaften am Hof des französischen Sonnenkönigs litten. Dabei handelte es sich um eine Unpässlichkeit, die vor allem zartbesaitete Naturen befiel.

In der überreizten Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Neurasthenie, die Nervenschwäche, zur Volkskrankheit. „Die Ursache sah man dabei stets körperlich“, sagt Stolberg.

Anders heute: Medizinhistorisch gesehen leben wir im Zeitalter der Psyche. Die einen lässt der Leistungsdruck ausbrennen, andere drückt die Überforderung in Depression nieder oder macht sie chronisch erschöpft. Nach dem DAK-Psychoreport 2021 fehlte jeder Versicherte im Schnitt fast drei Tage aufgrund psychischer Erkrankungen bei der Arbeit – so viel wie nie zuvor.

„Eine Krankheit nimmt ein Stück weit die Verantwortung“

Dass die Leiden der Seele heute so oft diagnostiziert werden, hat eine lange Geschichte. Sie führt von der Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud um 1900 bis zur Single-Gesellschaft der Gegenwart. „Wir haben Zeit, uns mehr mit uns zu befassen – und wir vereinzeln auch mehr“, sagt Fachärztin Hildebrandt.

Probleme mit seiner Therapeutin oder seinem Therapeuten zu besprechen hat an Stigma verloren, gilt vor allem in den USA regelrecht als schick. Was, keine „vapeurs“, keine „irritablen Nerven“? Am Hof des Sonnenkönigs konnte man da schon mal als grober Klotz gelten. Wer heute meint, eine gesunde, robuste Psyche zu haben, dem kann es in gewissen Kreisen ähnlich ergehen.

Viel mehr Zeit als früher nehmen wir uns zudem für unsere Kinder – auch, um auf mögliche Defizite zu achten. Wenn etwas nicht so läuft wie geplant, kann eine Diagnose beruhigen. „Eine Krankheit nimmt ein Stück weit die Verantwortung“, sagt Hildebrandt. Ein Beispiel, mit dem sie als Gutachterin in der Kinderpsychiatrie oft konfrontiert wird: KiSS, die Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung, auch Schräghals genannt.

Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, betrachtet Modediagnosen im Wandel der Zeit

Dr. Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, betrachtet Modediagnosen im Wandel der Zeit

In der Fachwelt ist die Diagnose umstritten. „Gestellt wird sie dennoch massenhaft“, so Hildebrandt. Im Schulalter dominiert dann ADHS. In Deutschland soll fast jeder fünfte Junge daran leiden.

Wenn aus Krankheit Profit geschlagen wird

Aber sind diese Kinder alle behandlungsbedürftig? Wer entscheidet eigentlich, was krank und was gesund ist? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als einen „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Doch auf wen trifft das schon zu? Am einen Tag zwickt es im Kreuz, am nächsten dröhnt vor Stress der Kopf. Und mit dem Alter kommen die Zipperlein.

„Nicht selten wird Gesundheit zu Krankheit umetikettiert“, sagt Hildebrandt. Zum Beispiel von Menschen, die an diesem Etikett gut verdienen. „Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Disease Mongering, von Krankheitserfindung“, erklärt Dr. Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Berlin.

Eine Strategie von Pharmariesen, um ihren Absatzmarkt auszuweiten, sind zudem Disease-Awareness-Kampagnen, die auf Krankheiten aufmerksam machen sollen. Schott erinnert sich an eine Aktion zu Kopfschmerzen. Folgte man dem Hinweis auf den Plakaten, stieß man im Internet auf einen Fragebogen. Die Arzneimittelexpertin füllte ihn mehrmals aus, kreuzte unterschiedliche Antworten an.

„Jedes Mal kam raus, dass ich ärztliche Beratung suchen sollte.“ Dahinter stand eine Firma, die ein Mittel gegen eine bestimmte Migräne-Form vermarktete. „Die Unternehmen versuchen, teils schon früh Einfluss zu nehmen, etwa wenn die Kriterien für eine Dia­gnose festgelegt werden“, sagt Schott.

Angst als Mittel zum Zweck

Damit Krankheitskarrieren gedeihen, braucht es zudem den richtigen Nährboden. Ein besonders fruchtbarer ist Angst. Etwa vor dem Tempo des technischen Fortschritts. So machte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als immer mehr Schienen das Land durchzogen, die Eisenbahnkrankheit breit. Wer häufig mit dem Zug reiste, fühlte sich danach oft nervös, erschöpft, litt an Verdauungsstörungen. Mit zunehmender Elektrifizierung wuchs die Furcht vor Strahlen und Feldern – und machte Menschen elektrosensibel.

Einen schier unüberschaubaren Markt schuf die Furcht vor schleichender Vergiftung durch Chemikalien. Detox war geboren und versprach mit Diäten, Kuren und Pülverchen, Gifte auszuleiten. „Dabei erledigen Organe wie Nieren, Leber und Darm diese Aufgabe ganz hervorragend“, sagt der Alternativmedizin-Forscher Professor Edzard Ernst. „Und wenn die versagen, hilft einem ganz bestimmt kein Entgiftungsfußbad.“

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Diese Rolle spielen Alternativmedizin und Medien

Blickt man in die Medizingeschichte, stößt man zudem auf ein Bündel von Beschwerden, die fast in jeder Epoche neue Namen erhalten. Die eine plagt eine unglückliche Ehe, den anderen sein harter Job. Folgen sind Symptome, die man heute als psychosomatische Beschwerden bezeichnen würde: Erschöpfung, Reizbarkeit, Bauchgrimmen, Schlafstörungen. Die Diagnosen, die dieses Bündel unklarer Beschwerden heute erklären sollen, füllen ganze Bücher. Darunter finden sich Krankheiten, die zweifellos existieren.

Etwa die chronische Borreliose, eine von Zecken übertragene Infektion. Dass meist etwas anderes dahintersteckt, zeigte jüngst eine Studie von Forschenden der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Sie untersuchten rund 1300 Menschen mit Borreliose-Verdacht. In mehr als 95 Prozent der Fälle waren andere Erkrankungen für die Symptome verantwortlich – etwa Depressionen oder sogar Krebs.

Auch die Alternativmedizin kreiert bunte Diagnosen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung oft nicht standhalten. Die Leiden tragen klangvolle Namen wie Mi­tochondriopathie oder Nebennieren-erschöpfung. Schaden können die exotischen Befunde nicht nur dem Geldbeutel. „Betroffenen können lebensrettende Therapien versagt bleiben“, warnt Hildebrandt.

Darüber hinaus darf ein Motor für Krankheitskarrieren nicht verschwiegen werden: die Medien. Nicht nur Zeitungen und Magazine, auch Filme und Serien fungieren als Trendsetter. Welcher Mensch mit sozialen Problemen möchte zum Beispiel nicht so genial sein wie „Sherlock“, die jüngste Inkarnation des berühmten Detektivs von Arthur Conan Doyle? In der gleichnamigen Serie nennt er sich selbst einen „hochfunktionalen Autisten“.

Ist es wirklich Autismus?

Die Folgen sieht Professorin Hannelore Ehrenreich in der Ambulanz für Autismus im Erwachsenenalter, die vom Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften und der Uniklinik Göttingen betrieben wird. „Kann ich für eine zweite Meinung zu Ihnen kommen? Ich denke, ich habe Autismus.“ Erhält die Neurologin einen solchen Anruf, muss sie innerlich seufzen: schon wieder ein „Lifestyle-Autist“. „Wer wirklich an Autismus leidet, würde nie so einen Anruf tätigen“, sagt die Expertin. Wenn sie dann nach einer gründlichen Untersuchung feststellt, dass vermutlich eine andere psychische Störung dahintersteckt, hat sie es oft mit einem entrüsteten Gegenüber zu tun. „Manche versuchen sogar zu verhandeln“, erzählt sie.

Auch bei Menschen, die für eine Zweitmeinung überwiesen werden, bestätigt sich in der Hälfte der Fälle der Autismus-Verdacht nicht. Oft stecken weniger populäre Erkrankungen wie Schizophrenie oder schwere Persönlichkeitsstörungen dahinter. Eine Ursache für falsche Befunde ist laut Ehrenreich auch ein anderes Leiden unserer Epoche: „Den Ärztinnen und Ärzten fehlt vor lauter Formularen und Fallpauschalen einfach die Zeit für eine gründliche Diagnose.“


Quellen:

  • Dr. Beate Schumacher: Fehldiagnose Lyme-Borreliose: Was sich alles dahinter verbirgt, Fehlydiagnose Lyme-Borreliose. Spinger Medizn: https://www.springermedizin.de/... (Abgerufen am 22.03.2022)
  • DAK: DAK Psych-Report 2021, Entwicklungen der psychischen Erkrankungen im Job: . DAK : https://www.dak.de/... (Abgerufen am 28.03.2022)