Logo der Apotheken Umschau

Wenn Urwaldriesen fallen, tropischer Regenwald Sojafeldern und Palmölplantagen weicht, gibt es schon früh Verlierer. Wie Marmosops incanus. Das kleine Opossum mit den großen schwarzen Augen lebt hoch oben in den Kronen der Bäume und zählt zu den Spezia­listen im Urwald. Das heißt: „Sie reagieren sehr sensibel, wenn sich ihre Umwelt verändert“, erklärt Professorin Simone Sommer vom Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik der Universität Ulm.

Zwei Drittel aller Infektionskrankheiten sind Zoonosen

Die Biologin hat in verschiedenen Teilen der Welt untersucht, was passiert, wenn der Mensch die Natur verändert. „Überall dasselbe Bild“, sagt sie. Während die sogenannten Spe­zialisten rasch verschwinden, gibt es stets auch Gewinner mit weniger delikaten Ansprüchen. Stachelratten etwa. Sie vermehren sich rasant, rücken dem Menschen immer näher und mit ihnen unsichtbare Gefahren. „Die Tiere beherbergen oft Trypanosomen, einzellige Blutparasiten“, sagt Sommer. Raubwanzen übertragen sie.

Zoonosen, so nennt man Krankheiten, die bei Tieren und Menschen vorkommen. Etwa zwei Drittel aller Infektionen gehören dazu, bei den neu auftretenden haben mehr als drei Viertel ihren Ursprung in Wildtieren. Pest, Pocken und Grippe, Aids, SARS und jetzt Covid-19: Die Liste der Erkrankungen ist lang, die vom Tier auf den Menschen übergegriffen haben – vor Hunderten von Jahren oder erst in jüngster Zeit. Und sie wird rasch länger.

Experten sind überzeugt: Die Zahl der Zoonosen steigt. Unter Menschen wie unter Wildtieren. Darunter zunehmend mehr neuartige Erreger, die zum ersten Mal den sogenannten Spill­over geschafft haben: den Sprung von einer Art auf die andere.

Vom Tier zum Mensch: So werden Zoonosen übertragen

Wer ist schuld?

Schuld daran sind für Biologin Sommer vor allem wir selbst und unser Umgang mit der Natur. „Krankheitserreger sind keine Geißel der Menschheit“, erklärt sie. Sie bilden einen wichtigen Teil jedes Ökosystems und halten es stabil – wie Löwen die Zahl der Antilopen. Dabei passen sich Wirt und Erreger im Lauf der Zeit einander an. Fledermäuse etwa erkran­ken meist selbst nicht mehr an den Coronaviren, die sie in sich tragen.

Doch der Mensch zerstört dieses Gleichgewicht. Er dringt in Regenwälder vor und trifft dort auf Tiere, die zuvor isoliert von ihm lebten. Er fängt Affen, Wildkatzen, Fledermäuse, isst ihr Fleisch und verkauft sie auf Märkten – wo sich Arten begegnen, die in der Natur nie in Kontakt kämen. Vielen Tieren raubt er die Lebensgrundlage und zwingt sie, Nahrung in Menschennähe zu suchen. „So kam es etwa zur Übertragung des Nipah-Virus“, berichtet Sommer.

Flughunde fraßen an Früchten, deren Reste wiederum Schweine oder Pferde verspeisten. Sie steckten sich an und infizierten Menschen, bei denen der Erreger tödliche Hirnhautentzündungen auslösen kann.

Einfluss auf die Entstehung von Zoonosen hat auch das Artensterben. „Wenn die Vielfalt schwindet, ist das nicht, wie wenn man ein paar Karten aus einem Spiel zieht und sagt: Du bist weg!“, erklärt Sommer. Das ganze Ökosystem gerät ins Wanken. Anpassungsfähige Arten nehmen explosionsartig zu – und damit oft die Erreger in ihnen.

Das erhöht die Gefahr für den Menschen. Denn wenn Viren sich vermehren, verändern sie sich. „Sie mutieren von Natur aus“, sagt Sommer. Wir tragen dazu bei, dass sich das Tempo erhöht. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass zum Beispiel eines der winzigen Eiweiße, die auf der Oberfläche von Viren sitzen und diesen den Weg in die Zellen des Wirts öffnen, plötzlich beim Menschen passt. Oft bleibt es zunächst bei vereinzelten Übertragungen. Lernt der Erreger zudem, sich effizient von Mensch zu Mensch zu verbreiten, wächst die Bedrohung.

So verbeiten sich Zoonosen

Als Überträger kommt prinzipiell ­jede Tierart infrage. Doch machen einige besonders häufig Schlagzeilen. Ebola, Marburg und jetzt Covid-19 – alle haben ihren Ursprung höchstwahrscheinlich in Fledermäusen. Ein Grund dafür ist schlicht deren große Zahl. „Unter den rund 5500 Säugetierarten gehören etwa 1400 zu den Fledertieren“, sagt Sommer. Zudem sind sie extrem mobil und leben in riesigen Kolonien, die – wie menschliche Städte – Erregern beste Bedingungen bieten. Ähnliches gilt für die größte Säugetierordnung: die Nager.

Kommt es zu einem Zoonosen-Ausbruch, weitet sich dieser heute häufig deutlich schneller aus als noch vor wenigen Jahrzehnten. Denn Menschen sind inzwischen mobiler als jede Fledermaus. Sie sitzen am einen Tag an einem Urwaldfluss in Afrika, am nächsten in einem Fußballstadion einer Großstadt. Und verteilen so die Erreger über den Globus.

Doch reisen nicht nur Menschen. Das Forschungsinteresse Dr. Helge Kampens gilt Überträgern von Überträgern, die oft als blinde Passagiere unterwegs sind: Stechmücken. „Eine große Rolle spielt der internationale Gebrauchtreifenhandel“, sagt der Forscher, der am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) das deutsche Stechmücken­monitoring leitet.

Bei der Lagerung der Reifen sammelt sich in ihnen Wasser, über das Mücken der Gattung Aedes ihre Eier legen. Zu ihnen gehört die Asiatische Tigermücke. Regnet es am Ziel erneut, schlüpft deren Nachwuchs. „In Südeuropa gibt es bereits größere stabile Populationen“, berichtet Kampen. Die Tiere fliegen dann zum Beispiel in einen Lkw und reisen über die Alpen.

Bislang schwirrt die Tigermücke nur vereinzelt im Süden Deutschlands herum. Doch das könnte sich ändern. Ausbrüche mückenübertragener tro­pischer Erkrankungen würden dann auch hierzulande wahrscheinlicher. Kampen: „Die Tigermücke kann mehr als 20 verschiedene Viren von Mensch und Tier übertragen.“

Wie das West-Nil-Fiber nach Deutschland gelangte

Zum Beispiel den Erreger einer Zoonose, die 2019 erstmals in Deutschland den Weg vom Tier zu uns schaffte: das West-Nil-Fieber. Das Virus reiste wohl mit Zugvögeln ein. An ihnen labten sich Steckmücken. Als Überträger im Visier haben Forscher aber nicht die Tiger-, sondern eine Variante der Gemeinen Hausmücke.

Sie ist bei der Quelle ihrer Blutmahlzeit wenig wählerisch. „Wir wussten, dass sie das West-Nil-Fieber-Virus übertragen kann“, sagt Kampen. Doch war dies hierzulande nie passiert. Warum ausgerechnet jetzt? Der Grund dafür könnten die warmen Sommer sein. Denn hohe Temperaturen lassen die Erreger in der Mücke gedeihen.

Doch gehen neue Seuchen nicht nur von Wildtieren aus. So bereitet Wissenschaftlern wie Kampen die Ausbreitung des Rifttalfiebers Sorgen, das in Afrika nordwärts wandert. Noch hat es den Sprung über das Mittelmeer nicht geschafft. Erwärmt sich das Klima weiter, scheint das aber nur eine Frage der Zeit. Der Erreger wird von Mücken übertragen, die hierzulande heimisch sind, und kann tödlich sein – bei Wiederkäuern und Menschen.

Wäre dies der Fall, hätte Professor Thomas Mettenleiter wohl jede Menge zusätzliche Arbeit. Er ist Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts, das sich vor allem der Erforschung von Infektionskrankheiten unserer heimischen Nutztiere widmet. Hier gibt es durchaus Erfolge zu berichten.

Wie Massentierhaltung die Entstehung neuer Viren begünstigt

So sind durch konsequente Bekämpfung einige einst verbreitete Zoonosen verschwunden. „Die Hygienestatus in den Nutztierbeständen ist so gut wie nie zuvor“, erklärt der Biologe. Kein Landwirt muss heute Angst haben, sich mit Rindertuberkulose anzustecken, kein Pferdebesitzer mit dem früher oft tödlichen Rotz. „Seit Geflügel gegen Salmonellen geimpft wird, sind die Infektionen beim Menschen stark zurückgegangen“, so Mettenleiter.

Dennoch keimen auch in heimischen Ställen Gefahren. Etwa in Form neuer Grippeviren. Als „Mischgefäß“ für gefährliche Erreger gilt eines der häufigsten Nutztiere: das Schwein. Es wird oft von menschlichen Grippeviren angesteckt, zudem von solchen aus Vögeln. Infizieren zwei unterschiedliche Erreger dieselbe Zelle, kann sich das Virus neu formieren.

„Dass das auch bei uns passiert, haben unsere Forschungen gezeigt“, berichtet Mettenleiter. Es kann ein Erreger mit Eigenschaften entstehen, auf die das menschliche Immunsystem schlecht vorbereitet ist. In Ställen, wo viele Tiere zusammengepfercht leben, vermehrt es sich rasant. Chinesische Virologen haben in Schweinebeständen jüngst einen neuen Subtyp des Virus H1N1 entdeckt. Auch er besitzt vermutlich das Potenzial, eine Pandemie zu verursachen.

Kampf gegen neue Pandemien

Sei es von einem Stall in Europa aus oder einem Tiermarkt in Asien: Dass ein Virus aus dem Tierreich irgendwann eine Pandemie auslösen würde, bezweifelte kaum ein Experte. Die Frage war nur: Welcher würde es sein? „Längere Zeit war der Top-Kandidat die Vogelgrippe“, sagt Professor Gerd Sutter, der am veterinärmedizinischen Institut der Ludwig-Maximilians-Univer­sität München an neuen Impfstoffen forscht. Dann überraschten SARS und die Schweinegrippe die Virologen.

Als 2014 auch noch ein verheerender Ebola-Ausbruch in Westafrika Tausende Tote forderte, beschloss die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu handeln. Eine weltweite Initiative, Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), wurde gegründet, um eine Art Rüstungsprogramm zu starten. Auf ihrer Liste standen Erkrankungen mit Pandemie-­Potenzial: Ebola, Marburg, Krim-Kongo-, Lassa-, Nipah- und Rifttalfieber, zudem die von Coronaviren hervorgerufenen Krankheiten MERS und SARS.

Gefährliche Erreger aus dem Tierreich. Bedrohliche Infektionen lauern nicht nur in der Ferne

Gefährliche Erreger aus dem Tierreich. Bedrohliche Infektionen lauern nicht nur in der Ferne

Auch in Deutschland kann man sich bei Tieren anstecken

Auch in Deutschland kann man sich bei Tieren anstecken

Forschungseinrichtungen weltweit beteiligten sich daran, eine Abwehr gegen die bekannten Erreger zu entwickeln. „Man forscht an Impfungen und spezifischen Medikamenten“, sagt Sutter. Doch war klar: Die Bedrohung könnte auch von einer Disease X ausgehen – einer Erkrankung, deren Erreger niemand im Fokus hat.

„Bei Covid-19 hatten wir das Pech, dass genau das passiert ist“, so Sutter. Wäre das neue Virus MERS gewesen, ein von Dromedaren übertragenes ­Coronavirus, hätte ein Impfstoff bereitgestanden. Doch war die Arbeit der CEPI nicht umsonst. Neue Technologien zur Impfstoffentwicklung entstanden, auf die jetzt schnell zurückgegriffen werden konnte. „Die Entwicklung verlief in Rekordzeit“, erklärt Sutter.

Was wir aus Corona lernen können

Dennoch sollte man aus Covid-19 Lehren ziehen. „Wir müssen lernen, mit dem Auftreten neuer Erreger zurechtzukommen“, so Sutter. Durch die Entwicklung rasch anpassbarer Methoden zur Impfstoffherstellung, zudem durch Medikamente, die breit gegen Viren einsetzbar sind. Entscheidend ist für FLI-Präsident Mettenleiter überdies Früherkennung. „Infektionsherde müssen schnell entdeckt und eingedämmt werden.“

Für Biologin Sommer greifen diese Maßnahmen zu kurz. Um sich gegen neue Erreger zu wappnen, fordert sie, an den Ursachen anzusetzen: „Artenschutz muss den nötigen Stellenwert bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bekommen.“

„Die Natur hat uns eine Nachricht geschickt“

„One Health“ heißt das Konzept, mit dem auch die WHO Zoonosen bekämpfen will. Im Zentrum steht nicht allein die Gesundheit des Menschen, sondern auch die der Tiere, ihrer Umwelt. Letztlich des Ökosystems Erde.

„Die Welt steht an vielen Kipp-Punkten“, meint Sommer. Wenn wir weiter Urwälder für Futtersoja roden, nur um täglich billiges Fleisch auf dem Teller zu haben; wenn wir die Umwelt zerstören, die Vielfalt vernichten, schaden wir uns selbst. „Die Natur hat uns eine Nachricht geschickt“, sagt Sommer. Jetzt komme es darauf an, dass wir sie verstehen. Und handeln.

Weitere Informationenzu Infektionskrankheiten

Aktuelles zum Thema Covid-19 und zu anderen Infektionen gibt es bei der nationalen Forschungsplattform für Zoonosen:  www.zoonosen.net