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Bernd Klinkhammer*, nennt sich in Bezug auf Corona „supervorsichtig, von Anfang an“. Bei keiner Feier, in keinem Biergarten und noch nicht mal bei der Hochzeit eines Fußballkumpels war er im vergangenen Jahr zugegen. Und doch hat er sich letztendlich irgendwo angesteckt. Ich hatte Glück im Unglück, dachte er zunächst: Die Covid-Infektion zeigte sich durch einen sogenannten „milden Verlauf“. Zwei Wochen blieb der 38jährige Verwaltungsbeamte im Dezember im Schlafzimmer der gemeinsamen Wohnung von der Partnerin isoliert. Mit Atemproblemen und einem nicht definierbaren Druckgefühl im oberen Brust- und Halsbereich. Auch der für die Infektion typische Geschmacks- und Geruchsverlust trat ein, verschwand aber nach zwei Tagen wieder.

In der dritten Woche saß Klinkhammer, der derzeit im Home-Office tätig ist, wieder am Schreibtisch. Auf den Beinen war er noch etwas wackelig, fühlte sich insgesamt noch nicht vollständig wiederhergestellt. Vor allem nachts und in Ruhephasen bemerkte er weiter Probleme beim Durchatmen. Aber was war das schon gegen das, was man so im Fernsehen sah? Was in Anbetracht der Krankenhausbilder und einer Krankheit, die tödlich verlaufen kann?

Ein Gefühl völligen Verlassen-Seins

Glück gehabt – Mittlerweile kommt diese Einschätzung nur noch von Außenstehenden. „Milder Verlauf hin oder her“, sagt Klinkhammer: „Was ich erlebt habe, war die Hölle.“ Angefangen vom Testergebnis - der Beginn einer ungewissen Zeit: Wie schwer würde es ihn treffen? - über dieses Gefühl des völligen Verlassen-Seins - „nie zuvor bin ich zwei Wochen lang ganz alleine in einem Zimmer gewesen“ - bis hin zu Momenten der Panik, weil der Brustkorb schwer war und ihm keiner sagen konnte, wie schwer er vielleicht noch werden würde.

Einige Wochen nach Ende der Quarantäne passierte es. „Wie aus dem Nichts kam die Panik zurück. Ich überprüfte hastig, in wie weit ich noch riechen konnte. Ich hörte auf mein Herz. Schlug es regelmäßig oder galoppierte es wieder? Und was war mit der Atmung? Hatte sich diese wieder unbemerkt beschleunigt?“ Die Kurzatmigkeit könne noch eine ganze Weile andauern, hat der Arzt gesagt. Aber war das wirklich normal, dass er beim Treppensteigen pausieren musste? War das normal, dass er manche Nächte nicht mehr durchschlief? Manchmal wacht Bernd Klinkhammer neuerdings schweißgebadet auf. Er macht dann Spaziergänge durch die Nacht, um sich zu beruhigen.

Nach Monaten noch unruhig, ängstlich und nervös

Zwischenzeitlich sind zweieinhalb Monate vergangen und auch wenn Bernd Klinkhammer körperlich zwar noch nicht wieder „bei hundert Prozent ist“, so will er doch nicht klagen: „Ich merke täglich Fortschritte“. Mit der Psyche ist es eher das Gegenteil, so der passionierte Fitnessstudiogänger, der bis zu seiner COVID-Erkrankung „ein seelisch stabiler Mensch“ gewesen sein will.

„Jetzt habe ich permanent das Gefühl, am Limit zu sein. Ich bin unruhig und schreckhaft, leide unter Nervosität und Angst vor wiederkehrenden Symptomen.“ Die schlimmste Angst ist aber die vor einer Re-Infektion. Die Freundin, die zum Arbeiten das Haus verlässt und im Job Kundenverkehr hat, braucht sich nur zu räuspern und Bernd Klinkhammer tritt drei Schritte zurück. Steck mich nicht an, denkt er dann. Noch mal durchmachen, was er erlebt hat - das ist so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen kann.

Körperliche und psychische Erschöpfung

Die Trauma-Expertin und psychologische Psychotherapeutin Dr. Marion Koll-Krüsmann hat in den vergangenen Monaten mit zahlreichen Menschen gesprochen, denen es ähnlich wie Bernd Klinkhammer geht. Sie waren an Covid-19 erkrankt und leiden seelisch. Anders als der 38jährige bringen dabei aber längst nicht alle ihr Befinden mit der überstandenen Erkrankung in Zusammenhang. Ich fühle mich erschöpft, sagen viele. Oder: Ich bin nicht mehr so belastbar. Was sowohl körperlich oder auch psychisch bedingt sein kann.

Trauma-Expertin Dr. Marion Koll-Krüsmann

Trauma-Expertin Dr. Marion Koll-Krüsmann

Vor gut 20 Jahren hat Dr. Marion Koll-Krüsmann die Traumaambulanz an der LMU München mit aufgebaut. Sie hat zahlreiche Forschungsprojekte zur Prävention von Traumafolgestörungen konzipiert und durchgeführt, im Zusammenhang mit Einsatzkräften oder Geflüchteten etwa. Heute ist die Psychologin fachliche Leiterin bei PSU akut, einen gemeinnützigen Verein, der Menschen im Gesundheitswesen im Umgang mit psychischen Belastungen durch Expertinnen unterstützt, auch durch eine kostenlose und anonyme Telefonberatung für alle im Gesundheitswesen Tätige.

Viele traumatisierte Menschen unter Medizinpersonal

Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit in der Corona-Krise sind Interventionen und Präventionsmaßnahmen auf Intensivstationen von Krankenhäusern und in Altersheimen. Ärzte, Schwestern und Pfleger, die mit dem Erlebten alleingelassen sind, erlebt sie täglich. Weil Corona-Infektionen gerade in Gesundheitsberufen besonders häufig sind, erlebt sie dort auch die Patientenseite. „Da sitzt man in einer Beratung und ist gerade dabei, die erlebte Hilflosigkeit der Helfer zu thematisieren. Und dann sagt jemand: ich habe diese Krankheit selbst hinter mir… es wäre gut, wir könnten an dieser Stelle nicht nur über den Umgang mit der beruflichen Überforderung, sondern auch über meine persönliche Belastung reden.“

Im weiteren Erzählen kommen dann ähnliche Schilderungen wie die von Bernd Klinkhammer. Und zwar ganz unabhängig von der Schwere der Erkrankung, betont die Fachfrau. Dass Patienten, die im künstlichen Koma waren, häufig mit Ängsten und Angstzuständen reagieren, ist schon länger bekannt. Immer wieder berichten Betroffene von quälenden Erinnerungen an die Aufwachphase. Es war schrecklich, in einer Art Dämmerzustand so manches mitzubekommen, dabei aber komplett ausgeliefert zu sein, sagen sie.

Erlebte Unterstützung kann entscheidend für Traumafolgen sein

Dass ähnliche Empfindungen nach vergleichsweise leichten Covid-Verläufen geschildert werden, mag zunächst überraschen. „Traumafolgestörungen treten nach Ereignissen ein, bei denen es um Leben oder Tod gegangen ist“, erklärt Marion Koll-Krüsmann. Covid-19 als besonders bedrohlich erscheinende Krankheit kann ähnliche Reaktionen auslösen.

Was viele nicht wissen und was oft missverstanden wird: Ein Trauma ist zunächst die Bezeichnung für ein besonders schwerwiegendes Ereignis, nicht mehr. Man sitzt zum Beispiel in der Straßenbahn und erlebt, wie ein Mensch über die Straße läuft und von der Bahn erfasst wird und stirbt. Ob sich in der Folge des Erlebten eine Störung entwickelt, man also „traumatisiert“ ist, wie es umgangssprachlich heißt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wird das Geschehene verdrängt, weil man im Alltag weiter funktionieren will? Oder erinnert man sich bewusst und berichtet auch anderen davon? Erhält man Unterstützung oder ist man mit dem Ereignis und den Auswirkungen allein? Dies alles macht einen entscheidenden Unterschied.

Häufigste Folgestörung ist das posttraumatische Belastungssyndrom

Längst weiß die Forschung, dass Menschen an seelisch belastenden Erlebnissen nicht zerbrechen müssen. Im Gegenteil: Der Aspekt des so genannten posttraumatischen Wachstums gewinnt in Fachkreisen mehr und mehr an Beachtung. Tatsächlich können Traumata Menschen auch stark machen, weiß Koll-Krüsmann, die es grundsätzlich vermeidet, von „Opfern“ zu sprechen. Lieber verwende sie den Begriff Betroffene: „Opfer sind hilflos. Betroffene können ihr Schicksal in die Hand nehmen.“

Eine Traumafolgestörung kann sich als Angststörung äußern oder auch als Depression. Die mit Abstand häufigste Traumafolgestörung ist jedoch das so genannte posttraumatische Belastungssyndrom, kurz: PTBS. Typisch für dieses Syndrom sind wiederkehrende und quälende Erinnerungen, ein Zustand der Übererregung (Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Nervosität, Überwachsamkeit und Aggressionen), eine veränderte Stimmung und veränderte Gedanken sowie Vermeidungsverhalten.

Auch psychosomatische Erkrankungen kommen vor

Häufig kommt es darüber hinaus zu psychosomatischen Erkrankungen. Deren Entstehung erklärt Marion Koll-Krüsmann in ihren Fortbildungen so: Die Auseinandersetzung wird mittelfristig vermieden, die belastenden Gefühle sind aber weiterhin da. In den ersten Wochen nach einem Ereignis ist es wichtig, innerlich auf Abstand zum Erlebten zu gehen, um sich zu beruhigen. Dann aber wird die Auseinandersetzung wichtig. Geschieht diese nicht, bleiben die Gefühle wie verschlossen in einem Bereich des Gehirns: Im Mandelkern, von Medizinern Amygdala genannt. Über diesen Bereich kann der vermiedene emotionale Schmerz – vereinfacht - direkt in den Körper gehen. Er äußert sich als Kopf- oder Rückenschmerzen, über das Herzkreislaufsystem oder die Verdauungsorgane, manch einer reagiert über die Haut oder ein überaktives Immunsystem.

Immerhin: Der 38-jährige Klinkhammer ahnt, dass die Veränderung etwas mit der Covid-Infektion zu tun haben könnte. Das ist bei einigen Patienten, mit denen Marion-Koll-Krüsmann gesprochen hat, nicht der Fall. Sie sagen Dinge wie: Ich hatte vier Wochen lang diese Infektion, jetzt muss es wieder gehen. An den Interventionen teilnehmende Ärzte bestätigen: Viele Post-Covid-Patienten gestehen sich zu wenig Erholungs-Zeit zu.

Körperliche Langzeitfolgen beeinflussen die Psyche

Du hast Glück gehabt… Das mag im Vergleich zu den Schwerstverläufen ja auch stimmen, sagt Bernd Klinkhammer. Und dass man dann manchmal fast ein schlechtes Gewissen hat, wenn man kundtut, dass man selbst täglich mit den Folgen der Erkrankung zu kämpfen hat. Marion Koll-Krüsmann sagt: „Wo ein belastendes Ereignis wie eine COVID-Infektion runtergespielt wird, wächst die Gefahr der Verdrängung und damit einer Traumafolgestörung.“

Und noch etwas anderes trägt aus ihrer Sicht dazu bei, dass Menschen nach Covid einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, eine solche Störung zu entwickeln: Viele Erkrankte haben auch Monate nach der Infektion mit Folgeschäden zu tun. Das heißt: Sie sind nicht nur in der Erinnerung mit der Krankheit konfrontiert, sondern ganz konkret. „Die wiederkehrenden Beschwerden, auch wenn sie abgemildert sind, können wie ein erneutes Erleben der Erkrankung wirken.“

Betroffene sollten sich Zeit für Erholung nehmen

Was können die Betroffenen tun? Gnädig mit sich sein, sagt die Trauma-Expertin. Sich Zeit geben. Sich jeden Tag etwas Schönes vornehmen, um den Kreislauf der negativen Gedanken und belastenden Gefühle zu durchbrechen. Das allerwichtigste aber neben solchen eher allgemeinen Tipps für eine gute Psychohygiene ist jedoch etwas Anderes. Es ist etwas ist einem erschüttert worden, durcheinandergeraten, und das will wieder sortiert werden.

Vom „Bilden eines Narrativs“ sprechen Fachleute und meinen damit, dass das Erlebte wie eine Geschichte erzählt wird, die möglichst viele Details des Erlebten mit bedenkt. Nicht nur die Angst, der Schrecken, die Hilflosigkeit also. Sondern vielleicht auch: Die Scham, weil man sich fragt, ob man übertreibt.

Erinnerungen aufarbeiten

Welche Bilder sehe ich, wenn ich an das Ereignis zurückdenke? Auch diese Frage ist wichtig. Je konkreter die Erinnerung, desto besser. Bilder sind ein Leitsymptom der posttraumatischen Belastungsstörung, wissen Trauma-Experten: Betroffene, die das Erlebte nicht verarbeitet haben, werden wieder und wieder von ihnen eingeholt. Rettungskräfte sehen dann zum Beispiel den toten Körper des Menschen, dem man nicht helfen konnte. Der ehemals an Covid-Erkrankte hat vielleicht das Zimmer vor Augen, in dem er lag. Oder Geräusche im Ohr, die sich damals vor der Tür abspielten. Klinkhammer holt oft die Erinnerung an den schrecklichen Moment ein, als er an Heiligabend den Rotkohl samt Knödel und Ente nicht mehr schmecken konnte, kurze Zeit später war der Geruch mit einem Mal vollständig erloschen.

Es handele sich um einen verbreiteten Irrtum, dass solche oft völlig unvermittelt auftretenden Erinnerungssequenzen ein Leben lang bleiben und die Betroffenen unausweichlich quälen und belasten, sagt die Expertin. Entscheidend für eine gelungene Aufarbeitung sei, ob die verselbständigten Bilder und Emotionen die Chance bekommen, eine neue Ordnung zu finden. Ob sie sozusagen vom diffusen ins episodische Gedächtnis „umziehen“ dürfen: „In Schulungen sage ich manchmal: Stellen Sie sich das episodische Gedächtnis vor wie einen Apothekerschrank, mit ganz vielen Schubladen. Das Einordnen in diese Schubladen hilft dabei, Kontrolle zu gewinnen.“

Sich Hilfe holen

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, hierbei Unterstützung zu finden. Auf einen Therapieplatz muss man zwar tatsächlich mitunter länger warten. Doch schon das ausgiebige Gespräch mit der Freundin oder dem Freund kann helfen. Außerdem finden Sie hier professionelle Anlaufstellen bei Krisen. Beinahe wichtiger als die Reflexion des Gegenübers ist dabei das Erzählen selbst. Denn allein durchs Reden entsteht so etwas wie Struktur.

„Auch die Trauma-Ambulanzen der Unikliniken und Universitäten und die Koordinationsstelle der kassenärztlichen Vereinigung sind gute Anlaufstellen für Menschen mit Traumafolgestörungen“, sagt Marion Koll-Krüsmann. Hier erfolgen die Beratungen vor Ort, oft gibt es aber Wartezeiten. Ganz wichtig: „Erwähnen Sie schon am Telefon, dass sie bestimmte Bilder nicht mehr loswerden“, so die Trauma-Expertin. „Dann können die Kollegen den Hilfebedarf besser einordnen.“

Der Verein PSUakut e.V. bietet außerdem über die Telefonnummer 0800 0 911912 für alle im Gesundheitswesen Tätigen Gespräche mit Kollegen an, also mit Pflegekräften und Ärzten. Bei Bedarf gibt es auch bis zu fünf kostenfreie Gespräche mit einer Psychotraumatologin. „Meist ist das Pensum ausreichend“, sagt Marion Koll-Krüsmann.