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Herr Lauterbach, in welchem Moment ist Ihnen das Ausmaß der Corona-Pandemie bewusst geworden?

Zwischen 23. und 26. Februar 2020. Ich habe in Amerika, in Boston, im Rahmen einer Gastprofessur, Vorlesungen gehalten. Dort habe ich mich mit amerikanischen Epidemiologinnen und Epidemiologen ausgetauscht. Im Laufe eines Gesprächs ist mir klar geworden, dass diese Pandemie nirgendwo stoppen wird, dass sie die ganze Welt betreffen wird.

Warum?

Es gab weltweit keine Immunität. Die Voraussetzungen, dass das Virus lokal gestoppt werden könnte, waren nicht gegeben.

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Nachgefragt! bei Prof. Dr. Karl Lauterbach

Neben der Impfstrategie spielt auch die Teststrategie eine große Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie. Wie diese aussehen könnte, erklärt uns der Epidemiologe und Politiker Prof. Dr. Karl Lauterbach zum Artikel

Es gab dann, um diese Ausbreitung zu stoppen, viele Beschränkungen. Wie sind Sie damit umgegangen?

Natürlich hat es für mich eine große Rolle gespielt, ständig Masken tragen zu müssen oder nicht mehr ins Restaurant gehen zu können. Ich habe auch darunter gelitten, Freunde nicht mehr sehen und nicht mehr in Innenräumen Sport treiben zu können. Aber all diese Beschränkungen sind mir wahrscheinlich weniger schwergefallen, weil ich sie mitveranlasst habe und ihren Sinn klar erkennen konnte.

Wie finden Sie Ihre Rolle als Erklärer und Mahner der Pandemie – und wie kam es überhaupt dazu?

Ich habe eigentlich nicht nur gemahnt. Ich habe immer Ratschläge gegeben, was man machen könnte. Zum Beispiel, dass wir Produktionskapazitäten für Impfstoffe aufbauen müssen. Die Frage ist: Ist das eine Mahnung? Das ist eher ein Hinweis darauf, dass wir ein Problem haben. Dass ich den Ruf des Mahners bekommen habe, ist passiert, weil mich bestimmte Medien ganz gezielt so dargestellt haben.

Sie werden in Ihrer Rolle mit viel Hass und Bedrohung konfrontiert. Haben Sie mit diesem Ausmaß gerechnet?

Nein, überhaupt nicht. Es gab und gibt Menschen, die mich und meine Familie bedrohen, zu Gewalt aufrufen, Morddrohungen artikulieren, meine Wohnung mit Farbe oder Steinen bewerfen, mein Auto attackieren und mich direkt beleidigen, auch wenn ich mit meiner Tochter unterwegs bin. Das hat ein gravierendes Ausmaß angenommen. Zuerst habe ich versucht, das alleine in den Griff zu bekommen. Irgendwann ist das dann Gegenstand von Ermittlungen geworden, Schutzmaßnahmen wurden ergriffen.

Sie lesen jeden Tag viele, viele Studien. Wie und wann schaffen Sie das?

Epidemiologie ist eine Leidenschaft von mir. Ich bin geübt darin, auch neben meiner Arbeit, diese Studien zu lesen. Seit Corona auftauchte, hatte das plötzlich große Relevanz.

Man hatte manchmal den Eindruck, dass gute Vorschläge von Ihnen nicht umgesetzt worden sind.

Nein, das war nicht so. Ich wurde mehr gehört, als ich erwartet hatte. Viele der Vorschläge, die ich im Hintergrund gemacht habe, sind auch aufgegriffen worden.

Die Coronakrise hat ja gezeigt, dass fachliche Expertise extrem wichtig ist. Wird sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik durch die Coronakrise ändern?

Hoffentlich! Meine persönliche Überzeugung ist die: Wenn sich das Verhältnis nicht ändert, dann werden wir zum Beispiel die Klimakrise – zumindest was den deutschen Anteil angeht – nicht lösen können. Der wissenschaftliche Diskurs muss hier sehr viel unmittelbarer in die Politik einwirken.

Wäre es von Vorteil, wenn auch mehr Politiker mit wissenschaftlichem Hintergrund in den Bundestag einziehen?

Auf jeden Fall. Wir haben sehr viele Bundestagsabgeordnete, die nebenher eine Anwaltskanzlei betreiben – zum Teil übrigens mit großem wirtschaftlichen Erfolg. Aber was wir zu wenig haben, sind Wissenschaftler, die nebenher weiter wissenschaftlich arbeiten. Und das fände ich wichtig. Deshalb habe ich meine Gastprofessur an der Harvard School of Public Health immer weiter gemacht. Übrigens ohne Geld dafür zu nehmen.

Zurück zur Pandemie: Was hätte aus heutiger Sicht anders laufen müssen?

Wir hätten in der zweiten Welle konsequenter und eher in den Lockdown gehen müssen. Da sind uns ein paar zehntausend Menschen unnötigerweise gestorben. Wir sind ja insgesamt gut durch die Pandemie gekommen, aber die zweite Welle war kein Erfolg, auch weil manche Wissenschaftler Ausnahmepositionen vertreten haben, etwa dass man keinen zweiten Lockdown brauche, weil das Virus harmloser geworden sei.

Was war noch ein Fehler?

Wir hätten in Europa größere Produktionskapazitäten für Impfstoffe aufbauen müssen. Die europäische Lösung der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung war grundsätzlich richtig, dennoch war sie zu billig, zu langsam und zu unterdimensioniert. Wir hätten auch gleich Kapazitäten für ärmere Länder mitaufbauen müssen.

Was lernen Sie noch für die Zukunft?

Wir brauchen ein Monitoring-Zentrum in Deutschland, das im Blick hat, ob eine Pandemie auf uns zukommt. Eine Arbeitsgruppe muss auch jederzeit in der Lage sein, Impfstoffe zu entwickeln mit staatlicher Hilfe. Zudem benötigen wir einen wissenschaftlichen Beirat, der auch in Nicht-Krisenzeiten stetig die Regierung zu Pandemiegefahren berät, aber unabhängig von ihr ist. Das ist noch etwas anderes als das Robert Koch-Institut, was ja weisungsgebunden ist.

Kinder haben besonders gelitten in der Pandemie: Hätte man Schulen wirklich so lange dicht machen müssen?

Was möglich gewesen wäre – und dafür habe ich auch immer plädiert – früher zu der Kombination aus Testen – zweimal die Woche –und Wechselunterricht überzugehen. Das ist tatsächlich ein Punkt, bei dem ich mich leider nicht durchsetzen konnte. Schulen hätte man so viel länger offenlassen können.

Aber die Tests waren ja am Anfang gar nicht verfügbar.

Wenn wir Tests intensiver nachgefragt hätten, wären sie auch früher verfügbar gewesen. Die Selbsttests sind lange auch deshalb nicht zugelassen worden, weil das RKI die Sorge hatte, dass dann die Gesundheitsämter nicht mehr informiert werden. Und dass die Leute, wenn sie sich selbst testen und positiv sind, vielleicht nicht in Quarantäne gehen.

Wir hätten die Kindertests auf jeden Fall früher haben können. Den Vorschlag mit der doppelten Testung an Schulen hatte ich schon Ende letzten Jahres gemacht. Aufgegriffen hat es dann die SPÖ in Österreich. Von dort ist die Idee nach Deutschland zurückgekehrt.

Was muss diesen Sommer passieren, damit wir im Herbst mit normalem Schulbetrieb starten können?

Wir impfen so viele Erwachsene wie wir können. Leider wird sich die Delta-Variante in Deutschland durchsetzen. Sie ist sehr ansteckend. Auch Kinder sind gefährdet. Ohne Selbsttests in Schulen wird es nicht gehen. Aber ich denke, man wird Unterricht ohne Masken und in regulärer Klassenstärke versuchen. Mal schauen, wie weit wir kommen.

Ich selbst würde es begrüßen, wenn mehr Kinder geimpft würden. Ich bin nicht der Meinung der Ständigen Impfkommission, dass Kinder keine Impfung brauchen, weil die Gefährdung durch die Impfung größer sein könnte als durch die Erkrankung. Gerade bei der Delta-Variante sehe ich das nicht so.

Glauben Sie, es wird irgendwann eine Impfpflicht geben?

Nein! Das würde ich auch selbst ablehnen – sowohl für Erwachsene als auch für Kinder.

Wann werden wir denn wieder Normalität haben?

Das dauert noch. Die Delta-Variante wird im Herbst noch eine Rolle spielen. Halbwegs normal wird es wohl erst nächstes Jahr. Aber irgendwann ist Covid natürlich eine reguläre Erkrankung. Allerdings wird es nie vergleichbar sein mit der Grippe. Covid-19 ist gefährlicher.

Aber es könnte sein, dass man sich jedes Jahr gegen Covid impfen lassen kann – wie gegen die Grippe.

Ich will jetzt nicht als Mahner rüberkommen, sonst widerspreche ich dem ersten Teil dieses Interviews. Aber zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir nicht, ob es nicht Mutationen geben wird, die gegen die gängigen Impfstoffe Durchbruchvarianten sind. Im Labor gibt es die schon.

Dieses sogenannten Escape-Varianten bewirken, dass das Virus den Antikörpern entkommt, die das Immunsystem durch die Impfung gebildet hat. Unsere bisher bekannten Impfstoffe würden also keinen Schutz bieten.

Sie haben vorhin dennoch gesagt, dass es ab nächstem Jahr wieder das Gefühl von Normalität gibt. Können Sie sich vorstellen, wieder in einem vollen Bundestag zu sitzen – ohne Abstand, ohne Masken und dass Sie Menschen die Hand geben?

Wenn die Impfungen wirken und die Kolleginnen und Kollegen alle geimpft sind, dann könnte ich mir das gut vorstellen.

Corona hat alles überschattet. Welche Herausforderungen sehen Sie denn noch für das Gesundheitswesen in der nächsten Zeit?

Wir werden in fünf bis zehn Jahren einen gravierenden Mangel an Ärztinnen und Ärzten haben. Das ist ein Thema für den Bundestag. Viele Medizinerinnen und Mediziner gehen in den nächsten Jahren in Rente. Zudem bilden wir zu wenige aus. Auch an Pflegekräften mangelt es. Gleichzeitig werden viele Menschen der geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit erkranken und Versorgung benötigen.

Wie steht es um die Qualität der Versorgung?

Wir brauchen eine bessere Qualität. Bei schwierigen Eingriffen, die viel Erfahrung und kompliziertes technisches Gerät benötigen, müssen wir weiter zentralisieren. Ich würde mir wünschen, dass jedes noch so kleine Krankenhaus jede Behandlung genauso gut machen würde wie die Spezialkliniken. Aber leider sind die Qualitätsunterschiede groß.

Das heißt: Kleine Kliniken müssen schließen?

Nein, sie können ja die Routineversorgung anbieten. Das ist wichtige Arbeit. Sie muss aber ausreichend vergütet werden. Das ist im Moment nicht der Fall.

Wie wichtig ist Ihnen denn nach wie vor die Bürgerversicherung, also eine gesetzliche Versicherung für alle?

Das ist ein Lebenstraum von mir. Die Qualität der Versorgung darf doch nicht davon abhängig sein, ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist. Deshalb ist eine Bürgerversicherung meiner Meinung nach aus ethischen Gründen geboten. Ich hoffe, dass das in der nächsten Legislatur eine Rolle spielt.

Könnten Sie sich denn vorstellen, in der nächsten Legislaturperiode Gesundheitsminister zu sein?

Ja! Ich habe mir das immer vorstellen können. Ich hoffe, dass ich diese Gelegenheit noch einmal bekomme.