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Was für eine beeindruckende Frau: groß, schlank, elegant. Doch Sophie von Stockhausen, 48, scheint etwas unsicher in diesem Moment. Sie weiß nicht genau, wo sie ist. Auf ihrem Weg zu unserer Verabredung war sie in die falsche Straße abgebogen, hat die Adresse nicht gefunden. Dabei hatten wir extra einen Treffpunkt gewählt, der ihr vertraut ist. Aber im grauen Berliner Tageslicht und mit fortgeschrittener Sehbeeinträchtigung sieht alles recht verwaschen aus.

Nach einem kurzen Anruf habe ich mich also auf die Suche nach ihr gemacht, sie am Ende der Straße entdeckt und bin ihr entgegengeeilt. Als wir uns gegenüber­stehen, müssen wir beide lachen. Gemeinsam gehen wir das letzte Stück zum Treffpunkt und scherzen darüber, wie wichtig es ist, einen ersten professionellen Eindruck zu hinterlassen. Wenige Minuten später sitzen wir in gemütlicher Atmosphäre zusammen, trinken Tee und schnaufen erst mal durch.

Ich habe bereits in den ­ersten Minuten unserer Begegnung eine Ahnung davon bekommen, welche Herausforderungen Sophie von Stockhausen täglich meistert. Ihr Leben ist ein Hindernislauf. Jedes Kabel, jeder achtlos platzierte E-Roller: eine Stolperfalle. Als sie vor 18 Jahren die Diagnose zu ihrer Augenkrankheit, einer „hereditären Netzhautdystrophie“, erhalten hatte, waren die Einschränkungen noch vergleichsweise gering. Heute liegt ihre Sehfähigkeit im rechten Auge bei fünf und im linken bei 18 Prozent, wenn die Lichtverhältnisse gut sind. „Im Dunkeln bin ich bereits blind!“, sagt sie.

Die Ursachen für Erblindung sind vielfältig

Es gibt ganz unterschiedliche Formen von Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Manche Menschen kommen blind zur Welt, andere erblinden im Kindesalter oder später. Die Ursachen reichen von Unfällen über ­Diabetes bis hin zu Nervenerkrankungen. Bei der Netzhautdystrophie von Sophie von Stockhausen handelt es sich um eine Erbkrankheit, eine Netzhautfehlbildung.

„Veränderungen in über 250 Genen können vererbbare Krankheiten der Netzhaut hervorrufen“, erklärt Professor Frank Holz, ­Direktor der Universitäts-Augenklinik Bonn. Die einzelnen Gendefekte seien sehr selten. Doch in Summe ergäben sie die Haupt­ursache für schweren Sehverlust im mittleren Alter. Wie eine Netzhautdystrophie verläuft, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Das hängt auch davon ab, in welchem Alter sie auftritt und entdeckt wird. Je später, desto milder, ordnet Frank Holz grob ein.

Was im Auge passiert: Gesundes Gewebe wird mehr und mehr zerstört. Das Sehvermögen verschlechtert sich über viele Jahre langsam und fortschreitend. In schweren Fällen erblinden Betroffene komplett. „Doch eine solche Prognose lässt sich in früheren Stadien nicht seriös abgeben“, sagt der Spezialist.

Neue Therapieansätze gegen Erblindung

Immerhin hat die Forschung einen großen Durchbruch erzielt. Erstmals gibt es eine zugelassene Gentherapie für Netzhautdystrophie, aber Holz schickt schnell hinterher: „Sie funktioniert nur für eine spezifische Mutation bei einem einzigen spezifischen Gen. Die anderen Gene kann man noch nicht behandeln.“ Entsprechend gibt es gegenwärtig noch keine Form der Heilung für die meisten an Netzhautdystrophie erkrankten Menschen – aber aufgrund laufender Forschung zumindest einen Lichtblick für kommende Generationen.

So lebensfroh und selbstbewusst Sophie von Stockhausen heute mit ihrer Krankheit auch umgehen mag: Es hat sie viel Zeit und Kraft gekostet, diese lebensverändernde ­Diagnose akzeptieren zu können. Damals war sie knapp 30. Davon, dass sie immer schlechter sehen würde, wollte sie die ersten Jahre nichts wissen. Auch ihr nahes Umfeld weihte sie lange nicht ein. Mit der Zeit wurde es für Sophie von Stockhausen immer anstrengender, den Schein zu wahren. Sie arbeitete damals für eine Berliner Modemesse und behalf sich zu Beginn mit größerem Monitor und ausladenden Plänen von Messeständen. Aufgrund ihrer Position als Managerin konnte sie gewisse Aufgaben delegieren.

Um einen durchschnittlichen, normalen Eindruck zu hinterlassen, musste sie maximal vorausdenken, vorausplanen, kalkulieren. Das alles kostete viel Energie. Abends war sie völlig erschlagen und fiel regelmäßig erschöpft ins Bett, während Freunde und Kolleginnen den Feierabend genossen.

Immer weniger sehen und gleichzeitig den Alltag meistern

Mit 36 wurde Sophie von Stockhausen schwanger. Eine langfristige Beziehung mit dem Vater des Kindes kam nicht infrage. Entsprechend war ihr klar, dass sie Augenkrankheit und Kind unter einen Hut bringen musste. „Ich war immer wahnsinnig wütend, wenn jemand meine mütterlichen Kompetenzen hinterfragt hat. Auf der anderen Seite wusste ich natürlich echt nicht, wie ich meinem Kind zum Beispiel die Nägel schneiden soll“, erzählt sie.

„Wie hast du solche Situationen gelöst?“, will ich wissen. „Wenn Freunde zu Besuch waren, habe ich einfach gefragt, ob sie meinem Sohn kurz die Nägel schneiden.“ Und wenn Jasper Läuse aus dem Kindergarten heimbrachte, bemerkte die Mutter sie erst, wenn es auf ihrem Kopf juckte. Wieder so ein Moment, bei dem wir gemeinsam lachen müssen. Diese verdammten Läuse bei Kindern! Was Sophie von Stockhausen geliebt hat: Jasper Baby- und Kinderbücher vorzulesen. Oder eher aus dem Kopf zu erzählen, weil es selbst mit Lesegerät immer umständlicher wurde.

Doch egal, wie holprig ihre Gutenacht­geschichten auch ausfielen – Jasper genoss das Gefühl, bei seiner Mami im Arm zu liegen und ihr zuzuhören. Er wollte auch noch Geschichten hören, als er längst besser ­lesen konnte als sie. Ein Moment großer Freude für Sophie von Stockhausen: „Weil ich solche Sorgen hatte, dass er wegen mir Schwierigkeiten beim Lesen haben könnte. Dabei liest er echt gerne und gut.“

Hilfsangebote für Menschen mit Sehverlust

Kerstin Germann von der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge – Rat und Hilfe bei Sehverlust“ weiß genau, was Sophie von Stockhausen leistet und welche Gefühle sie umtreiben. Germann ist seit der Geburt stark sehbehindert, ihr Mann ist blind. Gemeinsam haben sie zwei Kinder. Mit ihrem Erfahrungsschatz unterstützen Germann und ihre Kolleginnen und Kollegen fast bundesweit Betroffene bei Sehverlust. Das Hilfs­angebot ist niedrigschwellig, unabhängig und kostenfrei.

„Hemmungen braucht wirklich niemand zu haben, der zu uns kommt“, sagt Germann. Alle Beratenden nähmen sich gerne Zeit, um zum Beispiel über Hilfsmittel des Alltags oder passende Sehhilfen zu informieren – von der einfachen Lupe bis zur sprachgesteuerten Technik. Auch bei Anträgen rund um Sehverlust gibt es Unterstützung. Aber das Wesentliche für Germann: „Wir sind da und hören erst mal zu. Wir geben Raum und schauen, was der oder die Betroffene von uns braucht.“

Manchmal sei das einfach ein Gespräch. „Wenn sich darüber hinaus abzeichnet, dass eine Person in eine psychische Krise rutscht, verweisen wir an Fachleute aus Psychiatrie und Psychotherapie“, so Kerstin Germann. Über www.­blickpunkt-auge.de können Betroffene Beratung in ihrer Nähe finden. Auch Sophie von Stockhausen ist bei einer Psychotherapeutin. Das habe aber nicht nur mit ihrer Augenkrankheit zu tun. Tatsächlich fühlt sie sich heute so stabil, dass sie nur noch bedarfsweise Termine vereinbart. Doch der Weg dorthin war lang. Manchmal verzweifelte sie wegen peinlicher Verwechslungen, ruppiger Kommentare Fremder und am Scheitern ­eigener ­Ansprüche.

Krisen überwinden: Eine Sehberatung hilft

Vor ein paar Jahren dann der Tiefpunkt: Ständig war Sophie von Stockhausen krank, schlitterte von einer Erkältung in die nächste, genauso ihr damals dreijähriger Sohn. Ihr Arbeitgeber meldete Insolvenz an, das Geld wurde knapper. Eine enorme körperliche und seelische Belastung mit Folgen.

„Ich bin richtig zusammengebrochen“, erinnert sie sich. „Daraufhin hat meine Ärztin mich zur Mutter-Kind-Kur geschickt. Und danach habe ich erst gemerkt, dass es so nicht mehr weitergeht.“ Kein leichter Schritt für eine Frau, die immer möglichst unabhängig sein wollte. So hatte es Sophie von Stockhausen von ihrer Mutter gelernt: eigenes Geld verdienen und sich von nichts und niemandem abhängig machen. „Plötzlich musste ich bei so banalen Sachen wie Einkaufen um Hilfe bitten. Das fand ich nicht so toll.“

Nach dem Fall kam das mühsame Aufrappeln. Sophie von Stockhausen musste für sich akzeptieren, dass ihre Lebensrealität eine neue ist. Sie ging zu einer Sehberatung in Berlin: „Die haben dann ganz viel empfohlen und mir auch Mut gemacht.“ Gestärkt durch Fortbildungen und mit neuem Selbstbewusstsein suchte sie wieder nach einem Job. Auch mit ihrer Sehbehinderung ging sie absolut transparent um. Doch es kam eine Absage nach der anderen.

„Da dachte ich echt: Shit, jetzt trudelst du von der Insolvenz in die Arbeitslosigkeit.“ In dieser Abwärtsspirale erinnerte sich Sophie von Stockhausen an eine Berufsunfähigkeitsrente, die sie während des Studiums abgeschlossen hatte. Diese sichert seitdem ihr Grundeinkommen. Zusätzlich verdient sie Geld durch das Schreiben von Texten, etwa für Internetseiten. Und sie hat ihre Geschichte aufgeschrieben: Das Buch hat den Titel „Mit einem lachenden Auge“ und schildert ihren Weg mit ihrer Sehbeeinträchtigung.

Heute weiß sie: „Je offensiver ich mit meiner Erkrankung umgehe, desto positiver sind auch meine Erfahrungen. Ich bin wieder authentischer und mehr in meiner eigenen Identität.“ Durch ihr Buch bekommt sie auch Anfragen. Auf Firmenveranstaltungen informiert sie als beratende Betroffene. Eine Rolle, die sich Sophie von Stockhausen gewünscht hat: „Dass ich auch eine Kompetenz habe für Unternehmen, damit diese ihre Türen noch weiter aufmachen und inklusiver werden. Das macht mir total Spaß.“

Auge

Farbenschwäche / Farbenblindheit

Bei einer Farbenschwäche (Farbsinnstörung) erkennen Menschen bestimmte Farben nur eingeschränkt. Wenn eine Rot- oder Grünblindheit vorliegt, haben die Betroffenen ein stark reduziertes Farbensehen und können viele Farben nicht unterscheiden zum Artikel


Quellen:

  • Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Curriculum Vitae Prof. Dr. Frank G. Holz. Online: https://www.leopoldina.org/... (Abgerufen am 17.11.2023)
  • Holz F: Ihre Spezialisten für Augengesundheit, Universitätsklinikum Bonn. Online: https://www.ukbonn.de/... (Abgerufen am 17.11.2023)
  • Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.: Blickpunkt Auge, Rat und Hilfe bei Sehverlust. Online: https://www.­blickpunkt-auge.de (Abgerufen am 17.11.2023)
  • Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.: Leben mit Blindheit oder Sehbehinderung. Online: https://www.dbsv.org/... (Abgerufen am 17.11.2023)
  • Universitätsmedizin Mainz: Gutenberg-Gesundheitsstudie, Augenerkrankungen. Online: https://www.unimedizin-mainz.de/... (Abgerufen am 17.11.2023)
  • Gerste R: Therapie hereditärer Netzhautdystrophien, Trotz deutlicher Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 17.11.2023)