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In der Nacht von Karmittwoch auf Gründonnerstag konnte das Trommelfell der vierjährigen Annika den Druck nicht mehr aushalten: Es platzte. Mutter Marlen Lare erinnert sich noch gut daran: “Sie hatte zwar noch Ohrenschmerzen, aber wir waren Stunden vorher bei der Ärztin gewesen. Darum hatte ich mir keine Gedanken gemacht”, sagt Lare. “Plötzlich war etwas aus Annikas Ohr herausgekommen. Den Rest der Nacht haben wir nicht mehr geschlafen.”

Grund für Annikas geplatztes Trommelfell war ein sogenannter Paukenerguss. Dabei sammelt sich Flüssigkeit im Ohr. Seit Ende 2022 ist das Problem bei Annika bekannt. Normalerweise ist ein Paukenerguss eine Krankheit, die die Ärztinnen und Ärzte gut mit Medikamenten oder einer Operationen behandeln können. Doch in diesem Fall gab es zwei Probleme: Zum einen fehlen wegen der Lieferengpässe Medikamente. Zum anderen konnte Mutter Lare keinen Hals-Nasen-Ohren-Arzt finden, der ihre Tochter sofort operieren wollte.

Stattdessen stehen sie bei einer Praxis auf einer Warteliste, um den Paukenerguss behandeln zu lasssen – und das seit Ende Januar. Denn die HNO-Ärzte streiken und verweigern viele OPs. “Als die Krankheit schlimmer wurde, habe ich noch bei anderen Praxen und Krankenhäusern angerufen”, sagt Lare. “Aber da hieß es nur immer, es gibt keine weiteren Termine.”

Streit um Bezahlung von OPs

Marlen Lare und ihre Tochter Annika leben in München und heißen eigentlich anders. Aus Angst, sich es mit den HNO-Ärzten zu verscherzen, will Lare ihre echten Namen nicht öffentlich machen.

Hintergrund des Streiks ist ein Streit über die Vergütung der OPs. Im Dezember 2022 hatten Krankenkassen und Ärzteschaft die Honorare für ambulante Operationen neu festgelegt. Für bestimmte Standard-Eingriffe wie Mandeloperationen bei Kindern gibt es seitdem nur noch 107 statt wie zuvor 111 Euro. Komplexere OPs wurden dafür aufgewertet. Ausgehandelt hatte das der GKV-Spitzenverband – der Verband der gesetzlichen Krankenkassen – mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die für alle Vergütungsfragen in der Behandlung von Kassenpatientinnen und -patienten zuständig ist.

Die HNO-Ärzte allerdings wollten das Ergebnis nicht mittragen. Zwar wurde das Honorar für die betroffenen Kinder-OPs nur um wenige Euro gesenkt – doch diese Kürzung hatte das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen gebracht. Im Januar 2023 schließlich traten die Medizinerinnen und Mediziner in den Streik.

Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das: Die HNO-Ärzte führen nur noch dringende Operationen durch. Annikas Paukenerguss zählte wohl nicht dazu. Zwar bedeutet das geplatzte Trommelfell nicht, dass das Kind dauerhaft beeinträchtigt sein wird – eine OP ist noch immer möglich. Dennoch hatte Mutter Lare so etwas noch nie erlebt: “Annika hatte wochenlang Schmerzen und keiner wollte ihr helfen”, sagt sie. “Der Fall hat mich echt schockiert. Bisher hatte ich immer das Gefühl, dass man in diesem Land gut versorgt ist. Ich hatte nie das Gefühl, dass man sich Sorgen um das Gesundheitssystem machen muss.”

Zu wenig Operateurinnen und Operateure

Tatsächlich seien ambulante Operationen bereits seit Jahren unterfinanziert, sagt zumindest der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Bei der Entfernung von Rachenmandeln etwa gehen von den rund 107 Euro Honorar demnach unter anderem Kosten für Instrumente, OP-Miete und Haftpflichtversicherung ab. Am Ende blieben den Operateuren zehn bis 20 Euro vor Abzug von Steuern, und Altersvorsorge. Verbandspräsident Professor Jan Löhler fordert im Gespräch mit der Apotheken Umschau darum “eine deutliche Anhebung der Vergütung, die alle mit der OP verbundenen Kosten sowie ein auskömmliches Honorar für die behandelnden Ärzte sicherstellt.”

Dass andere OPs nun besser bezahlt werden als früher, helfe den Kinderoperateuren dabei nicht. „Jede Leistung muss wirtschaftlich kalkuliert und auskömmlich finanziert werden“, so Löhler. „Die Unterfinanzierung der Kinder-OPs hat bereits dazu geführt, dass immer weniger Operateure die Leistungen anbieten.“ Das geht dem Verband zufolge auch aus den Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen hervor.

In Hamburg etwa hatten 2019 demnach 50 HNO-Ärztinnen und Ärzte Kinder operiert, 2022 nur noch 20, 60 Prozent weniger. In Bayern fiel die Zahl der Operateurinnen und Operateure im selben Zeitraum um 22 Prozent, von 268 auf 210. Im Saarland sank sie von 14 auf 7 und damit um 50 Prozent.

Probleme in der Versorgung und lange Wartezeiten auf einen Termin sind nach Meinung der HNO-Ärzte daher Anlass und nicht Folge des Protests. Wie lange sich betroffene Kinder und ihre Eltern gedulden müssen, kann regional sehr unterschiedlich sein. „Dem Vernehmen nach sind mehrere Monate bis zu einem Jahr mittlerweile leider die Regel“, so Löhler. Das kann durchaus schwerwiegende gesundheitliche Folgen nach sich ziehen. „Je länger eine Mittelohrerkrankung bestehen bleibt, umso mehr steigt die Gefahr, dass sich eine bleibende Hörstörung ergibt.“ Bei kleinen Kindern könne sich die Sprachentwicklung verzögern. „Beides ergibt einen neuen und langfristigen Therapiebedarf.“

Petition soll Menschen mobilisieren

Um auf den Missstand aufmerksam zu machen, versucht die HNO-Ärzteschaft auch die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen – in Form einer Petition. Auf der Website change.org listen sie die Gründe für den Streik und fügen hinzu: “Der OP-Stopp richtet sich nicht gegen die Kinder, sondern gegen das unethische Verhalten der Krankenkassen, die Geld für die ambulante HNO-Kinderchirurgie kürzen. Besonders schwere Fälle sowie medizinische Notfälle werden selbstverständlich weiter operiert.”

Mehr als 50.000 Menschen haben die Petition bereits unterschrieben (Stand 31.5.2023). Es gibt etwas mehr als 6.000 HNO-Ärzte in Deutschland. Glaubt man den Kommentaren, handelt es sich bei den Kommentatoren größtenteils um Eltern. So schreibt jemand unter den Namen Lena Vetski unter der Petition als Grund für ihre Unterschrift, dass “mein Kind nichts hört und nicht spricht und wir können keinen Termin bekommen. In Bremen sind nächste Termine für 2024, andere Krankenhäuser haben Aufnahmestopp wegen Streit mit Versicherungen. Warum sollen die Kinder darunter leiden?”. Und eine Angelika Timmermann fasst zusammen, dass “Ich es unerträglich finde dass bei den Kindern gespart wird.”

Bürgerservice rät, HNO-Ärzte zu melden

Auch Mutter Marlen Lare kennt diese Petition. Viel erhofft sie sich davon aber nicht. In ihrer Verzweiflung tat sie stattdessen etwas, was Bürgerinnen und Bürgern gern in solchen Situationen geraten wird: Sie wandte sich an die Politik. In einer E-Mail an den Bürgerservice ihres Bundeslandes klagte sie über das Problem. Der Apotheken Umschau liegt der Nachrichtenverlauf vor.

Die zuständige Behörde gab eine lange und nichtssagende Rückmeldung sowie einen fragwürdigen Rat: Lare sollte den HNO-Arzt, der nicht sofort operieren wollte und sie auf die Warteliste gesetzt hatte, bei der Kassenärztlichen Vereinigung ihres Bundeslands melden. “Das empfand ich als schlechten Scherz”, sagt Lare. “Ich konnte sowieso kaum einen Arzt finden. Und dann soll ich den noch anschwärzen und danach sagen: Okay, bitte operiere jetzt mein Kind.”

Krankenkassen kritisieren den Streik

Die HNO-Ärzte sehen nun die Krankenkassen am Zug, Vergütungsfragen neu zu klären. Der GKV-Spitzenverband sieht hingegen keinen Anlass für neue Verhandlungen – im Gegenteil: Über alle Leistungen hinweg seien die HNO-Ärztinnen und -Ärzte mit der Neukalkulation der Honorare sogar bessergestellt als bislang, erklärte ein Sprecher des Verbands. Den Protest kritisieren die Kassen als unethisch und schamlos. „Der Forderung nach noch mehr Geld aus den Taschen der Beitragszahlenden soll auf dem Rücken von Kindern Nachdruck verliehen werden.“

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zeigt hingegen Verständnis für den Streik. „Die Positionen der HNO-Ärzte mögen sehr pointiert erscheinen, aber sie sind letztlich ein Indiz für eine vorherrschende große Frustration“, so ein Sprecher auf Anfrage der Apotheken Umschau. Sie verweist auf den Reformbedarf in dem Bereich und rät von gegenseitigen Schuldzuweisungen ab „Eine Discountermentalität nach dem Motto „immer mehr und immer billiger“ ist in der medizinischen Versorgung fehl am Platz.“

Gespräche zwischen Ärzten und Krankenkassen scheiterten

Als mögliche Lösung des Problems hatten die HNO-Ärzte zunächst alle Hoffnung auf die Verhandlungen über die sogenannten Hybrid-DRGs gesetzt. DRG steht für Diagnosis Related Groups. Zu Deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen. Damit sind pauschale Vergütungssätze für Leistungen gemeint, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden. Würden die betroffenen Kinder-OPs in diesen Katalog aufgenommen, könnte die Honorierung deutlich steigen.

Doch im März scheiterten die Gespräche zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft. Nun kann Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ein Machtwort sprechen und im Zuge der sogenannten Ersatzvornahme über das Thema entscheiden. Diese Option werde „derzeit geprüft“, teilte ein Sprecher des Bundesministeriums für Gesundheit mit.

Zugleich machte das Ministerium allerdings auch deutlich, dass man eigentlich die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Pflicht sehe, auf den Streik zu reagieren. Schließlich dürften Vertragsärzte eine notwendige Behandlung nicht mit Verweis auf eine zu geringe Vergütung verweigern, so der Sprecher.

“Kinder haben keine Lobby“

Entspannen dürfte sich die Lage damit vorerst wohl kaum. Die HNO-Ärztinnen und -Ärzte jedenfalls sind entschlossen, ihren Protest so lange weiterzuführen, bis eine verbindliche Zusage über eine bessere Vergütung vorliegt.

Mutter Lare will ihr Kind nicht so lange leiden lassen. Nach der Sache mit dem geplatzten Trommelfell hatten sie und ihre Freundinnen “irgendwie alle HNO-Ärzte in München angerufen und nach einem sofortigen Termin gefragt”, erzählt sie. Tatsächlich fanden sie jemanden – bei dem Lare aber selbst zahlen musste. Die Voruntersuchung kostete um 400 Euro, die Operation sollte mehr als 1000 Euro kosten. Geld, dass man auch erst haben muss. Da Annikas Fall laut dem Privatarzt aber nicht akkut seien, lassen sie die Operation woanders durchführen: “Wir haben am Ende doch noch etwas später einen OP-Termin bei einer städtischen Klinik bekommen, den die Kasse zahlt”, sagt Lare.

Den Streik der Ärzteschaft will Lare – trotz des Stresses, den sie und Annika durchgemacht haben – aber nicht schlechtreden. “Ich kann das total nachvollziehen, dass die Ärzte streiken und unterstütze das auch”, sagt sie. “Wie sie behandelt werden – sowohl von den Krankenkassen, als auch dem System – ist nicht okay.” Jedoch fügt sie auch hinzu: “Am Ende steht hier aber auch ein Kind, das krass leidet. Aber darum kümmert sich irgendwie keiner. Dieser Satz wird oft gesagt, ist aber leider auch wahr: Kinder haben keine Lobby.”

Anmerkung der Redaktion: Es wurde nachträglich noch ein Zitat ergänzt.

Wann ist ein Paukenröhrchen nötig?

Haben Kinder einen Paukenerguss im Ohr, versuchen Ärzte zuerst eine Behandlung mit Medikamenten. Teilweise ist jedoch auch eine Operation nötig, bei der ein Paukenröhrchen eingesetzt wird zum Artikel


Quellen:

  • Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte e. V.: Es geht um den Erhalt der HNO-Kinderchirurgie. https://www.hno-aerzte.de/... (Abgerufen am 27.05.2023)