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„Nur noch der Kaffee hält einen wach, die Hände zittern, man kann sich nicht mehr konzentrieren und muss immer dreimal nachdenken.“ Zu oft hat Julian Gabrysch, Assistenzarzt in der Nephrologie der Charité Berlin, das schon erlebt. 24-Stunden-Dienste, in denen er nachts für mehrere Stationen gleichzeitig verantwortlich ist, sind für ihn keine Seltenheiten. Bis zu 70 Patientinnen und Patienten muss er dann betreuen. „Solche Bedingungen führen zu keiner guten medizinischen Arbeit“, sagt Gabrysch. „Das ist hochgefährlich für die Patienten und maximal ungesund für uns Ärzte.“ Es muss sich etwas verändern. Deshalb hat der Assistenzarzt Julian Gabrysch einen Streik organisiert.

Von 0:00 Uhr bis 24:00 Uhr sind am Mittwoch, den 5.10.2022, mehr als 2.700 Ärztinnen und Ärzte zum Streik aufgerufen. Laut Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist es das erste Mal seit mehr als 15 Jahren, dass Medizinerinnen und Mediziner an Europas größter Universitätsklinik streiken. Dort läuft lediglich eine Art Notbetrieb: Akute Fälle werden weiter behandelt, doch alle planbaren Behandlungen wurden verschoben. Der Streik soll nicht auf Kosten der Patientinnen und Patienten durchgeführt werden, erklären die Organisatorinnen und Organisatoren. Ihnen geht es um öffentlichen Druck, um Aufmerksamkeit für ihre Situation. Denn bisher konnten die Verhandelnden keine Einigung erzielen.

Ein geregeltes Privatleben ist so gut wie unmöglich

Die Ärztinnen und Ärzte fordern Verbesserungen in vielen Bereichen: Die Anzahl der Bereitschaftsdienste soll auf vier pro Monat begrenzt werden; wer nachts oder am Wochenende arbeitet, soll mehr verdienen; 6,9 Prozent mehr Gehalt – und, dass Dienstpläne langfristiger feststehen. „Gefühlt haben wir vier Tage im Monat frei“, berichtet Assistenzarzt Gabrysch. „Wenn man die dann noch spontan verschieben muss, macht das ein geregeltes Privatleben so gut wie unmöglich.“

Auch die Klinikleitung möchte die Situation der Medizinerinnen und Mediziner verbessern. Ein Sprecher der Charité erklärte, man habe ein „differenziertes Paket mit Angeboten zu Arbeitszeit und Entlastung, Fort- und Weiterbildung, Entbürokratisierung und Gleichstellung“ vorgelegt. Die Gegenseite sieht das anders. „Das nun vorgelegte Angebot ist völlig unzureichend“, heißt es vom Marburger Bund. Dessen Vorstandsvorsitzender für die Region Berlin/Brandenburg, PD Dr. Peter Bobbert, erklärte: „Das Verhalten der Charité braucht eine unmissverständliche Antwort unserer Mitglieder.“

Stumpfe Blicke und ausgebrannte Gesichter

Deshalb sei der Streik die einzige Lösung. Denn wie bisher geht es nicht weiter. „Wenn ich meine Kollegen anschaue, sehe ich vor allem stumpfe Blicke und ausgebrannte Gesichter“, erklärt Assistenzarzt Gabrysch. „Fast alle haben schon während ihrer Dienste geweint und junge Ärztinnen und Ärzte zweifeln, ob sie weiter in der Klinik bleiben möchten. Die Bedingungen sind wirklich furchtbar.“

Zu viele Bereitschaftsdienste, kaum Ruhezeiten, unzählige unbezahlte Überstunden – und all das in Pandemiezeiten. „Um die Covid-Stationen besetzen zu können, wurden Kollegen von anderen Stationen abgezogen“, berichtet Gabrysch. „Dort mussten wir mit einer dünneren Personaldecke auskommen.“ Das hinterlasse Spuren, denn während das Masketragen immer seltener wurde, blieb die Arbeitsbelastung in den Kliniken weiter hoch. „Zwischen den Corona-Wellen wurden verschobene OPs nachgeholt, sodass das Stresslevel von uns Ärztinnen für zweieinhalb Jahre konstant hoch war. Wir können nicht mehr!“

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Gewinnstreben vs. Gesundheit

Das sieht nicht nur der Assistenzarzt so. Im Sommer hat der Marburger Bund die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung veröffentlicht. Mehr als 8.000 angestellte Medizinerinnen und Mediziner hatten Fragen zu ihrem Arbeitsalltag beantwortet. Sie zeichnen ein ernüchterndes Bild: Die Arbeitsbelastung steigt immer weiter, die Personaldecke ist gefährlich dünn und Zeit für beruhigende Gespräche mit den Patientinnen und Patienten bleibt viel zu selten. Weniger als ein Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte hält die derzeitigen Arbeitsbedingungen für gut. Die Situation ist also kritisch, nicht nur an der Charité in Berlin, sondern im ganzen Land. „Unsere Mitglieder berichten von hohen Wochenarbeitszeiten und vielen Überstunden“, kommentierte Dr. Susanne Johna, die Vorsitzende des Marburger Bundes, die Ergebnisse. „Wer in dieser Situation Stellen streicht oder nicht nachbesetzt, stellt den finanziellen Gewinn über das Wohlergehen und die Gesundheit seiner Beschäftigten.“

„Wir haben den Kopf hingehalten“

Doch wie so oft hängt es auch bei der Charité vom Geld ab. Die Rekordinflation und der Krieg in der Ukraine lassen die Preise steigen, aber nicht die Budgets. Dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur und neues Personal werden noch stärker abgewogen als bisher. Deshalb wurden auch die Tarifverhandlungen besonders hart geführt. „Wir haben klar gemacht, dass wir zweieinhalb Jahre unseren Kopf für die Gesundheit der Bevölkerung hingehalten haben“, berichtet Streik-Organisator Gabrysch. „Jetzt werden wir nicht mit unserer Gesundheit auch noch die Bilanzen der Charité retten.“

Teile der Klinikführung scheinen das eingesehen zu haben. Ein gewisser Wille zur Veränderung sei erkennbar, findet Gabrysch. Der Ärztestreik soll der nächste Schritt sein: Im Idealfall bringt die öffentliche Aufmerksamkeit sogar die Politik dazu, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Schließlich geht es bei der Charité um eines der Vorzeigekrankenhäuser Deutschlands. Die Auswirkungen des Ausstands müssen dementsprechend deutlich zu spüren sein. „Wir spüren die große Unterstützung in der Ärzteschaft. In vielen Abteilungen haben wir 100 % Streikbereitschaft“, berichtet Gabrysch. „Deshalb gehen wir davon aus, dass die Charité großenteils stillgelegt sein wird.“ Was danach passiert, werden die weiteren Verhandlungen zeigen.