Jung bleiben: Wie alt bin ich wirklich?
Es ist der 1. Mai 2021. Vor Bryan Johnson liegen knapp 20 Pulverkapseln. Daneben stehen gedünstete Möhrenstreifen, ein Salat mit Babyspinat, ein Schälchen Blaubeeren und ein schlammgrünes Getränk. Frühstück im Hause Johnson. In den sozialen Medien kann man den US-Unternehmer und Millionär seit diesem Tag vor zwei Jahren nicht nur durch seinen exakt geplanten Start in den Morgen begleiten. Man folgt ihm auch zum ausgefeilten Rest: zum Krafttraining, zum Blutabnehmen, zu Hautscans, zum Schwimmen, zur Messung der Pulswellengeschwindigkeit und zur Lichttherapie ins Bett.
Das Altern aufhalten
Blueprint heißt das Lebensprojekt des 46-Jährigen. Wobei – darf man überhaupt sagen, er sei 46 Jahre alt? Johnson behauptet, dank Blueprint liege sein biologisches Alter heute um Anfang 40. Künftig wolle er pro Jahr nur noch neun Monate altern.
Der Mann mag irre erscheinen, vielleicht ist er es auch. Aber sich gegen die Zeit zu stemmen, das Altern aufzuhalten, sich länger, wenn nicht ewig jung zu fühlen, viel jünger, als es das eigene Geburtsdatum nahelegen würde: Das ist keinesfalls nur eine Fantasie von Bryan Johnson. Viele Menschen würden dem Altwerden gern ein Schnippchen schlagen, würden die Biologie ihres Körpers gern von der Zahl gelebter Jahre abkoppeln. Und bei näherer Betrachtung wirkt die Idee gar nicht so abwegig. In gewisser Weise ist sie schon Realität.
Lebenserwartung in Indiustrieländern gestiegen
Die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland und in anderen Industrienationen hat sich im vergangenen Jahrhundert fast verdoppelt. Wer heute 50 oder 60 Jahre zählt, ist zudem oft gesünder und fitter, als es Gleichaltrige vor Jahrzehnten waren. Und längst löst sich auch das Lebensgefühl der Menschen vom Lebensalter – sie wollen mehr. Mehr Gesundheit im alternden Körper sowieso. Dazu mehr körperliche und geistige Fitness. Mit anderen Worten: ein biologisches Alter, das geringer ist als das vom Geburtsdatum vorgegebene.
Tatsächlich kann man sein biologisches Alter bereits testen lassen. Online findet man dafür zum Beispiel epigenetische Tests, auch in Deutschland sind solche Analysen erhältlich. Aus einer eingeschickten Speichelprobe und den darin enthaltenen Zellen wird Erbgut gewonnen. Untersucht wird dann aber nicht das Erbgut selbst, sondern sein epigenetisches Muster. Darunter ist eine Art Signatur von Anhängseln am Erbgut zu verstehen.
Die Anhängsel, sie heißen Methylgruppen, beeinflussen die Funktion des Erbguts. Wann und mit welchen Folgen diese Anhängsel jeweils entstehen, ist bislang nicht abschließend geklärt. Im Alter kommen an anderen Stellen jedoch Methylgruppen hinzu oder verschwinden. Aus dem jeweils aktuellen Muster der Anhängsel, so die Theorie, lassen sich folglich Rückschlüsse auf das biologische Alter eines Menschen ziehen. Erledigt wird die Analyse mithilfe von Computeralgorithmen, die von Anbieter zu Anbieter unterschiedlich sind. Auch die Auswahl der Methylgruppen, die analysiert werden, variiert. Was die Tests gemeinsam haben: Sie sind teuer, ab 200 Euro aufwärts.
Offene Fragen in der Alternsforschung
Lohnt sich das? Folgt man Menschen, die das Jungbleiben mit großem Enthusiasmus betreiben, dann ja. So berichtet auch die Moderatorin Nina Ruge in ihrem Buch „Verjüngung“ über ihre Testergebnisse. Ihr errechnetes biologisches Alter liegt deutlich unter ihrem chronologischen. Doch jenseits der Zahl, die Getestete als biologisches Alter mitgeteilt bekommen, bietet die epigenetische Uhr wenig Einsicht.
Warum das eigene biologische Alter vielleicht überraschend niedrig, vielleicht überraschend hoch liegt, bleibt im Dunkeln. Auch darüber, ob Menschen länger leben und gesünder alt werden, wenn ihr biologisches Alter unter dem chronologischen liegt, gibt es noch keine Erkenntnisse. Die kommerziellen Tests von Menschen sehen seriöse Fachleute aus der Alternsforschung deshalb kritisch.
Einflussfaktor Genetik
„Eine Ärztin oder ein Arzt betrachtet nicht einen einzigen, sondern verschiedene Aspekte Ihrer Gesundheit, um sich ein Bild von Ihrer Verfassung zu machen“, sagt Dr. Ina Huppertz vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln. „Genauso, denke ich, muss man für das biologische Alter neben der Epigenetik auch andere Prozesse betrachten, die wir heute mit dem Alter verknüpfen.“
Dazu gehören laut Huppertz der Stoffwechsel der Zellen, der mit den Jahren immer schlechter funktioniert. Oder die Genetik, also die Veranlagungen im Erbgut selbst. „Die Epigenetik ist ein Ausschnitt. Nur alles zusammen kann ein vollständiges Bild ergeben“, sagt die Molekularbiologin. Sie selbst forscht zur Alterung von Nervenzellen und untersucht Prozesse, die ebenfalls regulierend in die Vorgänge der Zelle eingreifen – und die im Alter beginnen, Fehler zu machen.
Den Alterungsprozess umkehren
„Bis vor Kurzem noch dachten wir, das Beste, was wir tun könnten, sei, das Altern zu verlangsamen. Neue Entdeckungen legen nahe, dass wir es sogar umkehren können.“ Diese zwei Sätze klingen so sensationell, man würde sie kaum von einem Wissenschaftler erwarten. Sie stammen jedoch von einem Professor der angesehenen Harvard University im amerikanischen Boston. David Sinclair stützt sich dabei auf zwei Veröffentlichungen, die im Januar erschienen sind. Eine kommt aus Sinclairs eigenem Labor: Ein Mix aus drei Biomolekülen, so lautet das Fazit seiner Arbeit, kann den Alterungsprozess umkehren. Direkt im Körper. Alles, was dafür nötig ist, sind drei Gene, die zum Erbgut hinzugefügt werden. Danach läuft die Lebensuhr rückwärts.
Ist das Science-Fiction? Bisher hat Sinclairs Methode der wundersamen Verjüngung nur bei Labormäusen funktioniert – wenn sie überhaupt funktioniert hat. Kritikerinnen und Kritikern zufolge fehlen stichhaltige Belege für den angeblich verjüngenden Effekt. Die Mäuse wurden zudem schon vor der Behandlung genetisch manipuliert, um künstlich schnell zu altern. Ob diese Alterung mit dem natürlichen Alterungsprozess vergleichbar ist, bleibt unklar. Und schließlich ist der Effekt der Verjüngung wohl nur im Rahmen von Sinclairs „Informationstheorie des Alterns“ nachvollziebar, die im Wesentlichen auf den Methylierungsmustern beruht – wie die Tests zum biologischen Alter.
Mit Medikamenten zum ewigen Jungbrunnen
Es wäre auch nicht Sinclairs erste Theorie zum Altern, die über das Theoretisch-Experimentelle kaum hinauskommt. Zuvor hatte der Biologe bereits Resveratrol beforscht, einen Pflanzenstoff aus Rotwein – und ihn als Verjüngungsmittel angepriesen. Auch eine Substanz namens Nikotinamid-Mononukleotid soll laut Sinclair das Altern stoppen können. Er scheint überhaupt persönlich von der Suche nach dem Jungbrunnen besessen zu sein, sein eigenes Alter will er bereits um zehn Jahre gesenkt haben. Doch nicht nur Sinclair sucht nach der Pille, die das Altern stoppt oder gar umkehrt. Schon 2006 berichtete ein Wissenschaftsteam der University of Washington in diesem Zusammenhang von einem Medikament namens Sirolimus, auch Rapamycin genannt. Es wird aufgrund seiner teils dämpfenden Wirkung auf das Immunsystem in der Transplantationsmedizin eingesetzt.
Ob in Hefen, Fadenwürmern oder Hunden: Studien zufolge kann die Arznei offenbar das Leben von Labor-Organismen und Tieren verlängern. In den USA ist Rapamycin inzwischen genauso ein Hype wie das Diabetes-Mittel Metformin, dem ebenfalls Verjüngungseffekte nachgesagt werden. Und natürlich nimmt Bryan Johnson beide Arzneien ein – zusätzlich zu einer ganzen Palette von Nahrungsergänzungsmitteln, also Vitaminen, pflanzlichen Stoffen, Mineralstoffen und mutmaßlich verjüngenden Substanzen aus der Biochemie. Kann das gesund sein?
Schädliche Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln
Gerade die exzessive Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln ist es aus medizinischer Sicht nicht. Überdosierungen schaden hier oft mehr, als sie nützen. Einige Vitamine und andere essenzielle Stoffe sollten besser im Rahmen der Ernährung zugeführt und als Nahrungsergänzungsmittel nur in Mangelsituationen eingenommen werden. Und Medikamente haben Nebenwirkungen. Darauf weist auch Ina Huppertz hin.
„Was den Menschen verjüngt, kann womöglich zu viel bewirken. Zum Beispiel könnte so ein Medikament Krebs verursachen.“ So bringt Rapamycin neben einer erhöhten Neigung zu Magen-Darm-Beschwerden und Infektionen vermutlich wirklich ein erhöhtes Risiko mit sich, an Hautkrebs oder Lymphomen zu erkranken. Im Rahmen lebensrettender Transplantationen ist dieses Risiko meist akzeptabel. Aber für Gesunde, die lange leben wollen? Aus Sicht von Expertinnen und Experten sollte es ohnehin nicht Ziel der Alternsforschung sein, verjüngende Medikamente zu finden. „Es geht darum, zu verstehen, wie Alterungsprozesse ablaufen und wie man gesund altern kann“, sagt Prof. Dr. Janine Kirstein vom Leibniz-Institut für Alternsforschung in Jena.
Organe altern unterschiedlich schnell
Verfolgt man Bryan Johnsons Weg, gewinnt man den Eindruck, dass er all das längst verstanden hat. Der Unternehmer vermeldet regelmäßig Erfolge – und das auch noch für jedes seiner Organe einzeln: Sein Herz zum Beispiel hat es unter die 40-Jahre-Marke geschafft, hieß es Anfang August auf Instagram. Seine Haut soll inzwischen jünger als 30 Jahre sein, seine Lunge gleiche der eines Teenagers. Solche Angaben klingen kaum weniger verrückt als Johnsons Projekt insgesamt. Kann es überhaupt sein, dass Organe unterschiedlich schnell altern?
Davon gehen die meisten Expertinnen und Experten aus. „Es gibt zwar keine feste Reihenfolge, in der unsere Organe altern“, sagt Janine Kirstein. Aber die Organe würden unterschiedlich gut mit Beschädigungen umgehen. „Unsere Haut zum Beispiel hält UV-Strahlung, Verletzungen, Trockenheit, Hitze und vieles mehr aus, da sie sich besser durch Zellerneuerungen regenerieren kann“, erklärt Kirstein. Im Gehirn dagegen gebe es nur wenige Möglichkeiten, beschädigtes Gewebe zu ersetzen. Ähnlich begrenzt ist das Herz gegen die Spuren der Jahre gewappnet. „Das Herz kann sich kaum regenerieren“, sagt die Kardiologin Dr. Teresa Trenkwalder vom Deutschen Herzzentrum München. „Die Herzmuskelzellen verlieren an Elastizität, der Herzmuskel wird steifer.“ Nicht jedes alternde Herz würde deshalb krank, ergänzt die Ärztin. „Aber wenn dann noch ein Risikofaktor wie hoher Blutdruck dazukommt, begünstigt das Alter eben auch Herzleiden.“
Gesunder Lebensstil verlangsamt Alterungssprozess
Und wenn man das Alter besiegt? Das ist die Idee von Johnson. Ob er Erfolg haben wird, ist zweifelhaft, aber er kann sich das Experiment leisten. Allein für seine Ernährung gibt Johnson täglich 41 Euro aus, dazu gut 10 Euro für Nahrungsergänzungsmittel. Die Jugendkur kostet ihn also 1500 Euro pro Monat, Tests und medizinische Untersuchungen nicht inbegriffen. Aus Sicht von Fachleuten geht es günstiger – mit belegter Wirkung. „Wer sich viel bewegt, gesund isst, auf Alkohol verzichtet, nicht raucht und eine positive Lebenseinstellung hat, wird weniger schnell altern als Menschen mit ungesünderem Lebensstil“, sagt Ina Huppertz. Und: Es ist nie zu spät. „Man muss nicht seit dem 20. Lebensjahr Sport treiben, um langsamer als andere zu altern. Ob mit 40, 50 Jahren oder später: Man kann mit seinem Verhalten immer etwas bewirken.“ Auch Janine Kirstein ist überzeugt: „Schon ein gesunder Lebensstil hilft dabei, Lebensjahre zu gewinnen“. Jahre, in denen man nicht nach ewiger Jugend suchen muss.