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Quadratische Bildkärtchen, die umgedreht lauf dem Tisch liegen. Nur eines zeigt sein Gesicht. Irgendwo im Gewirr der Karten muss sich ein Doppelgänger verstecken – aber wo bloß? Wohl jeder kennt den Spieleklassiker „Memory“, der schon im Namen an das Gedächtnis appelliert. Und wahrscheinlich kennt jeder, der das Jugendalter hinter sich hat, auch diese Erfahrung: Als Erwachsener hat man in dem Spiel mit den Zwillingskarten gegen Kinder kaum eine Chance. „Das kann ganz schön frustrierend sein, sage ich Ihnen“, gesteht Karl-Heinz Bäuml.

Der Psychologie-Professor von der Univer­sität Regensburg weiß immerhin, woher der Nachwuchs seine Überlegenheit nimmt: „Kinder haben ein extrem gutes räumliches Gedächtnis.“ Bei Erwachsenen funktioniert das Gedächtnis dagegen stärker über Wörter und Begriffe.

So funktioniert unser Gedächtnis

Auf den ersten Blick ist unser Merkorgan simpel aufgebaut. Es besteht aus zwei Teilen: Das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis hält Informationen für einige Sekunden im Bewusstsein. Sodass man beispielsweise ­einen Satz zu Ende hören kann, ohne das erste Wort zu vergessen. Das Langzeit­gedächtnis legt Eindrücke auf Dauer ab. „Das betrifft alles, was länger als ungefähr eine Minute zurückliegt“, erklärt Bäuml. Wer beim Abendessen erzählt, was im Büro los war, bemüht das Langzeitgedächtnis – genauso wie eine Seniorin, die ihren Enkeln von Jugenderlebnissen berichtet.

Auch wenn es um das Einspeichern und Abrufen von Informationen geht: Mit einem Computer hat das Gedächtnis wenig gemein. „Es handelt sich um ein biolo­gisches, dynamisches System“, sagt Tilo Strobach, Professor für allgemeine Psychologie an der Medical School Hamburg. „Das Gedächtnis ist kein passives Speicherorgan, sondern geht aktiv mit Informationen um.“ Es reagiert auf Gefühle und Stress, merkt sich nur Dinge, die es für wichtig hält, und hübscht Vergangenes auf.

Es wird mit der Zeit alt und ist anfällig für Fehler. So haben vor allem Erinnerungen an früher oft weniger mit der Wiedergabe nüchterner Fakten zu tun als mit stiller Post, weiß Professor Axel Buchner von der Universität Düsseldorf. Spuckt das Langzeitgedächtnis Inhalte aus, speichert es ­diese im selben Zug erneut ab – aber nie eins zu eins. Bilder und Geschichten verändern sich so im Kopf mit der Zeit. Die Erinnerung etwa an die Straßen der Kindheit, die man lange nicht gesehen hat, dürfte sich mit dem damaligen Stadtplan nur teilweise decken.

Erinnerungen abrufen - nicht immer leicht

Was behalten wir überhaupt im Gedächtnis? Es seien nur „klitzekleine Auszüge“ unserer Wahrnehmung, erklärt Experte Buchner – am ehesten Dinge, die nur einmal passierten oder eine besondere Bedeutung hätten. Der Alltagstrott mit seinen immer gleichen Abläufen ist für das Gedächtnis wenig interessant. Was es in der vergangenen Woche in der Kantine gab, ist schnell vergessen. Das Menü auf der Hochzeit hat man vielleicht noch nach Jahrzehnten vor Augen. Auch historische Großereignisse hinterlassen oft eine Spur im Gedächtnis: Vermutlich können sich viele, die das nötige Lebensalter haben, daran erinnern, wo sie am Tag des Mauerfalls waren.

Oft aber ist das Abrufen von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis ein „absolutes Nadelöhr“, wie Forscher Bäuml sagt. Um Gespeichertes zutage zu fördern, sei das Gehirn „total auf Schlüsselreize angewiesen“. Hat man vergessen, dass man noch Käse einkaufen wollte, fällt einem dies mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder ein, wenn man im Supermarkt am Kühlregal steht. Im Laufe des Lebens braucht das Gedächtnis solche Anschubser zusehends mehr – freies Erinnern fällt im Alter schwerer.

Wie lässt sich das Gehirn trainieren?

Kann man das Gedächtnis stärken? „Die Trainierbarkeit ist sehr begrenzt“, sagt Bäuml. Wer gern Sudokus oder Kreuzworträtsel löst, wird darin zwar mit der Zeit meist besser. Doch die Forschung kennt kaum Belege dafür, dass der Denksport die allgemeine geistige Fitness verbessert. Hilfreicher sei, „wach und interessiert durch die Welt zu gehen“, so Bäuml, „und eine Umgebung zu haben, die ­einen stimuliert.“ Generell prägen sich Dinge eher ein, wenn man sie mit mehreren Sinnen wahrnimmt, also einen Apfel nicht nur sieht, sondern ihn auch in die Hand nimmt, daran riecht. Und wenn eine Informa­tion mit Bildern oder einer Geschichte gespickt ist.

Zudem tut erholsame Nachtruhe dem Merkorgan gut. Im Schlaf konsolidiere sich das Gedächtnis, erklärt Bäuml, auch weil es dann keine Sinneseindrücke verarbeiten müsse. Psychologe Buchner rät vor allem zu körperlicher Aktivität, „das ist wohl der allerwichtigste Faktor“. Beifall von der Wissenschaft gibt es unter anderem für den Mix von Bewegung und Koordination, etwa Tanzen.

Einige Strategien helfen, das Gedächtnis gezielt zu nutzen. Wer eine längere Telefonnummer im Kopf haben will, um sie im nächsten Moment zu wählen, fasst die Ziffern am besten zu drei oder vier Zahlen zusammen. Etwa so: 123 456 789. „Mit dieser Menge an Informationseinheiten kann das Arbeitsgedächtnis gut umgehen“, erklärt Axel Buchner. Möchte man sich auf eine Prüfung vorbereiten, ist es sinnvoll, das Gelernte nach dem Büffeln wieder abzurufen. Zum Beispiel, indem man es einer Freundin erzählt oder es in eigenen Worten aufschreibt. Die Wiedergabe mag lückenhaft sein – aber am Ende behält man den Stoff so besser als durch wiederholtes Pauken, wie Studien gezeigt haben.

Von solchen „Abrufübungen“, wie Bäuml sie nennt, profitierten auch Menschen mit nachlassendem Gedächtnis. Ein Tagebuch führen, dem Partner von Erlebnissen des Tages berichten – das könne ein gewisser „Schutzpanzer gegen das Vergessen“ sein.

Übungen für das Gedächtnistraining

Auch manche Arzneien können vergesslich machen

Je älter Menschen werden, desto mehr treibe sie die Sorge um das Gedächtnis um, beobachtet die Hamburger Apothekerin Sabine Haul. In den vergangenen Jahren habe das zugenommen; die Fachfrau für geriatrische Pharmazie führt das auch darauf zurück, dass „fast jeder heute im Familien- oder Freundeskreis einen Fall von Demenz kennt“. Von Kundinnen und Kunden kämen häufig Sätze wie: „Ich brauch was für meinen Kopf, ich bin so döselig.“ Haul fragt als Erstes nach der Einnahme von Medikamenten: Eine ­Reihe von Arzneien, von Beruhigungsmitteln bis Schmerztabletten, kann vergesslich machen. Manchmal sei – gerade bei älteren Menschen – auch der Blutdruck zu niedrig eingestellt.

Von Selbstmedikation bei Gedächtnisproblemen rät Sabine Haul ab. Sie bittet die Patientinnen und Patienten, die Symp­tome ärztlich abklären zu lassen. Oft sind die Beschwerden harmlos. „Es ist normal, dass sowohl Arbeits- als auch Langzeit­gedächtnis mit den Jahren schwächer werden“, sagt Axel Buchner. Ein Prozess, der übrigens schon mit Mitte 20 beginnt. Auf den Alltag muss das nicht durchschlagen: Auch wer den 100-Meter-Sprint nicht mehr in seiner Jugendbestzeit läuft, kommt im Leben meist gut klar.

Nur Mut also – und Geduld haben mit sich, wenn man nicht gleich auf den Namen des Gegenübers kommt oder mit 70 etwas Neues lernen möchte. Keine Scheu haben, nachzufragen, wenn ­einem etwas entfallen ist. Egal in welchem Alter, Psychologe Buchner hat für alle, die etwas für ihr Gedächtnis tun wollen, diesen Rat: „Nutze es.“


Quellen:

  • Gruber T. Gedächtnis. Springer Basiswissen Psychologie. 2. Auflage. Berlin: Springer (2018)

  • Abel M, Bäuml KH: Would you like to learn more? Retrieval practice plus feedback can increase motivation to keep on studying. In: Cognition 19.05.2020, 201: 104427