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Vor den Toren des Botanischen Gartens Hamburg empfängt der nackte „Adam“ seine Gäste. Genussvoll beißt er in einen Apfel und beugt sich über seinen fetten Wanst, als zwei Besucherinnen sich nähern: Luisa Neubauer, 26, und ihre Oma Dagmar Reemtsma, 89. Die Enkelin muss zügig gehen, um mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Diese tritt in die Pedale ihres Elektro-Dreirads, an dessen Rückseite ein selbst gebasteltes Schild klebt. „Wir gehen mit der Erde um, als hätten wir noch eine zweite“, steht darauf. Im Vorbei­radeln verteilt sie noch schnell ein paar Flyer: „Für die Klimademo am Freitag.“

Es war Ihr Wunsch, dass wir uns für dieses Interview hier an dieser Statue vor dem Botanischen Garten treffen. Warum war Ihnen das so wichtig?

Luisa Neubauer: Die Bronzestatue hier heißt „Adam plündert sein Paradies“. Wir finden, sie ist ein Sinnbild für unseren Kampf für Klimaschutz.

Luisa Neubauer

Die Aktivistin ist seit drei ­Jahren das deutsche Gesicht der globalen Klimabewegung „Fridays for Future“. Bei einem Entwicklungshilfeprojekt in Tansania sah sie 2014 als Abiturientin, was der Klimawandel schon heute anrichtet – und setzt sich seither unter anderem für die Energiewende ein.

Dagmar Reemtsma: Diese Statue steht schon seit den 80er-Jahren hier. Viele Leute haben sich damals sehr darüber aufgeregt: „So ein hässlicher Mann, inmitten dieser schönen Natur.“ Sie haben die Botschaft des „Adam“ einfach nicht verstanden. Ich habe dann mit den Behörden und mit dem Künstler Kontakt aufgenommen und wir haben überlegt, was wir tun können. Jetzt gibt es da diese Stele zu Füßen des „Adam“. Darauf ist zu lesen: „Dieser Adam ist keine Idealgestalt, denn er steht für die Menschheit, die im Begriff ist, das Gleichgewicht der Natur und sich selbst zu zerstören. Hier soll mahnend daran erinnert werden, dass ein Paradies zu verlieren ist.“

Dagmar Reemtsma

Auch mit fast 90 Jahren fehlt der Großmutter von Klimaaktivistin Luisa Neubauer nicht die Energie zur Empörung. Über Mähroboter, die die letzten Insekten in der Wiese töten, oder Menschen, die denken, dass ein riesiges Auto zum Leben einfach dazugehört. Seit mehr als 30 Jahren engagiert sich die Hamburgerin in lokalen Umweltgruppen für Aufklärung – und eine bessere Zukunft.

Gerade ist Ihr gemeinsames Buch „Gegen die Ohnmacht“ erschienen. Darin beschreiben Sie, Frau Neubauer, Ihre Oma als Ihr großes Vorbild. Als Jugendliche war sie Ihnen dagegen öfter mal peinlich. Warum das?

Luisa Neubauer: Stellen Sie sich vor, Sie sind 13 Jahre alt, und das Wichtigste ist, in der Schule das richtige Outfit anzuhaben. Und Ihre Großmutter schimpft an der Kasse im Laden über die viel zu billigen Preise, fragt die Verkäuferin, welchen Stundenlohn die Näherin bekommt (wendet sich zu ihrer Großmutter). Ich weiß noch, wie du gesagt hast: „Guck mal, meine Jacke, die hat jetzt schon so viele Jahre gehalten. Es muss doch nicht immer alles neu sein.“ Und ich dachte an die Jungs in der Schule.

Dagmar Reemtsma: Das liegt auch an meiner Generation. In der Nachkriegszeit herrschte großer Mangel, an allem. Ich kann es bis heute nicht fassen, dass Kleider weggeworfen werden, nur weil sie nicht mehr „in“ sind. Als ich ein Kind war, hatten alle Kleider Aufsäume, die wurden Stück für Stück rausgelassen. Dazu kam jedes Jahr eine Schneiderin zu uns ins Haus. Ich erinnere mich noch daran, wie sie aus zwei Kleidern, die mir zu klein waren, ein neues machte. Das wurde mein Lieblingskleid! Meine eigene Nähmaschine ist inzwischen 67 Jahre alt, sie steht in meiner Küche und ich benutze sie noch immer.

Selber nähen, wiederverwerten, Dinge reparieren. Müsste man da wieder hin?

Luisa Neubauer: Es ist schön, wenn man Dinge selber machen kann. Aber das ist nicht nur eine Mentalitätsfrage. Es hat auch viel mit Privilegien zu tun. Etwa mit dem Privileg Zeit. Die braucht man, um etwas selber zu machen oder die Nähmaschine zum Reparieren zu bringen.

Dagmar Reemtsma: Das stimmt, ich hatte das Privileg, nicht für Geld arbeiten zu müssen. Ich hatte Zeit, mich zu engagieren, für Klimaschutz. Und ich hatte immer auch die Zeit, Dinge selber zu machen. Vor Weihnachten habe ich zu meiner Familie gesagt: „Ich wünsche mir nur selbst gebastelte Geschenke.“ Und so kam es, dass auch meine Enkelkinder bei mir in der Küche an der Nähmaschine saßen und Schürzen, Kissen und ­alles Mögliche genäht haben.

Luisa Neubauer: Ja, das war immer herrlich! (streichelt die Hand ihrer Oma).

Haben Sie als Kind viel Zeit mit Ihrer Oma verbracht?

Luisa Neubauer: Als ich in der Oberstufe war, da war freitags unser Tag. Da bin ich nach der Schule direkt zu ihr nach Hause zum Mittagessen. Wir haben gemeinsam im Keller gebastelt und, als ich älter wurde, ganz viel diskutiert – über die Elbvertiefung, die 80er-Jahre, die Klimakrise.

Dagmar Reemtsma: Du hattest immer viele Fragen und warst sehr neugierig.

Frau Neubauer, was bewundern Sie an Ihrer Großmutter?

Luisa Neubauer: Großartig finde ich, dass sie die Dinge beim Namen nennt. Sie hat diese mutige Rigorosität, etwas anzusprechen, auch wenn das unbequem ist. Wenn sie sich darüber ärgert, dass ihre Nachbarin mit einem Laubbläser den Insekten in ihrem Garten schadet, spricht sie das an. Am liebsten freundlich. Meine Großmutter hat nie aufgehört, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen in all den Jahren. Auch wenn die Widerstände oft groß waren. Die Empörung in ihr ist am Ende immer stärker. Und ihre Zuversicht, etwas bewirken zu können.

Sie sind beide Aktivistinnen für Klimaschutz. Wie kam es dazu?

Dagmar Reemtsma: Der große Einschnitt war für mich Tschernobyl. Damals entstand hier in Hamburg die Umweltgruppe Elbvororte. Da wuchs ich dann so richtig hinein in die Umweltbewegung. Aus „Atomkraft? Nein danke“ wurde schnell „Solar, na klar!“. Bereits in den 90ern war die Energiewende unser Ziel. Wir sind jetzt alle uralte Seniorinnen und Senioren. Aber die Gruppe gibt es immer noch.

Luisa Neubauer: Als ich eine Jugendliche war, waren für mich Umwelt- und Klimaschutz weit weg. Dabei war das Thema Klimakatastrophe schon seit Jahren präsent: in den Zeitungen, im Fernsehen, in der Schule, in Gesprächen mit Freunden. Rückblickend betrachtet finde ich es schockierend, wie lange ich gebraucht habe, um zu begreifen, dass an unserer Art zu leben etwas grundsätzlich nicht stimmt. Dass wir dabei sind, uns in die schlimmste Krise der Menschheit zu manövrieren. Ich habe das lange verdrängt.

Verdrängung ist auch für Sie ein großes Thema, Frau Reemtsma.

Dagmar Reemtsma: Dein Schwiegervater war Alwin Reemtsma (Anmerkung: ein Sohn der hanseatischen Tabakdynastie). Ich hatte zu ihm ein gutes Verhältnis, er war zuvorkommend, gutmütig und großzügig. Er war es, der mir meine Nähmaschine geschenkt hat. Wie eng er mit den Nazis zusammen­arbeitete, habe ich erst 1995 auf einem Vortrag erfahren. Ich war fassungslos. Mein Vater, müssen Sie wissen, war im Konzen- trationslager umgekommen. Als ich mehr über Alwin erfuhr, war ich 60 Jahre alt und hatte bis dahin keine Ahnung von der Schuld, die er auf sich geladen hatte.

Luisa Neubauer mit Dagmar Reemtsma, ihrer Großmutter.

Luisa Neubauer mit Dagmar Reemtsma, ihrer Großmutter.

Verdrängung ist auch ein großes Thema unserer Zeit. Obwohl die Krise mittlerweile so präsent ist, verdrängen wir sie noch immer. Wie kann das sein?

Luisa Neubauer: Verdrängung hat manchmal auch etwas mit Selbstschutz zu tun. Aber ich glaube, dass diese Verdrängung vielen Menschen zunehmend schwerfällt und sie merken, dass es ihnen psychisch nicht guttut. Ökologisch betrachtet fehlt uns schlicht die Zeit für mehr Verdrängung. Wir müssen jetzt handeln. Was mir Hoffnung macht, ist, dass immer mehr junge Menschen sich dieser Krise bewusst stellen. Gestern war ich an einer Berliner Schule und habe mit Jugendlichen gesprochen. Die ­sagen: „Natürlich gehen wir für das Klima auf die Straße. Wir lernen doch hier nicht für eine Zukunft, die es nicht mehr geben wird!“ Wenn in dem Alter jemand zu mir gesagt hätte: Hey Luisa, du könntest freitags mit auf die Straße gehen. Ich hätte gesagt: Was? Freitags? Bist du wahnsinnig? Da habe ich Sport.

Bei den Demos sieht man viele junge Menschen. Wo sind die Älteren?

Luisa Neubauer: Gerade aus der Groß­elterngeneration gehen viele mit uns auf die Straße. Wer fehlte, war lange die Generation der Babyboomer, die heute in den Vorstandsetagen der Konzerne und in den Ministerien sitzt. Sie hätte die Macht, etwas zu bewirken. Doch es gibt hier eine unglaubliche Verweigerung, die Realität so anzunehmen, wie sie ist. Langsam ändert sich das, immerhin.

Dagmar Reemtsma: Ich frage mich immer wieder: Warum ist das so? Warum stehen da nicht mehr Menschen auf und wehren sich? Warum sind diese riesigen SUVs heute die Autos, die sich am allerbesten verkaufen? Ich verstehe es nicht.

Luisa Neubauer: Ich kann ja verstehen, wenn Menschen das Gefühl haben, sie hätten sich das verdient und man müsste sich ein großes Auto oder andere Dinge auch gönnen dürfen. Aber das funktioniert nur, solange man komplett ausblenden kann, was die Folgen unseres Verhaltens sind. Und dann stellt man fest: Es werden sich ­einige Gewohnheitsmuster ändern müssen. Wenn das nicht passiert, wird sich durch die Klimakrise alles ändern.

Liegt es doch an uns Menschen? Können wir einfach nicht genug kriegen?

Luisa Neubauer: Dass es an der mensch­lichen Gier liegt, ist doch ein Märchen. Man erzählt uns, dass wir gar nicht anders können, als auszubeuten. Aber das ist falsch. Es gibt eine kleine Gruppe der CEOs, der Großindustrien, deren politischer Unterstützer und ihrer Lobbyisten. Und deren Profitinteressen wurde bisher immer freie Bahn eingeräumt. Aber das hat nichts mit der menschlichen Natur zu tun, sondern mit Strategien, die angewandt werden, um die Interessen dieser Industrien weiterhin zu schützen.

Dagmar Reemtsma: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor 100 Jahren konnte man in den USA weite Strecken mit der Straßenbahn zurücklegen. Dann kamen die großen Automobilwerke, kauften große Teile des öffentlichen Verkehrs auf und ersetzten ihn durch ihre Busse und Autos.

Ihr gemeinsames Buch trägt den Titel „Gegen die Ohnmacht“. Was können wir gegen das lähmende Gefühl, die Klimakrise nicht eindämmen zu können, wirklich tun?

Luisa Neubauer: Ohnmacht ist ja nicht die Folge von einer schlechten Nachricht. Ohnmacht ist die Folge von dem Gefühl, hier passiert etwas Schlimmes und wir können nichts dagegen tun. Aber das stimmt nicht. Jeder kann natürlich etwas tun. Genau dafür steht „Fridays for Future“. Wir sagen ganz konkret: „Das kannst du in deiner Schule, in deinem Stadtteil oder mit uns auf der Straße tun.“ Und das mit ganz viel guter Laune. Wir sind viele und wir haben eine Stimme.

Dagmar Reemtsma: Was mich ärgert, ist dieses Schulterzucken bei manchen Menschen, diese Gleichgültigkeit. So nach dem Motto: Ich kann gegen den Klimawandel doch eh nichts mehr machen. Jeder kann etwas tun. Wenn ich etwa an diesen tristen Gärten vorbeiradle, wo es fast gar keine insektenfreundlichen Pflanzen gibt – und dann fährt da auch noch so ein Mähroboter rum, schneidet den Rasen raspelkurz und tötet so die wenigen Insekten. Dann muss ich mich einfach aufregen.

Luisa Neubauer: Und das finde ich gut. Ich bin da aber etwas anders. Was mich zum Beispiel ärgert, ist diese Flucht vor der Verantwortung. Dieselben Menschen, die heute sagen „Das ist doch eh alles zu spät“, die haben gestern noch gesagt, dass alles gar nicht so schlimm sei. Diese Haltung, als einzelner Mensch nichts tun zu können, verstehe ich nicht. Warum unterschätzen wir uns nur so? Wir leben in einer Welt, die von Menschen geschaffen wurde, die sich wichtig genommen haben. Warum gibt es ein Frauenwahlrecht? Warum haben wir ­eine Fünftagewoche? Warum eine Ehe für alle? Weil Menschen davon überzeugt waren, etwas bewegen zu können. Wir gehen doch auch wählen, obwohl wir nur eine Stimme haben.

Egal, wie dramatisch die Wissenschaft vor der Katastrophe warnt. Egal, wie viele Menschen für Klimaschutz demons­trieren: Bisher ist zu wenig passiert. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass es gelingt, die Katastrophe aufzuhalten?

Dagmar Reemtsma: Ich habe mein Fahrrad und kann raus in die Natur. Ich liebe es, hierher in den Botanischen Garten zu ­kommen. Ich kann mich freuen an den Blumen, dem Himmel, den Vögeln. Schauen Sie, da hinten (zeigt auf einen blühenden Strauch), da fliegt ein Pfauenauge. Wenn ich das nicht mehr hätte, würde ich vielleicht schon zu Hause sitzen wie eine verbitterte Greisin.

Luisa Neubauer: Ich empfinde das ganz ähnlich. Die Welt ist so gewaltig schön. Und diese Schönheit ist auch hier, direkt vor unseren Augen. In der Hierarchie von Menschen, die die Hoffnung verlieren, sehe ich mich ganz am Ende. Wir haben mit „Fridays for Future“ innerhalb von dreieinhalb Jahren mehr Menschen für Klimaschutz auf die Straße gebracht, als viele für möglich gehalten haben. Ich sehe jeden Tag, was Menschen bewegen können. Genau in diesem Moment, in dem wir miteinander sprechen, protestiert meine Freundin in Uganda gegen ein Öl-Projekt. Jemand anderes in Kanada spricht mit der Regierung über Klimaschutz. Kinder melden sich vom Unterricht ab, um am Freitag gemeinsam für ­Klimaschutz zu protestieren. Das passiert jetzt und überall auf der Welt.

Was wünschen Sie sich von den Menschen?

Luisa Neubauer: Ich wünsche mir, dass die Menschen, was sie empfinden, auch ausdrücken. Wir werden nicht gleichgültig geboren. Wir suchen Nähe, Frieden, sind empathisch. Viele stört es, dass sie jeden Tag Unmengen von Plastikmüll produzieren. Viele kritisieren, dass wir es noch immer nicht geschafft haben, aus der Kohle auszusteigen und regenerative Energien auszubauen. Wir müssen dieses Gefühl ernst nehmen und für mehr Klimaschutz eintreten. Wir sind viele und gemeinsam können wir etwas bewegen.

Dagmar Reemtsma: Empört euch und engagiert euch. Bleibt wachsam und verliert nicht die Zuversicht auf ­eine gute Zukunft.