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Herr Prof. Becker, Sie sagen, dass digitale Technik die Lebenserwartung älterer Menschen erhöhen kann. Was stimmt Sie so optimistisch?

Mit Hilfe digitaler Technik können wir beispielsweise die Mobilität und Aktivität älterer Menschen messen. In der ärztlichen Praxis ist es bislang so: Werte wie Blutdruck, Cholesterin und Blutzucker werden routinemäßig gemessen. Was aber nicht gemessen wird, ist die körperliche Aktivität und Mobilität von Menschen. Dabei könnten wir durch digitale Messung objektive Zahlen bekommen.

Und das wäre wichtig?

Das würde viel bringen, denn die subjektiven Angaben sind unzuverlässig: Männer überschätzen häufig ihre körperliche Aktivität und Frauen unterschätzen diese. Aus Studien wissen wir: Wenn wir den Menschen verständlich erklären, dass sie sich zu wenig bewegen, sind die meisten von ihnen gerne bereit, die Schrittzahl um 1000 oder 1500 Schritte zu erhöhen. Das führt zu einer höheren Lebenserwartung, besseren geistigen Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Allein dadurch senken Menschen ab 70 ihre Sterblichkeit im Laufe von mehreren Jahren um 20 bis 30 Prozent, ohne dass sie dafür eine Tablette schlucken müssen.

Welche digitalen Lösungen stellen Sie sich konkret vor?

Ich denke dabei an Schrittmesser, und zwar nicht nur die handelsüblichen Fitnesstracker und Smartwatches. Es gibt bereits viel präzisere Schrittmesser, mit denen wir nicht nur die Zahl der Schritte messen können. Vielmehr können wir auch die Schrittlänge und das Tempo innerhalb und außerhalb der Wohnung messen, wie viele Meter jemand pro Woche gegangen ist und wie gleichmäßig jemand geht. Solche Messungen helfen in der Diagnose und in der Behandlung. Im Grunde sollte man in naher Zukunft bei älteren Menschen mindestens einmal im Jahr eine präzise Messung der Mobilität über eine Woche durchführen, idealerweise auch das Gehen mit einem Smartphone filmen.

Wofür könnte digitale Technik noch hilfreich sein?

Sie könnte auch die Seh- und Hörfähigkeit und die geistige Leistungsfähigkeit einschätzen. Das können ältere Menschen auch zu Hause alleine machen. Es gibt beispielsweise sehr gute kostenlose kommerzielle Tests fürs Smartphone, mit denen man selbstständig das Gehör oder das Sehvermögen testen kann. Wenn man schlechter hört, hat das erhebliche Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit. Das Risiko für eine Demenz ist erhöht.

Geht das nicht auch ohne digitale Mittel?

Digitale Technik kann viele Dinge sichtbar machen, die medizinischen Experten sonst entgehen. Es gibt beispielsweise einen Test, um die Mobilität und das Sturzrisiko von ältereren Menschen einzuschätzen. Dabei muss die Person von einem Stuhl aufstehen, drei Meter gehen, sich um 180 Grad drehen, zurück zum Stuhl gehen und sich setzen, während er sich wieder um 180 Grad dreht. Mit Hilfe von digitalen Sensoren lässt sich das Verhalten bei diesem Test besser bewerten als mit bloßem Auge. So erkennen Sensoren besser, wenn Menschen zwar noch keine Probleme mit dem Gehen allgemein haben, aber bereits mit dem Drehen oder Aufstehen. Das kann zum Beispiel ein Hinweis auf eine beginnende Parkinson-Erkrankung sein.

Welche Hindernisse sehen Sie bei dieser Entwicklung?

Gerade wenn man an Apps denkt, die Menschen selbstständig zur Einschätzung ihrer Gesundheit einsetzen, muss ich sagen: Bislang gibt es zu wenig wissenschaftlich geprüfte Apps. Auch müssten die Apps noch leichter zu bedienen sein.

Viele ältere Menschen haben Vorbehalte gegenüber digitaler Technik. Wie wollen sie diese überwinden?

Zunächst einmal: In Deutschland wird bei Zahlen zur Nutzung digitaler Geräte oft der Eindruck erweckt, dass die Technik für ein Drittel oder sogar die Hälfte älterer Menschen zu kompliziert ist oder sie die Technik nicht nutzen wollen. Diese Zahlen sind sicherlich zu hoch gegriffen. Es gibt aber etwa ein Fünftel der älteren Menschen, die sich mit digitaler Technik wie Smartphones schwer tun. Für diese Gruppe brauchen wir Menschen aus der Familie, der Nachbarschaft oder aus der Kommune, die sie bei der Nutzung der Geräte unterstützen. Vor allem, um die ersten Hürden zu bewältigen. Gleichzeitig dürfen wir die älteren Menschen nicht unterschätzen und sollten ihnen durchaus zutrauen, sich mit digitaler Technik zu beschäftigen.


Quellen:

  • Leeuwerk ME, Bor P, Ploeg HP et al.: The effectiveness of physical activity interventions using activity trackers during or after inpatient care: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity: https://ijbnpa.biomedcentral.com/... (Abgerufen am 24.08.2023)
  • Braakhuis HEM, Berger MAM, Bussmann JBJ: Effectiveness of healthcare interventions using objective feedback on physical activity: A systematic review and meta-analysis . Journal of Rehabilitation Medicine: https://medicaljournalssweden.se/... (Abgerufen am 24.08.2023)