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Essen war für Hanna irgendwann nur noch Stress. Jeden Morgen stand sie auf und überlegte, was sie an dem Tag kochen, welche Lebensmittel sie in welcher Zusammenstellung zu sich nehmen sollte. „Alles musste ganz bestimmten Anforderungen genügen“, sagt die junge Frau.

Zum Frühstück Haferbrei mit Heidelbeeren, aber nicht mit Kuhmilch. Mittags Naturreis mit Gemüse, ein Schuss Kokosmilch darf auch sein, es muss ja satt machen. Abends eine Suppe. Alles selbst gekocht. Stark verarbeitete Lebensmittel verbannte die Studentin aus ihrer Küche. Bloß kein Brot, denn Weizen und andere Getreidesorten reizen den Darm, davon war sie überzeugt. Auch Milchprodukte strich sie vom Speiseplan. Raffinierten Zucker und Alkohol sowieso. Zu viele Kohlenhydrate oder Fett sollten die Mahlzeiten auch nicht enthalten. „Ich habe diese Dinge als Feind betrachtet.“

Echte Störung oder Lebensstil-Phänomen?

Knapp zwei Jahre litt Hanna, die in Wirklichkeit anders heißt, an Orthorexie – dem Zwang, sich möglichst „gesund“ ernähren zu wollen. Das ist möglicherweise eine Art Essstörung. Fachleute bezeichnen das Phänomen als Orthorexia nervosa, abgeleitet vom griechischen „orthos“ für richtig und „orexis“ für Appetit. Die Forschung zur Orthorexie steht jedoch noch am Anfang, ein anerkanntes Störungsbild mit eigenen diagnostischen Kriterien ist Orthorexie nicht.

„Dafür brauchen wir noch mehr Studien“, sagt Psychologin Friederike Barthels von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Zudem ist eine gesunde Ernährung mit Regeln erst einmal gut, man ist nicht automatisch auf dem Weg, ein schädliches Verhalten zu entwickeln. Daher sehen manche Forscherinnen und Forscher in der Orthorexie eher ein Lebensstil-Phänomen. Sie könnte aber auch eine Begleiterkrankung oder ­eine abgrenzbare Störung sein.

Unflexible Ernährungsregeln und strikte Kontrolle

Um das besser erforschen zu können, hat die Arbeitsgruppe um Psychologin Barthels in einer wissenschaftlichen Arbeit mög­liche Kriterien für die Diagnose vorgeschlagen: Unter anderem fixieren sich Betroffene auf rigide, unflexible Ernährungsregeln, die sie für gesund halten, und kontrollieren diese strikt. Außerdem widmen sie der Ernährung übermäßig viel Zeit und erleben zum Beispiel Angst und Schuld in Bezug auf das Essen.

Körperliche Folgen – im Extremfall Mangelernährung – und Einschränkungen im sozialen sowie im Berufsleben sind möglich. Ab wann wird das Verhalten also bedenklich? „Wenn jemand körperlich oder psychisch darunter leidet“, so Barthels. Bei Beschwerden ist zunächst ärztlicher Rat nötig. Zudem weist die Expertin auf Beratungsstellen für Essstörungen hin.

Die Angst, etwas Falsches zu essen

Hanna beschäftigte sich anfangs nicht übertrieben mit der richtigen Ernährung. Sie machte eine Ernährungsumstellung unter Aufsicht einer medizinischen Beraterin. Die Empfehlung lautete, auf Kuhmilchprodukte zu verzichten. „Ich habe gemerkt, dass mir das wirklich guttut“, erinnert sich Hanna. Ein gesünderer Lebensstil für mehr Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit war ihr Ziel. In einer Zeit, in der ihr Leben geprägt war von großen Veränderungen – dem Auszug von zu Hause, dem Beginn des Studiums –, gab es ihr Halt, sich mit dem „richtigen“ Essen zu beschäftigen. Sie versah ihren Speiseplan mit vielen Regeln, das Thema Essen beanspruchte immer mehr ihrer Zeit.

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Zwangsstörung

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Hanna brachte sich fast ausschließlich ihr eigenes Essen mit in die Mensa: „Ich konnte nicht verstehen, wie sich die anderen ungesunde Pizza und Pasta hineinstopfen.“ Sie war überzeugt, für ihren Körper das Richtige zu tun. Bei einem längeren Auslandsaufenthalt stieß sie an ihre Grenzen. „Der nächste Supermarkt war weit weg“, sagt sie. Statt etwas zu unternehmen, war sie damit beschäftigt, die Lebensmittel zu finden, die sie für gesund hielt. Aus Angst, etwas Falsches zu sich zu nehmen, aß sie immer weniger.

Betroffene neigen zum Perfektionismus

Das ist typisch für Menschen mit Orthorexie, sagt Professorin Martina de Zwaan von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Sie essen das, was für sie individuell als gesund gilt, und fühlen sich damit oft überlegen.“ Sie ergänzt: „Meist sind es perfektionistische, aber ängstliche und zur Zwanghaftigkeit neigende Menschen.“

Zehn Kilo verlor Hanna innerhalb eines Jahres. Von knapp 60 auf 50 Kilo bei einer Größe von 1,65 Meter. Freunde und Familie machten sich Sorgen. Aber angreifbar war sie nicht: Sie hörte ja nie ganz auf zu essen, sondern ernährte sich in ihren Augen gesund. Innerlich wuchs der Leidensdruck. „Ich war sehr verkopft, hatte ständig Angst, etwas falsch zu machen, habe mir dauernd Vorwürfe gemacht, wenn ich es zu lax angegangen bin.“ Sie fühlte sich schlapp. Der Hausarzt diagnostizierte eine depressive Verstimmung und Verdacht auf eine Essstörung. Er schickte sie in eine psychosomatische Klinik am Chiemsee. „Dass ich ein gestörtes Essverhalten habe, habe ich erst dort eingesehen.“

1–2 Prozent der Allgemeinbevölkerung könnten, gemessen mit der Düsseldorfer Orthorexie Skala, an einem orthorektischen ­Ernährungs­verhalten leiden

Quelle: Barthels und Pietrowsky (2012)

Häufig fehlt eine Störungseinsicht

Menschen wie Hanna befassen sich zwar zwanghaft mit Ernährung. De Zwaan erklärt aber einen Unterschied zu Zwangsstörungen: „Menschen mit Zwangsstörung wissen, dass ihr Verhalten nicht normal ist. Bei Orthorexie fehlt häufig die Störungseinsicht.“ Eine Abgrenzung von der Magersucht sehen Fachleute darin, dass Menschen mit Orthorexie so gesund wie möglich sein wollen. Sie beschränken sich aus gesundheitlicher Sorge – eine Folge kann Gewichtsverlust sein. Menschen mit Magersucht sorgen sich um ihr Aussehen und Gewicht – der Gewichtsverlust ist Teil der Erkrankung.

Gleichzeitig bestätigt Psychologin Barthels eine Nähe der Orthorexie zu anerkannten Essstörungen: „Sie kann der Beginn einer Essstörung sein oder nach ­einer Behandlung übrig bleiben.“ Auch Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien, sagt: „Bei Magersucht weisen circa 30 Prozent der Betroffenen ein orthorektisches Ernährungsverhalten auf.“

Wie sieht die Therapie aus?

Da es keinen speziellen Therapieansatz gibt, sagt Ärztin de Zwaan: „Wir behandeln individuell. Zum Beispiel vermitteln wir Verständnis für die Störung, motivieren, das Essverhalten zu ändern und die rigiden Ernährungsregeln aufzuweichen.“ Ziel der Therapie sei eine ausgewogene und regelmäßige Ernährung.

Hanna musste lernen, vermeintlich ungesundes Essen nicht mehr als Feind zu sehen. In Therapie ist sie heute nicht mehr. „Bei manchen Dingen kostet es mich immer noch große Überwindung, sie zu essen“, sagt sie. Aber: „Der Spaß am Essen ist wieder da.“

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Quellen:

  • Donini L M, Barrada J R, Barthels F et al.: A consensus document on definition and diagnostic criteria for orthorexia nervosa. In: Eating and Weight Disorders - Studies on Anorexia, Bulimia and Obesity: 27.11.2022, https://doi.org/...
  • Barthels F, Meyer F, Pietrowsky R: Die Düsseldorfer Orthorexie Skala–Konstruktion und Evaluation eines Fragebogens zur Erfassung ortho-rektischen Ernährungsverhaltens. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie: 13.08.2015, https://doi.org/...
  • Dunn T M, Bratman S: On orthorexia nervosa: A review of the literature and proposed diagnostic criteria. In: Eating Behaviors: 18.12.2015, https://doi.org/...
  • Jana Strahler: Orthorexia nervosa: Ein Trend im Ernährungs- verhalten oder ein psychisches Krankheitsbild? Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Psychotherapeuten Journal: https://www.psychotherapeutenjournal.de/... (Abgerufen am 22.12.2022)