Wenn Eltern ihre Kinder tracken: Schutz oder Kontrolle?
„Es ist ein Unding, dass Kinder vom Unterricht abgelenkt oder in ihrer Vorviertelstunde von Eltern mit Anweisungen behelligt werden“, schreibt eine Schulleiterin aus Süddeutschland in einem Elternbrief. Darin berichtet sie, dass immer mehr Grundschülerinnen und -schüler eine Smartwatch – eine Digitaluhr, mit der Nachrichten verschickt und empfangen werden können – am Handgelenk tragen.
Ortungstechnologien sollen helfen, die eigenen Kinder zu überwachen?
Weltumsegler, Klabauter oder Pirat: Kinderuhren mit Ortungsfunktion tragen abenteuerliche Namen. Sie oder ähnliche Geräte[1] werden mittlerweile nicht nur von Eltern verwendet, um ihren Kindern Anweisungen zu schreiben. Sondern auch, um nachzuvollziehen, wo ihre Kinder sind und was sie machen. Von Digitaluhr über Funksender bis hin zu GPS-Trackern gibt es viele elektronische Möglichkeiten, den Nachwuchs zu überwachen. Ortungstechnologien dieser Art können ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, aber sich auch negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirken.
Doch welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, das eigene Kind zu überwachen? Armbanduhren oder GPS-Tracker zum Beispiel sind leicht zu bedienen, da mit sie weniger Funktionen als etwa ein Smartphone ausgestattet sind. Sollen Kinder damit nicht nur überwacht, sondern auch mit ihnen kommuniziert werden, müssen die Geräte mit einer SIM-Karte verknüpft sein. Bei den meisten Smartwatches können Eltern dann Nummern in einer Kontaktliste hinterlegen und sehen, mit wem ihr Nachwuchs telefoniert, videochattet oder Sprachnachrichten austauscht.
Mit der sogenannten „Voice Monitoring“-Funktion[2] ist es möglich, auf Knopfdruck die Umgebungsgeräusche des Kindes zu hören. Über Satellit kann die Position der meisten smarten Kinderuhren oder Schlüsselanhänger jederzeit bestimmt werden. In der Regel gibt es zusätzlich eine Geofencing-Funktion. Damit können Eltern über eine zugehörige App auf ihrem eigenen Handy bestimmte Bereiche festlegen, die das Kind nicht verlassen darf. Tut es das doch, werden die Eltern alarmiert.
Schmaler Grat zwischen elterlicher Aufsichtspflicht und Eingriff in die Privatsphäre
Eltern tragen die Verantwortung für ihre Kinder und müssen sie vor Gefahren schützen, so will es das Gesetz[3]. Im stressigen Familienalltag mag es daher verlockend klingen, sich mit Technik dabei unterstützen zu lassen. Allerdings haben auch Minderjährige ein Recht auf Privatsphäre. „Kinder und Jugendliche sollen eine eigene selbstständige Persönlichkeit entwickeln und sich frei fühlen, ihre Meinung zu äußern“, sagt Medienethikerin Jessica Heesen von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Daher sei es für sie besonders wichtig, ihre privaten Lebensbereiche zu achten und nicht zu lernen, dass man immer beobachtet werde.
„Als Teil des Persönlichkeitsrechts ist auch das Recht auf Privatheit über das Grundgesetz verbürgt“, sagt sie. Darüber hinaus gebe es die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), in deren Auslegung explizit auf das Leben von Kindern im digitalen Zeitalter eingegangen werde[4]. In der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSVGO) würden Kinder ebenfalls als besonders schutzwürdig[5] benannt.
Mit Wearables produzieren Kinder Daten – die Kriminelle klauen könnten
Dabei müssen es nicht immer die Eltern selbst sein, die mit ihrer Kontrolle die Rechte der Kinder verletzen. Wer technische Hilfsmittel nutzt, läuft Gefahr, dass die Technik gehackt wird und Unbefugte dadurch auf die Daten[6] zugreifen[7]. Das kann dazu führen, dass nicht nur der Aufenthaltsort, sondern auch sensible Informationen – zum Beispiel Gesundheitsdaten von Pulsmesser oder Schrittzähler – verbreitet werden. Eltern sollten daher die Datenschutzvereinbarungen des Produkts gut durchlesen, rät Heesen, aber auch, welche Sicherheitsoptionen es bietet.
Tracking-Möglichkeiten vermitteln falsches Gefühl von Sicherheit
Viele Funktionen der Sender oder Endgeräte schützen aber sowieso nur vermeintlich vor Gefahren. Standortbestimmung oder Geofencing können im Zweifelsfall sogar ein falsches Gefühl von Sicherheit erzeugen.
Manche Unternehmen weisen auf Vermisstenraten hin, um ihre Systeme zu verkaufen. Dabei ist die Aufklärungsquote der Vermisstenfälle in Deutschland auch ohne technische Hilfsmittel seit Jahren hoch. Nach Angaben des Bundeskriminalamts liegt sie bei 97 Prozent[8] jährlich. „Im Extremfäll wäre doch auch das erste, das ein Entführer macht, die Smartwatch wegzuschmeißen“, sagt Medienethikerin Heesen.
Oft geht es mehr um die Ängste der Eltern
Während der Pandemie sind viele Familien stark unter Druck geraten. Bei Kindern und Jugendlichen haben seelische Belastungen wie Depressionen, Zwangsstörungen und Ängste zugenommen[9].Doch auch viele Erwachsene klagten über mehr Stress und depressive Smptome[10]. Seit den 60er-Jahren hat sich das Kinderbild gewandelt. Das brave und folgsame Kind soll heute selbstständig und neugierig sein[11]. Paradoxerweise werden aber heute mehr als die Hälfte der Kinder unter zehn Jahren noch von den Eltern in die Schule gebracht[12].
Und um vermeintliche Risiken zu minimieren, greifen manche Eltern zu technischen Hilfsmitteln. Diese allein können aber keine Ängste heilen. „Der Gedanke, es könnte jederzeit etwas passieren, schwingt ja immer mit, wenn ich so ein Gerät nutze“, sagt Charlotte Horsch vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF). Ihre Erfahrungen zeigten darüber hinaus, dass Kinder und Jugendliche zuweilen kreative Ideen entwickeln, um sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen. „Da wird das Gerät an einen Zaun gehängt und das Kind geht weiter weg, als es eigentlich darf“, sagt sie. Das schade vor allem dem Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind.
Tracking: Schlimmstenfalls ein Entwicklungshemmer
Ständige Überwachung und Kontrolle kann Stress auslösen und das Selbstbewusstsein mindern. Das kann so weit gehen, dass Kinder kontrollierender Eltern im Erwachsenenalter Probleme haben, gesunde Beziehungen zu führen[13]. Zwar sinkt bei Eltern kurzfristig das Stresslevel, wenn sie kontrollieren können, dass ihr Kind in Sicherheit ist. Durch ihr Verhalten können sie ihren Kindern aber vermitteln, dass sie alleine nicht zurechtkommen[14]. Das kann im Erwachsenenalter dazu führen, dass übertrieben fürsorglich behandelte Kinder später dazu neigen, Signale falsch zu deuten oder überängstlich zu reagieren[15].
Ein Erziehungsstil, der Kinder in ihrem Willen nach Selbständigkeit unterstützt, kann hingegen das Wohlbefinden aller Familienmitglieder steigern[16]. Wer bereits in der Kindheit gelernt hat, dass ihm oder ihr etwas zugetraut wird, kann als Erwachsener besser mit Belastungssituationen umgehen[17].
Wie Eltern ihre Ängste in den Griff bekommen
Für Eltern kann es schwierig sein, ihre Kinder loszulassen, gerade, wenn sie selbst das Gefühl haben, wenig von der Technik zu verstehen. „Ich erlebe bei Eltern eine große Unsicherheit gegenüber neuen Medien und Technik“, sagt Medienexpertin Horsch. Die eigentlichen Fragen nach einem sicheren Leben in einer digitalisierten Welt würden Überwachungstechnologien nicht beantworten. Ratsamer ist es, selbst ein gutes Vorbild zu sein und ehrlich miteinander zu kommunizieren. So legen zum Beispiel Studien nahe, dass Eltern, die nicht wütend werden, wenn ein Kind einen Fehler eingesteht, seltener angelogen werden[18]. Vertrauen ist also besser als Kontrolle.
Kinder im Umgang mit Medien begleiten und beraten
Grundsätzlich betont Expertin Horsch aber: „Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder nicht allein mit Medien lassen und in den technischen Hilfsmitteln einen Ersatz für Medienerziehung sehen.“ Sie rät, Interesse an der Erlebniswelt der Kinder zu zeigen und gesprächsbereit zu bleiben. „Kinder sollten im Umgang mit Medien und Elektronik stark gemacht werden und wissen: Wenn etwas passiert, bin ich für dich da“, sagt Medienwissenschaftlerin Horsch.
Eltern befinden sich also in einem Spannungsfeld zwischen Fürsorgepflicht und dem kindlichen Wunsch nach Selbstbestimmung. Daher sollten sie Smartphones, GPS-Tracker und Co. nicht komplett verteufeln, sagt Philosophin Jessica Heesen. Sie plädiert dafür, dass Eltern ihre Kinder altersgemäß an elektronische Endgeräte heranführen. „Bei einem Ausflug gemeinsam GPS-Tracker zu verwenden, damit die Kinder allein die Umgebung erkunden können. Das kann auch Spaß machen“, sagt sie. Allerdings mit einer Einschränkung: Die Überwachung muss freiwillig sein.
Quellen:
- [1] Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2022-Jugend, Information;Medien. mpfs: https://www.mpfs.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [2] Schau hin: Smartwatch nicht zur Kontrolle von Kindern einsetzen. Online: https://www.schau-hin.info/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [3] Bundesministerium der Justiz: Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze. Online: https://www.gesetze-im-internet.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [4] Croll J, Dreyer S: Schutz, Befähigung, Teilhabe im digitalen Raum Kinder- und Jugendmedienschutz im Lichte der Kinderrechte: Nummer 25 lebt!. Online: https://www.bzkj.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [5] Amtsblatt der Europäischen Uniion: Verordnungen. Online: https://eur-lex.europa.eu/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [6] Netzwelt: Apple AirTag gehackt: Schlüsselfinder könnte zum Stalking-Tool werden. Online: https://www.netzwelt.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [7] TechCrunchEarly Stage: Security flaws in a popular GPS tracker are exposing a million vehicle locations. Online: https://techcrunch.com/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [8] Bundeskriminalamt: Die polizeiliche Bearbeitung von Vermisstenfällen in Deutschland. Online: https://www.bka.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [9] aerzteblatt: Seelische Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Eltern während der COVID-19-Pandemie. Online: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [10] Bundesministerium für Bildung und Forschung: NAKO Gesundheitsstudie: Stärkere psychische Belastung durch Corona-Pandemie. Online: https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/... (Abgerufen am 28.03.2023)
- [11] Henry-Huthmacher C & Hoffmann E: Das selbstständige Kind, Das Kinderbild und Erziehung und Bildung. Online: https://www.kas.de/... (Abgerufen am 28.03.2023)
- [12] Institut für Generationenforschung: Generation Alpha Studie. https://www.generation-thinking.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [13] Society for Research in Child development: Perceived Psychological Control in Early Adolescence Predicts Lower Levels of Adaptation into Mid-Adulthood. Online: https://srcd.onlinelibrary.wiley.com/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [14] Affrunti N, Woodruff-Borden J: Angststörungen bei Kindern: Perfektionismus und Überbehütung schaden. aerztebaltt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [15] Crane C, Martin M: Verhaltensmuster: Eltern prägen Krankheitsverhalten schon im Kindesalter. aerzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [16] Neubauer, A, Schmidt, A et al.: Certain Parenting Behaviors Associated with Positive Changes in Well-Being during COVID-19 Pandemic. Society for Research in Child Development: https://www.dipf.de/... (Abgerufen am 24.03.2023)
- [17] Göbel P, Flemming E, Mestel R et al.: Bindung im Erwachsenenalter und körperliche Gesundheit. Die Psychotherapie: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 28.03.2023)
- [18] Smith C, Rizzo Michael: Children’s confession- and lying-related emotion expectancies: Developmental differences and connections to parent-reported confession behavior. Journal of Experimental Child Psychology: https://www.sciencedirect.com/... (Abgerufen am 24.03.2023)