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Herr Leyck Dieken, Sie sind der Geschäftsführer der Gematik, der Firma, die das Gesundheitswesen digitalisieren soll. Wo stehen wir, ist Deutschland noch Schlusslicht?

Als ich vor drei Jahren den Job übernommen habe, standen wir auf Platz 18 in Europa. Wir sind auch das 18. Land, das das elektronische Rezept einführt. Aber wir haben deutlich an Schwung gewonnen. Schon in der letzten Regierungszeit hat es viele Digitalisierungsinitiativen der Regierung gegeben. Und diese Regierung aktuell ist auch entschlossen, diesen Weg weiterzugehen.

Was heißt das?

Die Gematik betreibt ja das Netz, in dem die Gesundheitsdaten der Menschen in Deutschland sicher abgelegt und zwischen Kliniken, Apotheken, Ärzten und anderen Behandlern ausgetauscht werden. Wir bauen diese Telematikinfrastruktur konsequent aus. Die Menschen in Deutschland erleben die Vorteile aber erst jetzt und in den folgenden Jahren, weil Digitalisierungsprojekte viele Jahre Vorbereitung brauchen.

Den digitalen Impfnachweis, der auch über das Netz läuft, nutzen ja schon viele Menschen hierzulande. Was kommt als nächstes?

Das E-Rezept wird in den nächsten Monaten in ganz Deutschland eingeführt. Ab September für gesetzlich Versicherte und in 2023 für Privatversicherte. Traurig ist, dass es in der Coronakrise noch nicht zur Verfügung stand. Denn es erspart viele Wege. Menschen, die beispielsweise ein Wiederholungsrezept brauchen, müssen nicht unbedingt in die Praxis, sondern erhalten das E-Rezept digital. Dann können sie es elektronisch an die Apotheke schicken. Und der Botendienst zum Beispiel bringt das Medikament nach Hause. So kann man Kontakte meiden.

Was hat sich sonst schon getan?

Mit dem Mailsystem „Kommunikation im Medizinwesen“, das wir zur Verfügung stellen, können sich etwa Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte und Physiotherapeuten austauschen und vertraulich Befunde schicken. Auch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird nun elektronisch an die Krankenkassen und ab Mitte nächsten Jahres auch digital an die Arbeitgeber versendet. Beim Zahnarzt muss ich, wenn ich zum Beispiel ein Implantat bekomme, seit diesem Sommer auch nicht mehr so viel Papier ausfüllen und an die Krankenkasse schicken. Sondern der Heil- und Kostenplan wird automatisch digital vom Zahnarzt zu meiner Krankenkasse geschickt, die ihn sofort freigeben kann.

In anderen europäischen Ländern ist das Gesundheitswesen schon lange digital. Warum fordern das die Deutschen nicht?

Tatsächlich wundert mich, dass es keine Unruhe in der deutschen Bevölkerung gibt. So nach dem Motto: Die anderen haben das schon alles, wieso wir nicht? Der Glaube an das gute alte System sitzt fest.

Gematik: Hüterin der digitalen Gesundheits-Infrastruktur

Die Gematik als Nationale Agentur für Digitale Medizin wurde von den Spitzenorganisationen des Gesundheitswesens gegründet. Mit 51 Prozent ist das Bundesgesundheitsministerium Mehrheitsgesellschafter. Die Gematik verantwortet die zentrale Plattform für digitale Anwendungen und entwickelt sie weiter. Dieses Netz verbindet Kliniken, Apotheken, Krankenkassen, Ärzte, Zahnärzte und andere Behandler miteinander, um sicher Gesundheitsdaten auszutauschen.

Sind die Menschen denn bereit für ein digitales Gesundheitssystem?

Ja, das hat die Pandemie gezeigt. Die Bürgerinnen und Bürger haben den digitalen Impfausweis und die Corona-Warn-App angenommen, weil sie nutzbar und sicher sind. Ich glaube aber auch, dass wir aktuell noch einen hohen Grad von Unwissenheit beim Thema Digitalisierung in Deutschland haben.

Die meisten Bürgerinnen und Bürger wissen noch gar nicht, dass es etwa die ePA, die elektronische Patientenakte, gibt…

… und ich muss zugeben, der Reifegrad der ePA erschwert momentan noch die Nutzung. Deswegen gab es auch noch keine großangelegte Informationskampagne dazu und Krankenkassen werben noch sehr zurückhaltend dafür. Ärzte haben durch Corona so viel mehr zu tun gehabt, dass sie auch keinen Kopf hatten, sich mit der ePA zu beschäftigen.

Es wird ja eine neue ePA-Version kommen. Warum?

Aktuell gibt es Forderungen des Sachverständigenrates für eine solche neue ePA: Es ist eine Widerspruchslösung vorgesehen. Ich muss also Nein sagen, sonst wird die ePA für mich angelegt. Alle Menschen in Deutschland haben dann ihre Gesundheitsdaten in ihrer Akte. Jeder bekommt eine ePA – egal wo er groß geworden ist, ob er Deutsch spricht, ob er digitalaffin ist, ob er gebildet ist, ob arm oder reich ist, ob er Zeit hat oder nicht. Alle Behandler werden automatisch aus ihren Softwaresystemen heraus definierte Daten hochspielen.

Dr. Markus Leyck Dieken im Gespräch Julia Rotherbl, Chefredakteurin der Apotheken Umschau (links), und der Leiterin des Hauptstadtbüros Tina Haase.

Dr. Markus Leyck Dieken im Gespräch Julia Rotherbl, Chefredakteurin der Apotheken Umschau (links), und der Leiterin des Hauptstadtbüros Tina Haase.

Das bedeutet für jede und jeden…

… meine Daten liegen dem Arzt immer vor und ich kann bestmöglich versorgt werden. In der jetzigen ePA habe ich diese Vorteile nur, wenn ich sie selbst entsprechend pflege. Zudem wird es in der neuen Akte strukturierte Daten geben, sodass auch Forschung möglich ist. Ob dies alles so kommt, diskutieren die Akteure des Gesundheitswesens und das Parlament wird entscheiden.

Widerspruchslösung? Das gab es nicht mal bei der Organspende

Es ist eine sehr mutige politische Entscheidung, jetzt auf diese Option zu setzen. Wir machen das, wie Sie zurecht betonen, zum ersten Mal. Und man sieht immer mehr Befürworter.

Warum ist Ihnen als Arzt die Digitalisierung des Gesundheitswesens so wichtig?

Aus drei Gründen. Erstens: Ich glaube, dass wir als Ärzte uns zugestehen müssen, dass wir vieles nicht wissen. Strukturierte Datensammlungen werden die Medizin besser machen. Wir erleben eine Wissensexplosion. Die Wissenschaft macht so viel Fortschritte. Und jetzt brauchen Ärzte elektronische Heinzelmännchen, die sie darauf hinweisen, was ist jetzt in diesem Moment wichtig. Seltene Erkrankungen etwa können so schneller erkannt werden oder die neuesten medizinischen Empfehlungen direkt in die Behandlung einfließen.

Und die anderen Gründe?

Der demografische Wandel. Wir haben immer weniger Menschen, die in das Gesundheitssystem einzahlen, und sie werden immer älter. Die Digitalisierung wird dafür sorgen, dass die Versorgung insgesamt überhaupt noch bewerkstelligt werden kann. Auf dem Land zum Beispiel kann eine Schwester EKG-Daten an einen Arzt übertragen und dann aufgrund seiner Hinweise vor Ort gleich eine Therapie einleiten. Digitalisierung kann auch Verwaltung in der Medizin deutlich reduzieren, etwa an Stellen, wo heute noch Papier hin und her getragen wird, wo Faxe laufen, wo telefoniert wird.

Digitalisierung kann Verwaltung in der Medizin deutlich reduzieren, etwa an Stellen, wo heute noch Papier hin und her getragen wird, wo Faxe laufen, wo telefoniert wird.

Sie bauen eine deutsche Lösung für das Gesundheitssystem. Gibt es nicht irgendwo schon eine Vorlage in anderen Ländern, die man nehmen könnte?

Nein, überall läuft es etwas anders. Die Gematik trifft sich in Brüssel regelmäßig in den Arbeitsgruppen der Europäischen Kommission mit all den anderen Partnerorganisationen. Und wir sind sehr eng vernetzt mit den Franzosen, Esten, Schweden, Dänen, Portugiesen und Iren. Wir wissen also sehr genau, was in diesen anderen Ländern passiert, holen uns Inspiration. Und manche Bausteine haben wir tatsächlich schon übernommen.

Wer ist denn inzwischen schon fast vollständig an das Gesundheitsnetz angeschlossen?

Zum Beispiel fast alle Zahnärzte, Ärzte, Kliniken und Apotheken. Der Gesetzgeber sieht vor, dass am Ende aber über 40 Heilberufe-Gruppen dabei sind.

Angeschlossen sein, heißt aber nicht unbedingt, dass das Netz schon genutzt wird. Kliniken hinken noch hinterher, oder?

Genau, oft fehlt noch die Software, Knowhow oder es hat eben nicht die Priorität. Das ist sehr schade. Denn genau dort werden viele relevante, akute Befunde erhoben, die eine weitere Versorgung in einer Praxis oder einer Reha-Klinik oder beim Facharzt unbedingt erforderlich machen. Heute können die wenigsten Kliniken ihren Arztbrief direkt auf elektronischem Weg an die Praxis schicken. Das wollen wir jetzt ändern.

Zur Person

Dr. Markus Leyck Dieken ist seit drei Jahren Geschäftsführer der Gematik, der Nationalen Agentur für Digitale Medizin. Der Internist und Notfallmediziner ist davon überzeugt, dass die Digitalisierung das Gesundheitssystem weiterbringt.

Es hagelt immer wieder Beschwerden von Ärzten, die Probleme haben sich anzuschließen. Woran liegt das?

Es gibt von der Bundesregierung klar definierte zertifizierte Firmen, die diese Aufgabe eigentlich übernehmen. Das funktioniert meistens, aber leider nicht immer. Das hat auch damit zu tun, dass man vor vielen Jahren ein sehr komplexes System gebaut hat, das besonders sicher sein sollte. Alle Akteure müssen sich aktuell noch durch Konnektoren mit dem Netz verbinden. Das System gibt es in dieser Form nur in Deutschland. Wir wollen es modernisieren, damit es besser bedienbar ist.

Die Apotheken kommen scheinbar besser zurecht?

Ja, bei ihnen ist ja schon fast alles digital. Das berühmteste Digitalprojekt lief über sie: Wir haben jetzt über 160 Millionen Impfnachweise an die deutschen Apotheken versendet. Und die Apotheke haben keine zwei Wochen gebraucht, um zu erlernen, wie man einen digitalen Impfausweis ausstellt.

Heute können die wenigsten Kliniken ihren Arztbrief direkt auf elektronischem Weg an die Praxis schicken. Das wollen wir jetzt ändern.

Trotzdem gehen die Schätzungen davon aus, dass die meisten E-Rezepte ausgedruckt werden, weil die Benutzung der E-Rezept-App, über die man Verordnungen vom Arzt bekommen und an die Apotheke schicken kann, zu kompliziert ist.

Ja, um sie vollständig nutzen zu können, braucht man eine Versichertenkarte und ein Smartphone. Beides muss NFC-fähig sein. Bedeutet: dass sie kontaktlos Daten übertragen können müssen. Zudem benötigt man noch eine PIN von der Krankenkasse.

Nicht ihr Ernst?

Doch im Moment ist das leider noch so.

Damit die Daten sicher sind?

Genau. Bisher war das so gewünscht. Das Schöne ist, dass es heute schon Technik gibt, die das gleiche Sicherheitsniveau ermöglicht bei viel höherem Bedienkomfort. Da müssen wir hinkommen. Wir müssen in Deutschland aber auch besprechen: Wie viele Sicherheitsschlösser baue ich ein? Wenn ich jedes Mal fünf Schlösser an der Tür öffnen muss, um beispielsweise in meine App zu kommen, dann sind es vielleicht zwei zu viel. Und das muss man miteinander austarieren und verhandeln. Zukünftig wird der Patient das hoffentlich auch selber entscheiden können.

Aber 2023 soll man auch über die elektronische Gesundheitskarte das E-Rezept einlösen können…

Das ist neben dem Papierausdruck und der Verordnung in der App der dritte Weg. Genau.

Was ist Ihre Vision für das Gesundheitssystem?

Wir müssen erkennen, dass wir noch ganz viel erforschen müssen. Über das, was wir heute therapeutisch tun, wird man in 200 Jahren lächeln. Genauso wie wir jetzt über Aderlässe lächeln, die die Menschen teilweise umgebracht haben. Diese Art von Aufrichtigkeit wünsche ich mir. Plus Neugierde. So schaffen wir es vielleicht, dass sich alle an den aktuellen Veränderungen enthusiastisch beteiligen. Wenn ich Leukämie habe und meine Daten anonymisiert weitergebe, werden Leukämie-Patienten in der Zukunft davon profitieren.

Herr Leyck Dieken, wir danken Ihnen für das Interview!

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Von E-Rezept bis Videosprechstunde. Wir erklären, was wie funktioniert und zeigen, wovon Sie den größten Nutzen haben. Hier finden Sie alle Texte zum Artikel