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Herr Kretschmer, ich will ehrlich sein. Die Vorbereitungen für dieses Interview haben mich ganz schön gestresst.

Ach herrje! Warum das denn?

Weil ich nicht wusste, was ich heute anziehen soll.

Also wirklich! Wenn ein Kopf oben rausschaut und der gescheit ist, dann bin ich sofort dabei! Dann kann man fast alles tragen.

Sehr charmant. Und beruhigend zu hören. Sie verteilen also in Gedanken nicht ständig Punkte für die Outfits der Menschen, die Ihnen so begegnen?

(lacht) Um Himmels willen, nein! Bewertungstafeln gibtʼs nur bei Shopping Queen. Aber die Leute sprechen ja mich an. Die sagen dann zum Beispiel: Ach, Herr Kretschmer, wenn ich gewusst hätte, dass Sie neben mir im Flugzeug sitzen, dann hätte ich mir doch was anderes angezogen!

Ernsthaft?

Ja, das passiert mir ganz oft. Es gibt auch Leute, die mir Fotos zeigen und fragen: „Was glauben Sie, können Sie sich vorstellen, dass das eine Frau für meinen Jens wäre? Die trägt so viel Polyester.“ Oder letztens im Zug meinte eine Frau zu mir: „Guido, sag mal ganz ehrlich, was meinst du zu meiner Frisur?“ Die hat sich dann alles aufgeschrieben, was ich gesagt habe. Sehr süß!

Warum sind Frauen nur so unsicher?

Weil sie heute das Gefühl haben, alles sein zu müssen: Nur erfolgreich geht nicht, aber nur bescheiden und mütterlich geht auch nicht. So ein bisschen Vamp ist gut, aber bloß nicht zu viel. Frauen vergleichen sich, weil sie verglichen werden. Das ist leider so.

Und dann ist da ja noch Instagram …

Genau, da ist man ja ständig konfrontiert mit diesen Überfrauen. Schön, schlank und erfolgreich. Oder, noch schlimmer, man lernt so eine kennen und denkt: Lieber Gott, lass sie wenigstens ein bisschen dumm sein. Und dann stellt sich raus, die ist auch noch blitzgescheit.

Ja aber jetzt mal ehrlich: In Ihrer Sendung geht’s doch auch um Äußerlichkeiten

Ja, aber ich bin überzeugt davon, dass „Shopping Queen“ etwas Gutes ist. Bei uns kann man mit 18 und mit 81 gewinnen. Und das in jeder Konfektionsgröße! Wir verurteilen niemanden. Man muss weder viel Geld ausgeben noch besonders schön sein, um als Königin aus unserer Sendung hervorzugehen. Außerdem nehme ich alle bis zum Schluss in den Arm!

Dann hat noch keine Kandidatin heulend das Set verlassen, weil sie zu wenig Punkte für ihr Outfit bekommen hat?

Keine einzige. Und es geht bei uns ja auch nicht nur um Amüsement. Mode ist eine Möglichkeit, das, was da ist, schöner zu verpacken. Wenn du das Richtige im richtigen Moment anhast, bist du frei – das ist die Kraft der Visualisierung. Die Leute sollen im Dschungel der Modemöglichkeiten auch etwas lernen. Was ist denn Layering? Und was versteht man eigentlich unter diesen Chunky Boots, von denen alle reden?

Apropos Lernen. Man munkelt, dass Sie eigentlich gar nicht Modedesigner, sondern Arzt werden wollten.

Das stimmt. Und auf dem Weg dahin habe ich eine Krankenpflegeausbildung gemacht. Ich habe schon mit 12 oder 13 im Krankenhaus gejobbt. Meine Eltern haben mich jeden Samstag und Sonntag ins Josephs-Hospital nach Warendorf gefahren. In aller Herrgottsfrühe! Die waren nicht begeistert.

Aber Sie offenbar umso mehr! Freiwillig Frühdienst in dem Alter?

Ach, ich fand das toll mit den Patienten damals. Ich habe die Kranken gewaschen und aufs Töpfchen gesetzt. Ich durfte da schon viel unterstützen, und ich glaube, die haben im Krankenhaus einfach gespürt, dass mir das Freude macht.

Mode ist eine Möglichkeit, das, was da ist, schöner zu verpacken. Wenn du das Richtige im richtigen Moment anhast, bist du frei – das ist die Kraft der Visualisierung.

Wie blicken Sie heute auf Ihre Zeit als Krankenpfleger zurück?

Das war ein wunderbarer Beruf. Na gut, zwischendurch sah ich ein bisschen wild aus, weil ich mir die Haare gefärbt und die Kittel der Nonnen für mich umgenäht habe. Deshalb bin ich ein Vierteljahr länger in den OP verbannt worden, damit die Leute mich nicht sehen. Das fand ich nicht so toll. Ansonsten war ich da total glücklich. Aber ich mag Menschen einfach auch sehr!

Das ist wahrscheinlich die Grundvoraussetzung für den Job, oder?

Man braucht in jedem Fall die Empathie, im richtigen Augenblick das Richtige zu tun. Viel Liebe. Und einen gesunden Rücken.

Gibt es etwas, das Ihnen aus dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben ist?

Einmal habe ich eine Geburt miterlebt. Das war ein heiliger Moment. Ein Wunder! Es hat damals auf so seltsame Art nach Leben gerochen. Und ich war so nah dran! Egal wie kreativ du bist, so was wie das hier, das wirst du nie schaffen, habe ich da gedacht.

Und an welche Erlebnisse denken Sie nicht so gerne zurück?

Wir Krankenpflegeschüler mussten die Verstorbenen manchmal alleine in die Leichenhalle bringen. Das war viel zu viel für mich als junger Mensch. Da bin ich auch oft weinend hin. Ich habe damals viele Menschen sterben sehen. Das ist mir häufig sehr nahe gegangen. Manchmal vielleicht zu nahe.

In den letzten Jahren haben immer mehr Pflegekräfte ihren Beruf aufgegeben.

Ja, das wundert mich nicht. Ich war immer der Meinung, dass es nicht ausreicht, nur Applaus zu spenden. Man muss von dem Beruf eine Familie ernähren können, und er sollte einem auch die Gelegenheit geben, die schönen Momente zu erleben. Aber dazu brauchst du genug Zeit für die Patienten. Und die gibt es in Kliniken leider oft nicht.

Würden Sie denn jungen Menschen heut enoch raten, in die Pflege zu gehen?

Absolut! Und ich glaube, dass viele da eine sehr menschliche Sozialisation erleben könnten. Auch die, die etwas verloren gegangen sind und immer an sich selbst zweifeln.

Was meinen Sie genau?

Na ja, es machen doch jetzt alle nach der Schule so ein Sabbatical und streicheln Kängurus in Australien oder rennen mit Lamas in Südamerika rum. Manchen täte es vielleicht gut, stattdessen mal in einem Altenheim zu arbeiten. Wie viele wunderbare ältere Menschen gibt es dort, die voller Geschichten sind? Sich mit denen zu beschäftigen würde dem einen oder anderen sicher dabei helfen, die eigenen Probleme ein bisschen zu relativieren.

Sprechen Sie aus Erfahrung?

Ich habe jedenfalls für mein Leben und meinen jetzigen Job viel mitgenommen. Viele sagen ja: „Der Guido schneidert so schöne Mode, der respektiert weibliche Formen.“ Das freut mich sehr, denn das ist auch so. Es gibt ja Designer, die Menschen gar nicht anfassen können. Aber ich mag das! Ich habe bei so vielen Frauen am Bett gesessen, die Brustamputationen hatten. Auch für diese Frauen zu designen fällt mir leicht. Ich mache das gerne und mit Liebe.

Die Zeit im Krankenhaus hat Sie also geprägt.

Und wie! Wenn mir heute Kleider aus der Produktion zur Abnahme vorgelegt werden, schreibe ich immer noch „o. B.“ – ohne Befund. Ich liebe es bis heute, Krankheiten zu diagnostizieren! Letztens erst habe ich bei einer Kundin auf Leishmaniose getippt und lag richtig! Und wenn ich auf den Laufsteg schaue, denke ich mir ganz oft: „Oha, da könnte bald eine neue Hüfte kommen.“

Schade, dass es mit Ihrer Arztkarriere nichts geworden ist.

(lacht) Ach ja. Ich hatte einfach diese große kreative Sehnsucht in mir. Deshalb habe ich das Medizinstudium auch nach zwei Semestern abgebrochen. Und mal ehrlich, die Kombination ist ja auch schwierig: Als Schönheitschirurg, dachte ich, mache ich es nicht. Und das mit der Ernährung nimmt mir doch auch keiner ab!