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Frau Vogler, Sie sind Präsidentin des Deutschen Pflegerats. Was genau ist dessen Aufgabe?

Der deutsche Pflegerat vertritt Pflegefachpersonen in Deutschland. Ungefähr 40 Menschen aus verschiedenen Verbänden und Fachbereichen der Pflege sitzen regelmäßig da zusammen und tauschen sich aus, um die pflegerische Versorgung hierzulande zu sichern.

Der Pflegerat ist auch Ansprechpartner für die Politik?

Ja, weil es niemand anderen gibt, der unsere Interessen vertritt. Deshalb suchen wir den Kontakt zur Bundespolitik. Im Pflegerat arbeiten wir alle ehrenamtlich, neben unserer hauptamtlichen Tätigkeit in der Pflege. Unser Einfluss ist daher begrenzt. Eine berufsständische Selbstverwaltung gibt es für die Pflege bislang nicht. Das fällt uns jetzt vor die Füße.

Was wünschen Sie sich, um die Interessen der Pflegeberufe besser durchzusetzen?

Die Pflegeberufe sollten sich in allen Bundesländern in Kammern organisieren, wie es zum Beispiel Ärzte und Apotheker längst erfolgreich vormachen. Nur so kann unser Berufsstand eine klare, deutliche Sprache sprechen und seine Interessen effektiv vertreten. Und wir brauchen ein Stimmrecht im Beschlussgremium des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) wie es auch die Krankenkassen und Ärzte haben. Denn da geht es auch um finanzielle Ressourcen.

Pflegeratspräsidentin Christine Vogler im Interview mit der Chefredakteurin des Senioren Ratgeber, Claudia Röttger (links), und Hauptstadtbüro-Leiterin Tina Haase.

Pflegeratspräsidentin Christine Vogler im Interview mit der Chefredakteurin des Senioren Ratgeber, Claudia Röttger (links), und Hauptstadtbüro-Leiterin Tina Haase.

Berufsverbände und Gewerkschaften brauchen Mitglieder, um deren Belange zu fördern. Doch nur wenige Pflegefachpersonen sind bereit, sich berufspolitisch zu engagieren.

Diese gewisse Distanz, in den Berufsverband oder in die Gewerksschaft einzutreten, wundert mich auch. Zumal Pflegefachpersonen ja seit langem berechtigte Forderungen stellen. Aber ich sehe auch, dass meine Kolleg:innen kaum Ressourcen haben sich zu engagieren und erst lernen müssen, politische Verantwortung zu übernehmen. Helfen würde ein Gesetz. Die Ärztekammer hat sich auch nicht aus sich gegründet, sondern weil es politischer Wille war. Wir brauchen für die Pflege ein Gesetz für die Selbstverwaltung in Bund und Ländern.

Pflegeexperten fordern seit langem strukturelle Reformen in der Pflege. Warum wurden sie nicht gehört?

Das hat auch damit zu tun, dass Pflege in Deutschland nicht den Stellenwert hat wie in anderen Ländern. Das Bildungsniveau in der Pflege ist zum Beispiel im Vergleich weit abgeschlagen. Ich sehe es ja an mir selbst: Ich habe Pflege gelernt und wäre direkt in der Patientenversorgung geblieben, wenn ich mehr Verantwortung hätte übernehmen, mein Wissen vertiefen, einen Master- oder Bachelorstudiengang Pflege absolvieren, überhaupt mehr hätte mitsprechen können.

Mehr Handlungskompetenz für Pflegende - wie könnte das konkret aussehen?

In Deutschland entscheidet alles der Arzt oder die Ärztin, wenn es um die Versorgung eines bedürftigen, kranken Menschen geht. Jeden Tag sind aber auch gut ausgebildete Pflegefachpersonen in der ambulanten Versorgung. Die wissen, wer ein Pflegebett braucht. Die können auch ein Aufklärungsgespräch führen zu einer diabetischen Versorgung oder bei Bluthochdruck Ernährungstipps geben. Oder zumindest weiter vermitteln an andere Stellen. Diese Kompetenz sollten wir viel mehr nutzen. Und wir fordern eine bundesweit einheitliche Bildungsstruktur für diesen hochkomplexen Beruf und zwar nach internationalem Standard.

Professionelle Pflege allein wird nicht reichen, um den Bedarf an Fürsorge und Pflege zu decken.

Mit den Baby-Boomern wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren gravierend steigen. Wie gut ist die professionelle Pflege darauf vorbereitet?

Pflegebedürftigkeit erfassen wir nur über die Statistik der Krankenkassen und rudimentär über eine Bundesstatistik. Derzeit nehmen 5,9 Millionen Menschen Pflegeleistungen in Anspruch. Diese Zahl wird mit den Baby-Boomern steigen, keine Frage. Zudem gehen geschätzten 1,2 bis 1,4 Millionen Pflegefachpersonen rund 30 Prozent in den nächsten zehn Jahren in Rente. Das sind also gut 400000 Pflegende, die uns bald fehlen werden und die wir in der verbleibenden Zeit nicht ausgebildet bekommen. Mit anderen Worten: In dem System, in dem wir heute sind, kriegen wir in Zukunft die Pflege nicht geleistet. Wir werden erleben, dass Menschen unversorgt bleiben, mit allen Konsequenzen. So wird das furchtbare Szenario.

Sie gehören auch zu den Baby-Boomern. Macht Ihnen das Angst?

Angst nicht, aber mir ist klar: Wenn wir Baby-Boomer in Rente gehen, dürfen wir uns nicht auf die Couch setzen, sondern müssen uns weiter gesellschaftlich engagieren, Nachbarschaftshilfe organisieren, uns gegenseitig unterstützen. Nur so schaffen wir das. Professionelle Pflege allein wird nicht reichen, um den Bedarf an Fürsorge und Pflege zu decken. Ohne Menschen, die das ehrenamtlich und freiwillig, in der Familie oder für den Nachbarn tun, wird es gar nicht mehr gehen.

Haben Sie Ihre Pflege zusätzlich privat abgesichert?

Ich habe tatsächlich eine Zusatzversicherung. Ob die die Unterstützung leisten kann, die man am Ende braucht, kann ich schlecht einschätzen. Niemand weiß, was passiert. In unserem Freundes- und Familienkreis reden wir oft darüber, viel mehr als ich es bei meinen Eltern erlebt habe. Ich weiß: Wir müssen heute auch Verantwortung für uns selbst übernehmen und können nicht allein dem Staat zuschieben oder dem Pflegedienst oder dem Pflegeheim, für uns zu sorgen. Ich will den Generationenvertrag nicht aufkündigen. Aber jeder Mensch ist gefordert, eine eigene Strategie für sich zu entwickeln.

Auch weil klar ist: Kaum jemand von den Jungen hat Lust auf Care-Arbeit?

Uns wird immer vorgeworfen, wir meckern so viel und stellen den Pflegeberuf so schlecht dar. Das machen wir nicht. Es sind die Arbeitsbedingungen, die wir darstellen, nicht den Beruf. Der ist toll. Jungen Menschen würde ich ihn immer wieder empfehlen: Wenn du Menschen magst und einen Beruf erlernen willst, der dir etwas zurückgibt und das Gefühl, etwas wert zu sein, dann gehe in die Pflege.

Geld darf keine Rolle spielen!?

Geld und gute Arbeitsbedingungen – ich will das nicht gegeneinander ausspielen. Gerade in der jungen Generation ist Geld unheimlich viel wert. Wenn ich als Pflegefachperson nach drei Jahren Ausbildung 2700 € Einstiegsgehalt bekomme und genau dasselbe, wenn ich im Supermarkt an der Kasse sitze, müssen wir uns fragen, was uns die Belastung und Verantwortung im Pflegeberuf wert ist.

Schon heute tragen Angehörige die Hauptlast bei der Pflege. Sind steuerliche Entlastungen und ein Mitspracherecht in der Pflegepolitik da nicht längst überfällig?

Pflegenden Angehörigen sollten wir unbedingt eine Stimme geben im System und auch für sie professionelle Strukturen schaffen, etwa durch eine Bundesvertretung. Auch eine steuerfinanzierte Familienpflegezeit ist eine gute Idee. Aber wir brauchen unglaublich viele Modelle, wie wir Menschen, die sich um andere kümmern, unterstützen.

Was schwebt Ihnen vor?

Zum Beispiel Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe finanziell zu stärken. Oder in den Schulen Fächer wie Pflege und Gesundheit einzuführen. Es geht darum, ein Verständnis dafür zu schaffen, wie ein Körper funktioniert, was ein Puls ist, wie ich mich gesund ernähre und wie man jemanden im Bett versorgt. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Es sollte selbstverständlich werden, aufeinander zu schauen und uns um andere, Kinder oder alte Menschen zu kümmern.

Jeder fünfte Pflegende gilt inzwischen als armutsgefährdet. Bei den pflegenden Frauen ist es sogar jede vierte. Wie lässt sich das langfristig verhindern?

Im österreichischen Burgenland werden Menschen beim Staat angestellt, wenn sie einen Angehörigen versorgen. Die werden zwar nicht so bezahlt wie eine professionelle Pflegefachperson, aber es entsteht Wertschätzung für diese Arbeit. Gleichzeitig führen sie Sozialabgaben ab und zahlen in die Rentenkasse ein, sorgen also für ihre eigene Sicherheit, auch im Alter. Das kommt dort wohl ziemlich gut an.

Pflegende Angehörige haben 2022 vergeblich auf die versprochene Erhöhung des Pflegegeldes gewartet. Sie fordern seit langem ein leistungsumfassendes, flexibles und transparentes Entlastungsbudget. Wo hakt es?

Unser System aus Gesundheits- und Pflegekasse ist sehr undurchsichtig und überfordert viele. Ein Paket, aus dem man sich Leistungen selbst zusammenstellen kann, kommt pflegenden Angehörigen sicher entgegen.

Menschen brauchen Unterstützung im Pflegedschungel, aber ganz, ganz niederschwellig.

Brauchen wir eine bessere Beratung?

Ja. Es gibt inzwischen viele Beratungsangebote. Aber das kommt überhaupt nicht an bei Menschen, weil diese nicht flächendeckend angeboten werden und Pflegende keine Zeit haben, dafür noch irgendwohin zu gehen. Ich wünsche mir, dass es eine Pflegefachperson in jeder Kommune gäbe, die Familien zuhause besucht und die pflegerische Versorgung vor Ort sichert. Menschen brauchen Unterstützung im Pflegedschungel, aber ganz, ganz niederschwellig.

Was, wenn 2023 wieder nichts voran geht?

Es ist desolat, aber es ist trotzdem nie zu spät. Für mich ist es die dritte Legislatur als aktives Pflegeratsmitglied bzw. als Pflegeratspräsidentin. Alle drei Gesundheitsminister, ob Gröhe, Spahn oder jetzt Lauterbach, haben die Pflege-Problematik erkannt und so gut sie wollten und konnten in den Fokus genommen. Was fehlt, ist aber eine Einigung auf die Vision unseres Gesundheitswesens, was wir wollen und bezahlen können, die über eine Legislaturperiode hinausgeht.

Mangelt es schlicht an Geld?

Es ist eine Frage der Prioritäten. Wenn ich ein Gesundheitssystem mit einer vernünftigen Versorgungslandschaft möchte, in der Fachleute anständig bezahlt und Angehörige unterstützt werden und die Pflege in die digitale Gesundheitsinfrastruktur eingebunden ist, dann kostet das Geld. Das stimmt.

Wie steht es um die Digitalisierung in der Pflege?

Digitalisierung bringt auch in der Pflege durchaus Vorteile. Doch viele digitale Lösungen werden an der Pflege vorbeientwickelt. Und wenn kein Pflegepersonal da ist, dann hilft die beste Digitalisierung nichts.

Frau Vogler, wir danken Ihnen für das Gespräch!