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Die Leichen holte er teils in finsterer Nacht vom Friedhof oder schnitt sie gleich direkt vom Galgen, um sie dann in die Stadt zu schmuggeln. Mit Geschichten wie diesen wollte sich Andreas Vesalius den Ruf eines Abenteurers erarbeiten, der für seine Forschung brennt. Im Jahr 1539 sezierte er gar alle Hingerichteten der venezianischen Stadt Padua, an deren berühmter Universität er zu der Zeit Chirurgie und Anatomie lehrte.

Entdeckung der Anatomie des Menschen

Der Ruhm ward ihm gewiss: Später veröffentlichte er das siebenbändige Mammutwerk De humani corporis fabrica über den Aufbau des menschlichen Körpers. Es gilt heute als grundlegend für die moderne Anatomie. Anders als berühmte Kollegen seiner Zeit soll Vesalius tote Körper nicht einfach geöffnet haben, um etwa die Organe zu entnehmen. Vielmehr legte er Schicht für Schicht der Leichen frei.

Trotz dieser akribischen Vorgehensweise fand eine große, wie man heute weiß, sensorisch ausgestattete Gewebsstruktur, die sogar an Bewegungen beteiligt ist, nicht die immense Beachtung wie aktuell. Sie tat es auch nicht in den vielen weiteren Anatomielehrbüchern, die bis ins späte 20. Jahrhundert folgten. Zwar wurden Faszien dort erwähnt, doch nie wurden sie so genau untersucht und so sehr in den Fokus gerückt wie gerade.

Pech für die Medizin. Aber ein Glück für heutige Forscher wie die Professorin Carla Stecco. 2015, fast ein halbes Jahrtausend nach ihrem Vorgänger, hat die Chirurgin, Anatomin und Bewegungswissenschaftlerin, ebenfalls von der Universität Padua, den ersten Atlas des menschlichen Fasziensystems veröffentlicht. Darin beschreibt, bebildert und kartiert sie das bisher vernachlässigte Gewebe.

Was sind Faszien?

Faszien sind Bindegewebe. Sie umhüllen die Muskelfasern, Faserbündel und ganze Muskeln und betten Organe ein, zum Beispiel als Herzbeutel. Lange Zeit wurden sie lediglich als eine Art weiße Haut betrachtet, die Chirurgen durch- oder abschnitten, um bei einer Verletzung oder Krankheit zum eigentlichen Behandlungsobjekt vorzudringen; nicht mehr als eine Verpackung oder Trennschicht.

Seit einigen Jahren sehen immer mehr Experten sie jedoch umfassender oder, gemäß dem Zeitgeist, ganzheitlicher: nämlich als dreidimensionales Netzwerk aus weichem, kollagenhaltigem, lockerem und dichtem faserigem Bindegewebe, das den Körper als System von den Zehen bis zum Hinterkopf durchzieht. Und Organe, Haut und Knochen verbindet.

In einer erweiterten Definition zählen manche Forscher auch Sehnenplatten, Gelenkkapseln, Bänder und Sehnen dazu. So etwa in einem Konsens-Statement 2018 im British Journal of Sports Medicine.

Funktion des Bindegewebes

Faszien gelten vielen nicht mehr nur als rein passiv umhüllend, sondern als ein aktiv auf mechanische und biochemische Einflüsse reagierendes System – das bei einer Störung seiner Funktion sogar Schmerzen verursachen könnte.

Kann man dieses System in der Medizin außen vor lassen? Das wäre, als würde man das Nervensystem oder den Blutkreislauf nicht beachten, sagt Stecco: „Am Anfang dachten trotzdem alle, ich bin verrückt.“ Ein wenig überrascht wirkt die Forscherin immer noch darüber, zu welch einem Trend sich ihr Forschungsobjekt inzwischen entwickelt hat: „Mein Vater war Physiotherapeut und einer der Ersten, der manuelle Faszientherapie anwendete.“

Nicht Messer und Seziertisch, sondern Therapieliege und Abtasten hatten den Fokus der orthopädischen Chirurgin also aufs Bindegewebe gelenkt – aber erst, als sie selbst einem Patienten mit akuten Schmerzen im unteren Rücken nicht weiterhelfen konnte. Stecco fand für seine Beschwerden keine offensichtliche Ursache wie eine Verspannung oder einen eingeklemmten Nerv. Erst eine manuelle Faszientherapie half schließlich.

Sie wirkt mit Druck- und Schiebetechniken äußerlich auf das Gewebe ein. Stecco war dennoch unzufrieden. Sie hatte keine wissenschaftliche Erklärung für ihren Behandlungserfolg: „Ich wollte verstehen, wie Faszien funktionieren. Und welche Rolle sie im Körper spielen.“

Eine Quelle von Schmerz?

Eine, wenn nicht die wichtigste Erkenntnis über das Fasziensystem ist: Es enthält Nervenfasern. In einem durchschnittlichen Körper soll es rund 100 Millionen mehrheitlich sensorische Nervenenden enthalten, schätzt Professor Martin Grunwald vom Haptik- Forschungslabor der Universität Leipzig. Weil das fast so viele Sinneszellen wie in der Haut wären, sprechen manche Wissenschaftler wie Dr. Robert Schleip deshalb gar vom Fasziensystem als eigenem Sinnesorgan: „Die Frage ist: Welche Sinnesreize werden vermittelt?“

Gewebeforschung im Labor: Der Humanbiologe Dr. Robert Schleip untersucht Faszien unter dem Mikroskop

Gewebeforschung im Labor: Der Humanbiologe Dr. Robert Schleip untersucht Faszien unter dem Mikroskop

Das könne beispielweise die Wahrnehmung des eigenen Körpers sein, etwa ob der Kopf zur Seite geneigt ist. Schleip hat jahrelang als manueller Körpertherapeut gearbeitet, studierte dann Humanbiologie und forschte als Direktor der Fascia Research Group an der Universität Ulm. Inzwischen ist er zur Konservativen und Rehabilitativen Orthopädie der Technischen Universität München gewechselt.

Zum Beispiel die große Rückenfaszie, auch Lumbodorsalfaszie genannt, beschäftigt Experten wie ihn. Sie verbindet letztlich Schulterblätter und Hüftgelenke und ist damit zumindest indirekt an vielen Bewegungen beteiligt. Könnte sie eine Ursache für den verbreiteten unspezifischen Rückenschmerz sein?

In Gewebsuntersuchungen fanden Forscher in dieser Faszie schmerzempfindliche Nervenenden. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen war sie zudem in ihrer Struktur verändert. Schon früher hatten Ergebnisse einer US-amerikanischen Studie verringerte Querdehnfähigkeit ergeben. Sie ist im Magazin BMC Musculo­skeletal Disorders erschienen. Als mögliche Erklärung dafür nennt eine Überblicksstudie von 2017 Gewebsverklebungen. Sie könnten etwa entstanden sein, weil das Gewebe vorher entzündet oder verletzt war.

Eine andere Erklärung wäre, dass Hyaluronsäure, eine Art Gleitmittel, zwischen den Faszienschichten aufgrund von Bewegungsmangel zähflüssiger wurde. Kritiker halten das für eine unbewiesene Idee.

Die zusammengefassten Ergebnisse legten nahe, dass die große Rückenfaszie ein potenzieller Schmerzgenerator sei, so das Fazit der Autoren rund um Schleip und Stecco. Nicht klar sei, ob das veränderte Gewebe den Schmerz wirklich verursache oder nur gleichzeitig auftrete. Es gibt Bedarf für weitere Forschungen – so lautet häufig das Fazit von Faszienstudien. Denn nicht selten sind Ergebnisse und Zusammenhänge mehr ein Hin- als ein Beweis. Zudem stammen sie teils aus Tierversuchen, wurden mit Zellproben im Labor erbracht oder, das hat sich auch in 500 Jahren moderner Anatomie nicht geändert, in Studien an Leichen gewonnen.

Inwieweit das auf lebende Menschen übertragbar ist, muss dann ebenfalls genauer untersucht werden.

Ein etwas anderer Muskel?

Können Faszien bei durchgeführten Bewegungen oder durch die Behandlung eines Therapeuten ähnlich den Muskeln Kräfte übertragen und dadurch beansprucht werden? Kann man sie gezielt trainieren?

Tatsächlich können sich Faszien im Reagenzglas unter gewissen Bedingungen zusammenziehen. Der Effekt sei im Körper aber sehr unwahrscheinlich und zudem biomechanisch nicht relevant, so Falk Mörl 2016 in einem Konferenzbeitrag. Er hat sich mit dem Thema allerdings nicht als Faszienforscher beschäftigt, sondern als Biomechaniker.

Hinzu komme, dass durch die unterschiedlichen Definitionen oft nicht klar sei, was mit Faszie gerade gemeint sei: Die sehr zugfeste und wenig dehnbare Patellasehne am Knie etwa übertrage ein Vielfaches der Kraft im Vergleich zum sehr weichen und dehnbaren Fasziengewebe.

„Mechanisch bedeutet dies, dass bei physiologischen Bewegungen Faszien keine entscheidenden Kräfte übertragen können“, bemerkt Mörl in der kritischen Auseinandersetzung „Müssen wir unsere Faszien trainieren?“. Faszien im engeren Sinne würden zwar mitbewegt, seien bei der Kraftübertragung aufs Skelett aber fast unbeteiligt. Ungeachtet dessen ist Faszientraining ein Megatrend. Kaum ein Fitness- oder Yoga-Studio, das ohne Kurs für fitte Fasern auskommt, auch in vielen Wohnzimmern hat die Hartschaumrolle Einzug gehalten.

Wie wirksam ist Faszientraining?

Mörl kritisiert in seinem Aufsatz den Hype: „Viele aktuell medial verbreitete Trainingswirksamkeitsmechanismen sind nicht erforscht worden und beruhen großteils auf Spekulation.“ Aussagen auch von Experten wie Schleip, dass Faszientraining die Leistung optimieren könne und den Körper in Form halte, hält er für überzogen und nicht haltbar.

Schleip wiederum bemerkt, dass Faszientraining oft mit Übungen auf der Hartschaumrolle gleichgesetzt werde. Es meine jedoch eigentlich in erster Linie ein elastisches Training mit federnden, schwingenden Übungen und Sprüngen, die das Gewebe dehnen, komprimieren und dadurch kräftigen sollen. Er betont aber wohl, „dass Faszientraining Ausdauer- und Muskeltraining nie ersetzen, sondern komplementieren“ sollte. Am vernünftigsten sei ein Bewegungstraining, das die Faszien beinhalte. Grundsätzlich gilt: Fast jede Art von Bewegung ist für den Körper gut. Und damit für die Faszien.

Aussicht auf neue Therapiemöglichkeiten

Welche Rolle Faszien für die Bewegungstherapie spielen könnten, untersucht Dr. Jan Wilke an der Goethe-­Universität Frankfurt. Er hat gezeigt, dass eine Muskeldehnung an Waden- und Oberschenkelmuskulatur auch zugleich die Halswirbelsäule beweg­licher macht.

Der gemessene Effekt könnte die Annahme bestätigen, dass Faszien im Verbund mit Muskeln durchaus Kräfte übertragen: Entsprechende, myofaszial genannte Ketten sollen zum Beispiel zwischen Beinen und Rumpf verlaufen.

Für konkrete Therapieverfahren liege bislang schwache Evidenz vor, heißt es in einer Übersichtsarbeit von Jan Wilke und einem Kollegen. Ob gezielte Faszientherapie tatsächlich Beschwerden lindert, ist also bislang nicht bewiesen.

An künftige Therapien denkt auch Carla Stecco, die derzeit Rezeptoren für weibliche Sexualhormone untersucht. Diese Andockstellen finden sich auch in Faszien und könnten dazu beitragen, das Bindegewebe elastischer und weicher zu machen – wichtig für eine Schwangerschaft. Zudem könne das laut Stecco die Entwicklung gezielter Schmerzmittel für Patientinnen ermöglichen.

Dennoch: Faszien als fehlendes Bindeglied im Verständnis zahlreicher biologischer Prozesse darzustellen, als potenzielle Lösung für alle möglichen medizinischen Probleme, wie Mörl kritisiert, will auch Stecco nicht. „In der heutigen Medizin sehen wir häufig nicht mehr das ganze Bild“, gibt sie aber zu bedenken. Erkenntnisse über Faszien könnten deshalb sehr wohl zum Verständnis darüber beitragen, wie Strukturen im Körper miteinander kommunizieren.

Vielleicht wird man über die heutige Faszienforschung irgendwann einmal denken, was Historiker über Andreas Vesalius’ Beitrag zur antiken Anatomie sagen: keine Revolution. Aber eine wichtige Ergänzung.

Training mit der Rolle

Um Verspannungen zu lösen und Schmerzen zu lindern, ist seit ein paar Jahren sogenanntes Faszientraining mit Hartschaumrollen im Trend. Dabei entstehende positive Effekte allein auf Faszien zu reduzieren, halten Experten für spekulativ.

Denn beim Abrollen werden nicht nur das Fasziengewebe, sondern auch Muskelfasern und Haut gedehnt. Das aktiviert verschiedene Organsysteme wie die Haut und ihre Rezeptoren, regt den Stoffwechsel und Knochenaufbau an, stimuliert das Nervensystem und wirkt sich zudem auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerzen aus.

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Was bringt der Druck aufs Bindegewebe?

Momentan gibt es wenige gesicherte Erkenntnisse, wie sich das Training auswirkt. Die Ergebnisse vieler Studien sind nicht verallgemeinerbar.

Was sie beispielsweise ergaben: