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Viele Menschen leiden unter der derzeitigen Situation und den Einschränkungen, die sie mit sich bringt. Warum sie für Kinder mit ADHS oder ADS besonders herausfordernd sein kann, erklärt Professor Martin Holtmann im Interview. Er ist Ärztlicher Direktor an der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum.

Herr Prof. Holtmann, Schulleiter und Träger von Kitas teilen derzeit ein Schreiben des französischen Bildungsministeriums. In den nächsten Wochen würden die Verhaltensprobleme der Kinder zunehmen, heißt es da. Was bedeutet die prognostizierte Veränderung für Familien mit ADS- oder ADHS-Kindern?

Hier verschärft sich die Situation noch. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen – kurz: ADS und ADHS - gehören zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Auch wenn die Diagnose eher zurückhaltend gestellt wird, wie wir es aufgrund der WHO-Kriterien tun, können wir davon ausgehen, dass zwei bis vier Prozent aller Kinder und Jugendliche betroffen sind. Diese Kinder und ihre Familien befinden sich derzeit in einer besonders herausfordernden Situation. Und wir als Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen uns darauf ein.

Bereits in den vergangenen Tagen und Wochen haben wir uns für einen deutlichen Anstieg von Meldungen in unserer Notfallambulanz gewappnet. Unser Beratungstelefon ist ja rund um die Uhr geschaltet. Just am vergangenen Wochenende gab es dann eine deutliche Häufung von Anrufen. Die derzeit geringen Kompensationsmöglichkeiten von betroffenen Familien waren dabei klar das Thema. Themen, die in diesen Familien ohnehin da sind, werden derzeit also noch verstärkt.

Gibt es Eltern, die sich aktuell vielleicht sogar erstmals fragen, ob ihr Kind diese Störung haben könnte?

Solche Anfragen hatten wir tatsächlich auch. Hier möchte ich Eltern eher beruhigen: Wir befinden uns gerade in einem künstlichen Zustand und der sagt unter Umständen wenig darüber aus, wie ein Kinder üblicherweise ist. Um eine Aufmerksamkeitsstörung klar zu diagnostizieren, müssen wir uns die verschiedensten Settings anschauen, in denen sich das Kind im Alltag befindet: Die Schule, das Elternhaus, den Sportverein und so weiter. Das Kind nimmt die Störung ja überall mit hin.

Jetzt allerdings, wo Kinder weitestgehend zu Hause bleiben, ist das nicht der Fall. Daher sind entsprechende Einschätzungen schwierig. Und mal ganz abgesehen davon: Auch die Kapazitäten für eine Diagnosestellung dürften in den Praxen und Ambulanzen derzeit kaum vorhanden sein.

Was sind denn aktuell die größten Herausforderungen für Kinder mit ADS und ADHS – und ihre Eltern?

Zunächst fehlt natürlich die Bewegung. Sicher, Bewegung ist generell wichtig, für alle Kinder. Psychisch gesunde Kinder können hier aber im Zweifel besser gegensteuern. Kinder mit ADHS haben ja eine enorme innere Unruhe in sich. Sport und Bewegung tun ihnen gut, dabei können sie sich auspowern. Andersrum können wir von einer Zunahme der Symptome ausgehen, wenn Bewegung wegfällt.

Aktuell haben wir es je nach Bundesland mit Kontakt- beziehungsweise eingeschränkten Ausgangssperren zu tun. Das heißt doch, dass die Menschen sich weiter an der frischen Luft bewegen können – sofern sie nicht in Quarantäne sind. Wo liegt also das Problem?

Nicht jeder hat einen Park um die Ecke oder gar einen eigenen Garten. Denken wir an die vielen Menschen, die in beengten Verhältnissen leben. Der Hof ist vielleicht gesperrt, um den Spielplatz hängen rot-weiße Bänder. Lasst uns eine Runde um den Block gehen, könnte man jetzt sagen. Oder: Auf zur nahen Wiese, Federballspielen. Sowas will aber organisiert sein und gerade bei schlechtem Wetter ist es für den ein oder anderen vielleicht eine Überwindung, sich aufzuraffen. Nicht zu vergessen, dass vielleicht auch die Kinder selbst nicht immer so einfach motivierbar sind. Will man als Einzelkind mit den Eltern Fangen spielen im Wald? Hat der 12-Jährige, der sonst im Fußballverein aktiv ist, Lust, mit der drei Jahre älteren Schwester joggen zu gehen?

Die Kinder an die frische Luft schicken, das klingt so leicht. Viele sind Bewegung schlicht ganz anders gewohnt: In Vereinen zum Beispiel. Oder wie gesagt auch: im Hof, zusammen mit anderen. Das alles fällt jetzt weg. So wie vieles andere auch. Vergessen wir nicht: Wenn wir über fehlende körperliche Aktivität reden, reden wir ja nur über einen Aspekt, der Kindern mit ADS und ADHS gerade zu Schaffen macht.

Was belastet die Familien neben der Tatsache, dass es derzeit schwerer fällt, sich auszupowern, noch?

ADS und ADHS sind – salopp gesagt – chaotische Störungen. Vereinfacht: Die Betroffenen haben wenig Struktur in ihrem Inneren und neigen zu impulsiven, überschießenden Reaktionen. Kinder mit ADHS sind oft sehr spontan, wollen tun, was ihnen gerade in den Kopf kommt. Darüber vergessen sie andere Dinge, die vielleicht anstünden – das macht die Bewältigung des Alltags schwer. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mit ADS und ADHS nicht gut vorausplanen können.

Außerdem haben sie nachweislich ein anderes Zeitgefühl. Wo Schülern Stand heute gesagt wird: Die Schule bleibt bis nach den Osterferien geschlossen, können sich psychisch gesunde Kinder ab der 3. oder 4. Klasse zumindest grob etwas darunter vorstellen. Ein Kind mit ADS oder ADHS im selben Alter ist damit überfordert. Nach den Osterferien, das klingt wie unendlich. All sowas wirkt in einer Situation, in der wir ja alle dazu neigen, an Struktur zu verlieren, wie ein zusätzlicher Verstärker.

Was kann gegen den Strukturverlust helfen?

Die Inhalte von Elterntrainings, wie sie an zahlreichen Kliniken und Ambulanzen angeboten werden, sind jetzt Gold wert, denn vieles, was hier schon länger mitgegeben wurde, gilt jetzt erst recht. Ein Punkt, der bei all diesen Trainings ganz oben auf der Agenda steht, ist die Schaffung geregelter Abläufe und die Einbeziehung wiederkehrender Routinen ins Familienleben. Machen Sie sich einen Plan, rate ich. Vereinbaren Sie in der Familie, wie Sie durch den Tag und die Woche gehen wollen. Man kann sowas ja durchaus diskutieren, dann nimmt man die einzelnen eher mit.

Ich persönlich finde es zum Beispiel nicht schlimm, wenn eine Familie sagt: Wir frühstücken gerade immer um zehn und nicht wie sonst um sieben. Wenn Kinder, die jetzt länger schlafen, abends später ins Bett gehen, ist das in Ordnung. Sofern bestimmte Verbindlichkeiten weiter eingehalten sind, wohlgemerkt. Gemeinsam eingenommene Mahlzeiten etwa. Der Spaziergang am Nachmittag. Auch die stille Stunde, in der jeder was für sich macht, könnte Teil einer täglichen Routine sein. Oder die fest eigeplante Zeit für ein bestimmtes Fernsehformat.

Hauptsache, es gibt überhaupt so etwas wie eine Struktur. Womit können wir den Tag füllen? Für das Gehirn von Menschen mit ADS und ADHS ist eine gute Antwort auf diese Frage die halbe Miete. Es hat so viel eher die Chance, zur Ruhe zu kommen.

Sie haben gerade das Fernsehen angesprochen. Ist das bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen nicht eher kontraproduktiv?

Es stimmt, einen übersteigerten Medienkonsum sehen wir sonst recht kritisch. Nicht zuletzt, weil der oft mit weniger Schlaf und damit einer schlechteren Konzentrationsleistung einhergeht. Gerade jetzt aber, wo das Leben sonst nicht so viel bereithält, sollten Eltern gnädig mit sich und dem Nachwuchs sein. Zwar sollten weiterhin feste Zeiten für Handy, Fernsehen und Co vereinbart sein, diese aber etwas auszudehnen, ist okay.

Darüber hinaus scheint mir in Sachen Mediennutzung gerade einiges in Bewegung. Eine Mutter erzählte mir neulich, ihr 8-Jähriger hätte über Facetime den besten Freund für eine Partie Schach zugeschaltet: Der sagte ihm jeweils, welche Figur für ihn gezogen werden solle. Es hat wohl ganz prima funktioniert. Für solche kreativen Nutzungen von Handy und Tablets sollten wir derzeit offen sein, finde ich.

Eben sprachen wir über ADHS und Bewegung und dass diese den Kindern gut tut. Besonders der Sport in der Gruppe mit einem guten Trainer, aber auch Judo oder Yoga. Eine Eltern-Schule hier bei uns in Hamm* hat ganz aktuell einen Youtube-Kanal gestartet, auf dem von Montag bis Freitag Sportprogramme für Kinder gespielt werden. Natürlich, die Kinder, die man da sieht, sind fremd, sind Fernseh-Kinder. Aber vielleicht könnte der 8-Jährige ja darüber hinaus ja auch hier seinen virtuellen Schach-Freund dazu holen?

Die täglichen Schulaufgaben dürften für Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen eine besondere Herausforderung sein…

Tatsächlich haben diese Kinder ja typischerweise große Probleme mit der Konzentration. Bei manchen reicht die Aufmerksamkeitsspanne keine zehn Minuten, andere können eine halbe Stunde oder länger bei der Sache sein. Eltern, die das tägliche Pensum an Lernstoff vielleicht gerne zügig weg hätten, sollten das bedenken. Sie sollten sich auch bitte nicht von dem, was andere Eltern über ihre Erfahrungen mit Heimunterricht berichten, beirren lassen. Es gibt nur einen Maßstab: Das eigene Kind. Wie lange ist es in der Lage, konsequent zu arbeiten? Wann macht eine Pause Sinn? Geht es danach wieder besser? Möglicherweise sogar besser als erwartet? Das muss man alles ausprobieren.

Seit die Schulen geschlossen haben höre ich immer wieder auch Positives. Eltern, die sich bemühen, individuell auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen und sagen: Da wird gerade erstmals so richtig die Freude am Lernen entdeckt. Nicht ins übliche Korsett eines Schulalltags eingebunden zu sein kann auch eine Chance sein. Wenn Eltern auch kleine Erfolge sehen und diese entsprechend benennen, sind sie auf einem guten Weg. Im Allgemeinen geschieht leider eher etwas anderes: Aus Sicht vieler Eltern machen Kinder mit ADS und ADHS ganz viel falsch. Das wiederum provoziert neues Fehlverhalten.

Die berühmte sich selbst erfüllende Prophezeiung?

Genau. Ich kann es ja doch nicht recht machen, denkt das Kind. Und dann wird es auch nichts.

Kinder mit ADS und ADHS brauchen also viel Lob?

So wie jedes Kind, ja, und am besten sogar noch mehr und möglichst prompt. Denn auf diese Art können Familien es am ehesten schaffen, sich aus dem Teufelskreis aus Frust und Überforderung zu ziehen. Eine gute Methode ist der abendliche Rückblick, bei dem man gemeinsam überlegt: Was lief heute rund? Klammer auf: Neben all dem, was vielleicht schlecht lief, aber das ist jetzt nicht das Thema. Eine Familie erzählte mir neulich, sie seien stolz, wie sie das gerade alles hinkriegen würden. Animiert durch den Applaus, den Ärzte und Pflegekräfte gerade von vielen Balkonen bekommen, haben sie begonnen, sich beim Abendessen für das Geleistete selbst zu beklatschen. Das finde ich eine tolle Idee.

Schauen, was geht, was man gemeinsam schaffen kann – darum sollte es gehen. Und auch ums Hinterfragen von Ansprüchen sollte es gehen. Wir befinden uns in einer besonderen Zeit. Nochmal: Seien wir gnädig. Mit unseren Kindern und mit uns selbst. Eltern sind keine Lehrer. Das muss klar sein. Sich das bewusst zu machen, kann entlasten. Genauso wie es entlasten kann, wenn man weiß, dass man sich im Zweifel Hilfe holen kann. Es gibt diverse Hotlines von Beratungsstellen und Elternschulen. Im Moment wird das meines Wissens noch wenig genutzt, was ich sehr schade finde.

Die Eltern müssen wissen, dass sie nicht alleine sind. Und sie müssen wissen, dass sie auch an sich denken dürfen. Fakt ist: Ein Kind mit ADS oder ADHS großzuziehen ist oft eine echte Herausforderung. Wenn die eigenen Akkus nicht regelmäßig aufgeladen werden, schafft man das nicht.

Aber genau das dürfte vielen derzeit schwerfallen. Wie wird alles weitergehen? Wer Sorgen hat, dem fällt es schwer, sich zu entspannen.

Richtig und sowas überträgt sich natürlich aufs Kind, Kinder sind Seismographen. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen ist schwierig. Am ehesten gelingt es, wenn wir einen Weg suchen, mit den Kindern zu teilen, was uns beschäftigt. Ich denke dabei weniger an ein detailliertes Reflektieren möglichen Katastrophenszenarien, sondern eher daran, die Herausforderung als etwas zu begreifen, was alle gemeinsam angeht. Nach dem Motto: Es ist zwar schwierig, in einem Boot zu sitzen, das hin und her wackelt. Aber immerhin sitzen wir da als Familie gemeinsam drin.

*www.elternschule-hamm.de

Mehr Infos zum Thema: www.adhs-info.de

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