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Dass etwas mit ihr nicht stimmt, merkte Hildegard Welbers im Lauf des Jahres 1996. „Ich war auf einmal so schwach“, erzählt die Lübeckerin. „Sobald ich saß, schlief ich ein.“ Sie ging zu ihrer Ärztin, die die Schilddrüse überprüfte und ihr ein Medikament verschrieb. Die Müdigkeit aber blieb. „Eines Tages“, erinnert sich Welbers, „war dann ein unscheinbarer Brief vom Blutspendedienst in der Post.“ Man habe Auffälligkeiten festgestellt, stand darin. Sie solle bitte vorbeikommen. „Der Arzt dort druckste herum, was mich wütend machte. Dann platzte es schließlich aus ihm heraus: Ich sei HIV-positiv, sagte er – und gab mir noch zwei bis vier Jahre Lebenszeit“, erzählt die heute 76-Jährige.

Auch wenn die Krankheit von ihrem Schrecken abgenommen hat, sieht sich Hildegard Webers immer noch mit dem Stigma konfrontiert.

Auch wenn die Krankheit von ihrem Schrecken abgenommen hat, sieht sich Hildegard Webers immer noch mit dem Stigma konfrontiert.

Diagnose HIV

Sie fuhr zur Arbeit und hätte ihren Kolleginnen und Kollegen am liebsten gesagt, sie sollten sich vor ihr in Sicherheit bringen. Doch sie schwieg. Sie sprach weder auf der Arbeit über ihre HIV-Infektion, noch erzählte sie ihren Freundinnen und Freunden davon. Nicht mal ihr damals 20-jähriger Sohn und ihr Bruder erfuhren etwas. Nur ihrem Mann, mit dem sie seit Kurzem verheiratet war, offenbarte sie sich. Der hatte sie angesteckt, nicht wissend, dass er sich in einer früheren Beziehung selbst infiziert hatte. „Ich hatte ja keine Ahnung – und so viel Angst“, sagt Hildegard Welbers heute.

Die Angst speiste sich aus den Jahren ­davor. Anfang der 1980er-Jahre gab es erstmals Berichte über eine Häufung von Pilz­infektionen und speziellen Lungenentzündungen bei ansonsten gesunden, homosexuellen Männern. 1982 erhielt die Erkrankung dann einen Namen: „Acquired Immune Deficiency Syndrome“, übersetzt „erworbenes Immunschwächesyndrom“, kurz „Aids“. Zu diesem Zeitpunkt meldeten die USA bereits 452 Erkrankungen – und 177 Todesfälle.

Frühe Jahre der HIV-Epidemie

Auch in Deutschland wurden in diesem Jahr erste Aids-Fälle bekannt. Eine größere Rolle spielte die Krankheit in der öffent­lichen Wahrnehmung damals aber nicht. Das änderte sich, als die Zahl der Infektionen Mitte der 1980er-Jahre bei über 6000 lag. Es herrschte eine diffuse Angst und Feindseligkeit gegenüber Infizierten, die als homosexuell und drogensüchtig diffamiert wurden. Dabei waren längst auch hetero­sexuelle Menschen betroffen.

Geprägt wurde das gesellschaftliche ­Klima auch durch den Kampf innerhalb der Politik: Während die einen auf Aufklärung und Prävention setzten, forderten die anderen Zwangstests, eine Kennzeichnungspflicht betroffener Menschen und sogar ­deren Internierung in Heimen. Medien sprangen auf die Kampagne auf und schürten Ängste. Die waren – zumindest bezogen auf die Wirkung des HI-Virus, das zu Aids führt – nicht unberechtigt: Forschende gingen zunächst davon aus, nur ein kleiner Teil der mit dem HI-Virus Infizierten würde auch an Aids erkranken. Ein Irrtum. Die Infektion mit dem Virus war für so gut wie jeden von ihnen ein Todesurteil. Zwar gab es bereits in den 1980er-Jahren erste Medikamente. Die verschafften Betroffenen aber oft nur ein paar Wochen mehr Lebenszeit – bei zum Teil unerträglichen Nebenwirkungen.

Die Sozialarbeiterin Ute Krackow engagiert sich seit mehr als 30 Jahren für HIV-positive Frauen und Männer in Schleswig-Holstein.

Die Sozialarbeiterin Ute Krackow engagiert sich seit mehr als 30 Jahren für HIV-positive Frauen und Männer in Schleswig-Holstein.

Ute Krackow spricht von den „herausforderndsten, dunkelsten und traurigsten Jahren“, die sie je erlebt habe. 1991, sie war damals noch Studentin, begann die heute 61-Jährige ehrenamtlich als Telefonberaterin bei der Aidshilfe in Kiel. „HIV kam spät in die Stadt, aber mit Wucht“, erinnert sie sich. Junge Männer, die zum Studieren oder Arbeiten in Großstädte gegangen waren und sich dort infiziert hatten, kehrten heim nach Kiel, von ihrer Aidserkrankung mitunter sichtlich gezeichnet. „Sie kamen zum Sterben nach Hause und hofften, von Freunden und Familie aufgenommen zu werden“, erzählt Krackow. „Stattdessen wurden viele von ihrem Umfeld stigmatisiert und alleingelassen. Die Angehörigen, aber auch das Pflegesystem waren nicht vorbereitet.“

Durchbrüche in der Therapie

Damals fing die Aidshilfe mit ihrem ­„Buddy“-Programm, bei dem sich Ehrenamtliche um HIV-positive Männer und Frauen kümmern, viele auf. „Das war oft Sterbe­begleitung“, sagt Krackow. 1993 stieg sie als Sozialarbeiterin bei der Aidshilfe ein und koordinierte die Arbeit der „Buddys“. „Auch immer mehr Frauen mit HIV kamen zu uns, weshalb man mich gerne im Team haben wollte“, erzählt die Kielerin. Sie erinnert sich an teils extrem abgemagerte Menschen, die an Krebs und anderen Erkrankungen litten. In wenigen Jahren beerdigte sie mehr als 70 Menschen. Viele starben auch noch im Jahr 1996, in dem Forschende auf dem Welt-Aids-Kongress in Vancouver erstmals eine Therapie vorstellten, bei der verschiedene Wirkstoffe kombiniert wurden, um an unterschiedlichen Stellen der Virusvermehrung im Körper anzusetzen. „Die Kombinationstherapie war der Durchbruch“, sagt sie. Seitdem ist die Lebenserwartung von HIV-Infizierten deutlich gestiegen. Ende 2021 lebten 91 000 Menschen mit HIV in Deutschland. Nur 90 Prozent aller Infektionen gelten allerdings als diagnostiziert.

Krackow ist heute im Landesverband der Aidshilfe in Schleswig-Holstein aktiv – genauso wie Hildegard Welbers. Letztere ist auch Vorständin der Aidshilfe in Lübeck und in Kiel. Fragt man sie nach dem Grund ihres Engagements, tut sie das ein wenig ab: „Heute möchte ja niemand mehr Vorstandsarbeit leisten“, sagt sie dann. Doch da ist noch etwas anderes, das sie motiviert. Es zeigt sich, wenn sie von der Frauengruppe spricht, zu der sie seit ihrer Diagnose 1997 geht und zu der auch heute immer mal wieder Neuinfizierte kommen: „Die haben genau die gleichen Fragen und Ängste wie ich damals.“ Zwar hat der medizinische Fortschritt dazu geführt, dass HIV-Infizierte heute ein fast normales Leben führen können. Die Unwissenheit darüber aber ist noch immer groß – und das Stigma geblieben. Deshalb verbringt Welbers viel Zeit damit, aufzuklären und für eine größere Testbereitschaft in der Bevölkerung zu werben.

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Die Hoffnung auf Heilung

Für Lutz Ohrtmann, einen Mitarbeiter von Hildegard Welbers, liegt die HIV-Diagnose über zehn Jahre zurück – doch die Erinnerung verblasst nicht. Der 36-Jährige leitet bei der Aidshilfe Kiel den „Checkpoint“, wo Menschen Schnelltests und Laboruntersuchungen erhalten. „Wenn ­Klienten dort sitzen und warten, könnte ich ihnen genau sagen, auf welchem Stuhl ich selbst saß, als ich meine Diagnose bekam“, sagt Ohrtmann. In den gut drei Jahren, die der Pädagoge bei der Aidshilfe angestellt ist, testete er drei Menschen positiv auf HIV. „Das war jedes Mal schwierig für mich, weil es die alten Gefühle wieder hervorbrachte“, erzählt er. 2012 ließ Ohrtmann sich mit seinem damaligen Partner testen, nur um sicherzugehen. „Als der Schnelltest ‚reaktiv‘ war, wie wir das nennen, schaute ich lange ungläubig darauf“, erinnert er sich.

„Da war keine Wut, keine Trauer, nur eine große Leere.“ Das änderte sich mit dem Ergebnis des Bluttests. „Ich war wütend auf mich, traurig und hilflos. Und ich hatte Angst, vor Ausgrenzung und um mein Leben“, so Ohrtmann. Obwohl das Thema HIV und Aids in der schwulen Community damals sehr präsent war, sei sein Bild von der Erkrankung vor allem durch Filme wie „Philadelphia“ geprägt gewesen. „Ich hatte keine Ahnung, was mir helfen könnte“, sagt Ohrtmann. Die Therapie sah bei ihm dann genauso aus wie schon bei Hildegard Welbers und den meisten Menschen, die das HI-Virus in sich tragen: eine sogenannte antiretrovirale Kombinationstherapie, die die Virus-Vermehrung stoppen soll.

Dank moderner HIV-Medikamente hat Lutz Ohrtmann heute kaum Einschränkungen im Alltag.

Dank moderner HIV-Medikamente hat Lutz Ohrtmann heute kaum Einschränkungen im Alltag.

Mittlerweile sind die Medikamente besser verträglich als zu Zeiten, in denen Hildegard Welbers mit der Einnahme der Ta­bletten startete: Sie kämpfte anfangs mit starken Durchfällen, schlechten Nieren- und Leberwerten und damit, dass Arzneien plötzlich nicht mehr wirkten. Lutz Ohrtmann hatte dagegen nie Probleme mit ­Nebenwirkungen oder Unverträglichkeiten. Ziel der HIV-Therapie ist es, die Anzahl der Viren im Blut so zu verringern, dass sie nicht mehr nachweisbar sind. „Bei mir war das nach etwa sechs Monaten der Fall“, sagt Ohrtmann. Die Behandelten sind dann nicht mehr infektiös, können sogar ungeschützten Sex mit ihren Partnern oder Partnerinnen haben. Frauen können schwanger werden und Kinder gesund zur Welt bringen – wenn sie sich an die Therapie halten.

Forschung zur Immunantwort

Wie veränderbar das HI-­Virus ist, erforscht Dr. Christian Gaebler seit Jahren. Der 38-Jährige ist Arzt und Wissenschaftler an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité in Berlin. Er ist fasziniert davon, wie flexibel und damit gefährlich das Virus ist: „Seine Vielfältigkeit, die durch Mutation entsteht, ist ­innerhalb eines Körpers mitunter größer als die Vielfältigkeit anderer Viren weltweit betrachtet.“ Lange sei die Medizin deshalb davon ausgegangen, dass das HI-Virus ­unserem Immunsystem immer voraus sei und dieses deshalb keine wirksamen Antikörper bilden könne. „Frühe Antikörpertherapie-Studien bestätigten das mit schlechten ­Ergebnissen“, sagt der Immunologe. In den Jahren danach aber zeigte sich bei manchen Menschen, die länger mit dem HI-Virus leben, durchaus eine breite Immunantwort. „Während der Therapie findet im Körper ein unterschwelliges Katz-und-Maus-Spiel statt, durch das sehr effiziente Antikörper entstehen können“, erklärt Gaebler.

Der Forscher Dr. Christian Gaebler erhielt in diesem Jahr den Deutschen Aids-Preis für seine Forschung zu HIV- Antikörpern.

Der Forscher Dr. Christian Gaebler erhielt in diesem Jahr den Deutschen Aids-Preis für seine Forschung zu HIV- Antikörpern.

Ab etwa 2010 forschte Gaebler in den USA und ging „angeln“, wie er es nennt. Bildlich formuliert warf er im Labor Köder aus, mit denen er die Zellen aus dem Blut von Patientinnen und Patienten fischte, die effiziente Antikörper produzieren. So gelangte er an deren Bauplan und konnte die Abwehrstoffe selbst herstellen. Die Ergebnisse einer Studie, für die Gaebler in diesem Jahr den Deutschen Aids-Preis erhielt und die er im Fachblatt Nature veröffentlichen konnte, sind erstaunlich: Bei einem Großteil der ­P­atienten und Patientinnen, die statt ihres täglichen Kombipräparats nur sieben Mal Antikörper erhielten, blieb die Vermehrung des Virus mindestens fünf Monate unterdrückt. Bei manchen der so Behandelten kehrte das Virus auch nach Ende der Therapie nicht zurück. Das nährt die Hoffnung, dass irgendwann vielleicht doch eine Heilung möglich sein wird. Zumindest könnten effiziente Antikörper das Leben erleichtern: „Ihr Vorteil ist, dass sie länger wirksam sind als die gängigen Wirkstoffe und körpereigen“, erklärt Gaebler. HIV-Infizierte müssten sie also womöglich nicht mehr täglich nehmen– und die Mittel könnten noch verträglicher sein.

Das anhaltende Stigma

Bleibt das gesellschaftliche Stigma, gegen das es kein einfaches Mittel zu geben scheint. Lutz Ohrtmann erzählt, wie weh es ihm tat, wenn Menschen auf ihn herabschauten. „Nach dem Motto: Wie dumm muss man sein, sich heutzutage noch zu infizieren?“, sagt er. Die größte Stigmatisierung erlebt er aber im Gesundheitsbereich – etwa, wenn er beim Arzt den letzten Termin bekommt. Oft mit dem Hinweis, es müsse mehr desinfiziert werden.

Hildegard Welbers ließ sich für den Norddeutschen Rundfunk schon einmal in zehn Zahnarztpraxen Termine geben und „outete“ sich erst am Ende des Gesprächs als HIV-positiv: „Daraufhin sagten mir acht Praxen ab.“ Aktuell beschäftigt sie die Frage, wo sie im Alter bleiben wird. Sie hat selbst schon Personal in Heimen geschult, das Angst hatte vor Menschen wie ihr. „Dass ich einmal selbst vor dem Problem stehen könnte, schob ich lange von mir weg“, sagt die 76-Jährige. „Langsam kann ich dem aber nicht mehr ausweichen.“

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Quellen: