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Frau Kautzky-Willer, Sie forschen zu zu Geschlechts­unterschieden bei Typ-2-­Diabetes. Nehmen wir an, Sie und ich als Mann erkranken ­daran: Welche Unterschiede bei Diag­nose und Verlauf ­wären wahrscheinlich?

Wahrscheinlich würde mein Diabetes später diagnostiziert werden als Ihrer. Ich wäre wohl schon stärker übergewichtig, hätte mehr Bluthochdruck und insgesamt eine höhere Risikofaktorlast. Es ist anzunehmen, dass Sie nach der Diagnose eine effizientere Therapie erhalten oder sie besser hilft. Unterm Strich dürfte ich mehr Lebensjahre verlieren als Sie.

Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer forscht zu geschlechtergerechter Medizin, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungenan der Medizinischen Hochschule Wien.

Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer forscht zu geschlechtergerechter Medizin, Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungenan der Medizinischen Hochschule Wien.

Dabei gehen Frauen eher zu Ärztin oder Arzt als Männer und gelten als gesundheits­bewusster. Warum wird bei ihnen der Diabetes trotzdem erst später festgestellt?

Bei der Diagnose wird häufig nur der Nüchternblutzucker gemessen und es gelten für Frauen und Männer dieselben Grenzwerte. Die Nüchtern­werte sind bei Frauen aber generell niedriger. Deshalb können sie im Test dann oft noch im Normalbereich liegen, obwohl bereits ein Diabetes oder eine Vorstufe davon vorliegt.

Können Frauen daran selbst etwas ändern?

Zuallererst sollte es Aufgabe der Medizin sein, Geschlechter­unterschiede anzuerkennen. Frauen können und sollten aber zumindest darauf bestehen, das der Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c gemessen wird, wenn bei ihnen der Verdacht auf einen Diabetes geklärt werden soll. Im Idealfall wird immer ein Zuckerbelastungstest gemacht. Der ist aufwen­diger, aber gut geeignet, um die ­gestörte Glukose­toleranz he­rauszufinden, unter der Frauen öfter leiden als Männer.

In der Schwangerschaft ist der Test Standard beim Screening.

Genau, und die Schwangerschaft ist auch häufig der — leider späte — Zeitpunkt, an dem bei Frauen ein Diabetes diagnostiziert wird. Das Problem ist, dass regelmäßige Nachuntersuchungen bei Schwangerschaftsdiabetes oft ausbleiben. Meist wird nach der Geburt nur einmal nachkontrolliert. Dann ist der Blutzucker aber oft unauffällig, selbst bei einem Zuckerbelastungstest. Es bleibt aber ein erhöhtes Grundrisiko. Ansonsten hätte die Frau den Schwangerschaftsdiabetes nicht entwickelt, der der größte Risikofaktor für späteren Typ-2-Diabetes ist. Aber es geht nicht nur darum.

Sondern?

Erstens haben die Frauen dann ein höheres Risiko für eine Reihe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bis hin zum Hirn- und Herzinfarkt. Zweitens profitiert die gesamte Familie, wenn die Nachsorge damit verknüpft ist, Übergewicht, Bewegungsmangel oder ungesunde Ernährung anzugehen. Der Schwangerschaftsdiabe­tes ist etwas, das extreme Effekte auf die öffentliche Gesundheit hat. Es geht nicht nur um die Mütter.

Gibt es weitere Gruppen mit erhöhtem Risiko?

Bekannt ist, dass die Sexualhormone einen schützenden Effekt haben beim jeweiligen Geschlecht. Bei Männern sind normale Testosteron-, bei Frauen normale Östrogenspiegel günstig. Wenn Frauen aber einen erhöhten Testosteronspiegel haben, wie es etwa beim polyzys­tischen Ovarialsyndrom vorkommt, erhöht das ihr Diabetes-Risiko. Genauso, wenn ihr Östrogenspiegel stark absinkt — etwa in der Menopause und vor allem, wenn diese vorzeitig eintritt.

Welche Rolle spielt Stress?

Der stellt mittlerweile grundsätzlich einen eigenen Risikofaktor für Typ-2-Diabe­tes dar, betrifft Frauen aber am meisten. Sie sind zum Beispiel stärker als Männer von unbezahlter Arbeit durch die Pflege von Angehörigen und Kindern betroffen und reagieren insgesamt stärker auf psychosoziale Probleme und emotionale Belastungen. Die Menopause ist nicht nur aufgrund der biologischen Veränderungen ein Risikofaktor, also aufgrund des fallenden Hormonspiegels, sondern auch, weil sie oft eine emotional belastende Zeit ist: Die Kinder verlassen das Haus, Scheidungen häufen sich.

Warum ist die Therapie bei Frauen oft weniger ­erfolgreich?

Dass Frauen die gewünschten Zielwerte seltener er­reichen als Männer und mehr Komplikationen haben, kann zunächst einmal an der späten Diagnose liegen. Die Erkrankung ist fortgeschritten, die Risikofaktoren ballen sich. Ein Problem kann auch die Kommunikation sein, vor allem zwischen Ärzten und Frauen. Ärzte nehmen sich weniger Zeit als Ärztinnen, sie stellen weniger offene Fragen und tun Nebenwirkungen von Medikamenten eher ab. Die betreffen Frauen aber häufig, weshalb sie womöglich auch nicht so therapietreu sind.

Warum leiden Frauen unter mehr Nebenwirkungen?

Gerade die älteren Medika­mente wurden eigentlich nie an ihnen getestet. Das ist heute anders, aber auch bei neuen Studien werden längst nicht so viele Frauen eingeschlossen wie Männer — und dann vor allem Frauen nach der Menopause. Da bleiben viele ­Fragen offen, angefangen damit, ob es Unterschiede in der Wirkung nach der Menopause gibt. Muss man ­Dosierungen anpassen? Gibt es Wechselwir­kungen mit der Pille? Was ist in der Schwangerschaft? Selbst bei den neuen Medikamenten steht, dass man sie dann nicht nehmen darf. Dabei fehlt es in Wirklichkeit an Daten.

Profitieren auch Männer von einer ­geschlechtergerechten Medizin?

Aber ja! Und zwar nicht nur beim Diabetes, unter dem Männer ja häufiger leiden als Frauen. Depressionen zum Beispiel werden bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern — und das sicherlich nicht, weil letztere nur halb so oft darunter leiden. Hier haben wir ein männer­bezogenes medizinisches Genderproblem, das anzugehen wäre.

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Quellen:

  • Kautzky-Willer, A., Leutner, M. & Harreiter, J.: Sex differences in type 2 diabetes. Diabetologia: https://doi.org/... (Abgerufen am 14.08.2023)