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Fehlerhafte Angaben, nachlässige Untersuchungen, Lücken in den Befunden – wenn medizinische Gutachter Fehler machen, sind die Folgen für die Betroffenen mitunter gravierend: Wer privat gegen Berufsunfähigkeit versichert ist und einen Antrag auf eine Rente stellt, muss sich nicht selten einer medizinischen Untersuchung stellen. Die Ärztinnen und Ärzte entscheiden im Auftrag der Versicherer mit, wer Leistungen erhält.

„Dass manchmal Gutachten erstellt werden, die beim ersten Lesen schon nicht leitliniengerecht sind, kommt immer wieder vor“, sagt die Berliner Versicherungs- und Medizinrechtsanwältin Nadine Liske. „Die Formalien dienen ja der Diagnosestellung sowie der nachvollziehbaren Einschätzung der Berufsunfähigkeit. Und wenn man sich nicht daran hält, dann ist auch die Gefahr, dass das Ergebnis falsch ist, relativ hoch.“

Bei der staatlichen Erwerbsminderungsrente wird oft nach Aktenlage entschieden; in komplizierten Fällen veranlasst der Rententräger manchmal eine Begutachtung. Auch hier kann es zu Problemen kommen: In 42 Prozent aller Fälle wurden die Anträge 2022 nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund abgelehnt.

So können Betroffene vorgehen

  • Versicherte können einen behandelnden Arzt oder eine Ärztin bitten, eine ausführliche Stellungnahme zu verfassen und diese der Versicherung vorlegen.
  • Beharrt der Versicherer auf seinem Gutachten, bleibt den Betroffenen die Möglichkeit, selbst eine Privatgutachten in Auftrag zu geben (Kostenpunkt 2500 bis 4500 Euro).
  • Wer gerichtlich vorgeht, sollte vorab die Kosten kalkulieren, die sich vor Zivilgerichten je nach Verfahren auf rund 20.000 Euro summieren können.
  • Darüber hinaus können Versicherte unlautere Gutachter und Gutachterinnen bei der zuständigen Ärztekammer melden.

In welch prekäre Lage Schwerkranke infolge problematischer Gutachten geraten können, zeigt eine Recherche des Recherchezentrums Correctiv über die umstrittene Gutachtenfirma PMEDA in der Schweiz: Gegen die Firma richten sich in Schweizer Medien seit Jahren gravierende Vorwürfe wegen problematischer Gutachten zum Nachteil von Versicherten. Correctiv und SRF berichten nun über auffällige Ungereimtheiten: In mehreren Fällen bleiben ärztliche Befunde offenbar unberücksichtigt, bereits diagnostizierte Krankheitsbilder werden nicht abgeklärt, und zum Teil dokumentieren Ärztinnen und Ärzte Untersuchungen, die sie nie durchgeführt zu haben scheinen.

Die PMEDA weist die Vorwürfe über eine Anwaltskanzlei zurück und spricht von einer „Kampagne von Geschädigtenanwälten“ und Schweizer Medien: „Medizinische Gutachten werden laufend gerichtlich angefochten”, heißt es in der Stellungnahme. „Es geht um viel Geld. Von allen gerichtlichen Auseinandersetzungen rund um Invaliditätsfälle profitieren auch Geschädigtenanwälte.”

Ermittungen gegen deutsche Ärztinnen und Ärzte

Die Firma in Zürich wird geleitet von dem deutschen Neurologen Professor Henning Mast, einem Erben der Jägermeister-Unternehmerfamilie, und setzt vorwiegend deutsche Ärztinnen und Ärzte ein, „Flugärzte“, wie es in der Schweiz heißt. Inzwischen laufen in der Schweiz mehrere Strafverfahren gegen die Firma und einige ihrer Ärzte. Trotzdem begutachten die PMEDA-Ärzte im Auftrag der Schweizer Sozialversicherung weiter jährlich mehrere hundert Menschen.

Nun geraten einige PMEDA-Gutachterinnen und Gutachter in Deutschland erstmals in Bedrängnis – nicht wegen angeblich fehlerhafter Gutachten, sondern wegen mutmaßlicher Steuerdelikte: Wie Correctiv und SRF unter Berufung auf Ermittlerkreise berichten, erhielten mehrere Ärztinnen und Ärzte im April Besuch von Steuerfahndern: Bei den Razzien wurden demnach bundesweit mindestens zehn Gebäude durchsucht.

Die Ermittlungen richten sich gegen insgesamt zwölf Medizinerinnen und Mediziner; gegen Mast wird nicht ermittelt. Das Finanzamt Ulm, das die Ermittlungen leitet, äußerte sich auf Anfrage zu dem Verfahren. Aus Ermittlerkreisen heißt es, die Ärztinnen und Ärzte könnten einen Praxissitz in der Schweiz vorgetäuscht und so Einkommenssteuern hinterzogen haben. Die PMEDA lässt Fragen nach den Ermittlungen offen: „Zu Fragen zur Besteuerung ihrer Einkünfte können nur die Gutachter selbst und nicht wir Stellung nehmen.“

Die Hürden für rechtliche Schritte sind hoch

Zwar ist in Deutschland bisher kein Gutachteninstitut derart in die Kritik geraten. Mängel und Defizite in den Gutachten führen aber immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten, sagt die Berliner Anwältin Nadine Liske. Probleme gebe es vor allem bei psychischen Erkrankungen – diese sind die häufigste Ursache von Berufsunfähigkeit: „Manchmal habe ich einen offensichtlich beeinträchtigten Mandanten vor mir und lese dann in dem Gutachten ‚Aggravation und Simulation‘, sprich: Der Patient übertreibe oder lüge sogar“, sagt die Juristin. „Das hat vor Gericht oft keinen Bestand. Nur heißt das noch nicht, dass der Mandant auch gewinnt.“

Die Versicherten könnten sich zwar rechtlich wehren, aber die Hürden seien insbesondere bei privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen hoch: „Wenn Sie nicht rechtsschutzversichert oder vermögend sind, dann sind Sie ziemlich ausgeliefert“, sagt Liske. Anwalts- und Gerichtskosten könnten sich zuzüglich Sachverständigenkosten schnell auf rund 20.000 oder mehr Euro summieren, je nach Höhe der versicherten Rente – und ohne Garantie, dass sich der Versicherte am Ende durchsetzt. Denn die Beweislast, dass er tatsächlich berufsunfähig ist, liege bei dem Betroffenen. Geht es um die staatliche Erwerbsminderungsrente, sind die Kosten weitaus niedriger, da Streitfälle vor dem Sozialgericht verhandelt werden.

Ein Privatgutachten ist teuer

Zwar könnten Versicherte in jedem Fall versuchen, den Versicherer außergerichtlich umzustimmen. „Der Versicherte kann versuchen, einen behandelnden Arzt zu bitten, ihm eine ausführliche Stellungnahme auszustellen. Dann hat er zumindest etwas in der Hand“, sagt die Fachanwältin; dieser Schritt sei sowohl bei privaten Berufsunfähigkeitversicherungen als auch bei staatlichen Erwebsminderungsrenten ratsam. „Die Versicherung wird in fast allen Fällen trotzdem sagen: Wir glauben unserem Gutachter.“

In dem Fall sei es möglich, selbst ein Privatgutachten in Auftrag zu geben. Aber dies sei aufwändig und teuer; zwischen zweieinhalb und viereinhalb Tausend Euro müssten einkalkuliert werden: „Und selbst, wenn man so ein Gutachten in der Hand hat, ist das keine Garantie, dass sich der Versicherer überzeugen lässt.“

Gutachter bei der Ärztekammer melden

Der Rententräger und private Versicherer müssen ein Privatgutachten nicht akzeptieren. Beharren sie auf dem Nein, bleibe nur noch ein Klageverfahren. In diesem Fall geben die Gerichte ein weiteres Gutachten bei gerichtlich bestellten Sachverständigen in Auftrag. „Die kommen jedenfalls in Verfahren gegen private Berufsunfähigkeitsversicherer oftmals von großen Kliniken oder Universitätskliniken und sind in der Regel schon objektiv, doch das heißt nicht unbedingt, dass sie auch im Sinne des Patienten urteilen“, sagt Liske.

Bei Verfahren vor dem Zivilgericht stünden dem Versicherten die hohen Kosten und der unsichere Ausgang entgegen. Um unlauteren Gutachten das Handwerk zu legen, biete sich außerdem noch eine Meldung bei der Ärztekammer an: „Das führt zwar nicht gleich zu Konsequenzen”, sagt die Juristin. „Aber wenn es der 20. Patient ist, guckt sich die Ärztekammer das vielleicht mal genauer an.“