Logo der Apotheken Umschau

Dr. Charlotte Schulz, Kinderärztin, Hamburg: „Zwischen acht und 11.30 Uhr nehmen unsere Mitarbeiterinnen jeden Tag etwa 100 Anrufe entgegen. Dennoch beklagen sich viele Eltern, dass sie die Praxis schwer telefonisch erreichen. Wir erhalten viele Anrufe von Eltern, die einen Kinderarzt suchen; können aber nur noch Kinder aus einem engen Umkreis um die Praxis aufnehmen. Kinder abzuweisen, fällt uns sehr schwer. Aber wenn wir das nicht täten, könnten wir die anderen Patienten nicht ordentlich versorgen. Das ist ohnehin schwer genug.

Kinderärztin Dr. Charlotte Schulz

Kinderärztin Dr. Charlotte Schulz

Heute etwa war wieder so ein Tag, an dem wir komplett umplanen mussten. Von sieben medizinischen Fachangestellten waren vier krank oder mussten sich um ihre eigenen kranken Kinder kümmern. Die Influenza kam in dieser Saison schon sehr früh – und auch das RS-Virus machte uns zu schaffen. Aufgrund der Krise in den Kinderkliniken mit extremem Bettenmangel müssen wir versuchen, auch sehr kranke Kinder ambulant zu behandeln – so lange es irgendwie geht. Diese Situation in Kombination mit einem Mangel an Kinderarztpraxen und aktuellen Lieferengpässen für Kindermedikamente wie Fieber- und Schmerzsäfte ist wirklich schwierig.

Vor ein paar Wochen zum Beispiel war eine Familie mit ihrem elf Monate alten Kind bei uns, das sich nicht nur das RS-Virus, sondern auch die Influenza eingefangen hatte. Das Kind war aufgrund des hohen Fiebers sehr erschöpft und entkräftet, aus unserer Sicht wäre eine stationäre Behandlung mit Infusion erforderlich gewesen. Ich musste erst mal zig Kliniken abtelefonieren, um ein freies Bett zu finden. Die Eltern fuhren quer durch die Stadt in die entsprechende Klinik – und wurden abgewiesen, vermutlich kam ein anderes Kind dazwischen, dem es schlechter ging. Unser Patient war zum Glück zäh und die Eltern sehr engagiert. Selbst nachts flößten sie dem Kleinen löffelweise Flüssigkeit ein und das Baby erholte sich. Das hätte aber auch anders ausgehen können.

Diese Bedingungen in der Kindermedizin sind eine Katastrophe, die auf dem Rücken der kranken Kinder und ihrer Familien ausgetragen wird.“

Schilderungen wie die von Char­lotte Schulz haben wir bei dieser Recherche häufiger gehört. Überrascht hat uns daher, dass es heute mehr Kinderärztinnen und -ärzte gibt als noch vor zehn Jahren. Arbeiteten 2013 noch 7284 von ihnen in deutschen Praxen, waren es 2021 8149. Auch die Zahl der Praxen stieg in diesem Zeitraum bundesweit von 5700 auf circa 6200. Hamburg etwa gilt eher als überversorgt. Zumindest auf dem Papier. Das Problem: Die sogenannte Bedarfsplanung für die kinderärztliche Versorgung hinkt der tatsächlichen Entwicklung hinterher. Lange Zeit gingen die Planungen etwa von sinkenden Kinderzahlen aus, Faktoren wie Migration wurden nicht genügend einbezogen. Kinderärztinnen und -ärzte kritisieren auch, dass die Bedarfsplanung kaum berücksich­tige, wie sich ihr Leistungskatalog etwa durch ein Mehr an Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen verändert habe. Hinzu kommt: Die Zahl der Kinder, die unter Ängsten, Depressionen oder Essstörungen leiden, nimmt nicht erst seit der Corona-Pandemie zu. „Es ist ein immer höheres Maß an zeit­intensiver Sozialmedizin gefordert“, sagt Charlotte Schulz.

Dr. Jan Rotenberger, Internist/Nephrologe, Wuppertal-Elberfeld: „Zurzeit ist bei uns viel los. Statt der üb­lichen 60 bis 80 Neupatientinnen und -patienten pro Monat sind es 150. Früher kamen die Menschen oft erst zum Nephrologen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Heute schicken die Hausärztinnen und -ärzte sie sehr früh. Das ist gut, weil es hilft, schwere Verläufe bei Nierenerkrankungen zu verhindern.

Dr. Jan Rotenberger, Internist/Nephrologe.

Dr. Jan Rotenberger, Internist/Nephrologe.

Es fordert uns aber auch, da wir für jede Erstuntersuchung etwa eine Stunde brauchen, für die wir nur leidlich bezahlt werden. Den größten Teil unseres Umsatzes machen wir mit der Dialyse, damit finanzieren wir die Arbeit in der Ambulanz. Wie es dort weitergeht, macht uns große Sorgen: Ohne Strompreisdeckel müssten wir statt bisher 35 000 Euro im Jahr nun mehr als 120 000 Euro für Strom bezahlen – dank des Deckels sind es 56 000 Euro. Nicht nur die Maschinen zur Blutreinigung verbrauchen viel Energie, sondern auch die Herstellung der Dialyse-­Flüssigkeit. Zudem gehen die Preise für Material in die Höhe, ebenso die Löhne für unser Personal – bei 55 Angestellten auf 35 Vollzeitstellen ist das ein großer Faktor.

Für die Lohnkosten bekommen wir genauso wie für Miete, Energie, Technik und Mate­rial eine Pauschale, die sich seit 2013 aber nicht verändert hat. Jede Kostensteigerung zahlen wir also aus unserem Gewinn.“

Wissen Sie, wie viel Geld Ihre Ärztin oder Ihr Arzt verdient? Tatsächlich können diese selbst oft nicht genau sagen, wie viel sie für eine Leistung bekommen. Es ist kompliziert: Ihren Verdienst handeln die Kassenärztlichen Ver­einigungen jedes Jahr neu mit den Krankenkassen aus. Gefeilscht wird nicht um einen Betrag für jede Leistung, sondern um den sogenannten Orientierungspunktwert, der aktuell bei genau 11,4915 Cent liegt. Für jede Leistung gibt es eine bestimmte Anzahl von Punkten, für eine Spiegelung des Augenhintergrunds etwa 53. Der Arzt oder die Ärztin erhält für die Untersuchung also 6,03 Euro – theoretisch.

Praktisch steht über allem ein jährliches Gesamtbudget, das nicht überschritten werden kann. Das führt zu einer Budgetierung von Leistungen, aber auch von Praxen insgesamt. Die Ärztin oder der Arzt bekommt also zum Beispiel nur eine bestimmte Anzahl von Augenhintergrundspiegelungen pro Quartal honoriert. Den Rest macht die Praxis quasi kostenfrei oder mit reduziertem Satz. Gleichzeitig ist festgelegt, um wie viele Menschen sich eine Praxis kümmern soll – zum Beispiel um 800 pro Quartal. Für diese Anzahl erhält sie zusätzlich pro Quartal eine Besuchspauschale pro Kopf.

In der hausärztlichen Versorgung liegt sie bei etwa 30 Euro – pro Kopf und Quartal. Nimmt die Praxis statt der „geplanten“ 800 Menschen jedoch 1200 auf, sinkt das Honorar. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sieht die niedergelassenen Praxen nicht in finanzieller Not und verweist immer wieder auf hohe Reinerträge (vor Steuern und Sozialabgaben). In der hausärztlichen Versorgung liegen sie im Schnitt bei gut 180 000 Euro pro Inhaberin oder Inhaber, im Facharzt-Bereich wie etwa der Radiologie bei 378 000 Euro.

Jens Wagenknecht, Hausarzt, Varel: „Montags brennt bei uns die Luft. Da kommen Patienten, die sich mit Infekten übers Wochenende geschleppt haben, die eine Krankschreibung brauchen, die akute Probleme haben. So auch heute. Wir haben in dieser Zeit ja auch geplante Routine-Ter­mine wie Tumornachuntersuchungen oder Impfungen. Dazwischen rufen Pflegeheime an, weil ein Mann seit Tagen keinen Stuhlgang hatte oder eine Patientin gestürzt ist. Heute fiel auch noch eine Helferin aus. Die Patienten haben sich erst mal gewundert, als ich am Tresen stand.

Jens Wagenknecht, Hausarzt.

Jens Wagenknecht, Hausarzt.

400 unserer Patienten sind in Chronikerprogrammen eingeschrieben, sogenannten DMPs, etwa weil sie Diabetes oder Herzprobleme haben. Die muss ich einmal pro Quartal sehen. Das ist aus medizinischer Sicht oft überflüssig. Mit einem gut eingestellten Diabetes reicht es, wenn man halbjährlich zur Kontrolle kommt. Auch viele Vorsorgeuntersuchungen ergeben in meinen Augen nur wenig Sinn – etwa die allgemeine Vorsorge ab 35 Jahren. Da kommen gesunde Menschen, die gesund essen, nicht rauchen und Sport treiben. Ich untersuche auf Anzeichen von Diabetes, Herz- Kreislauf- und Nierenerkrankungen. Das sind keine Probleme, die diese Menschen haben. Die, die viel trinken und ungesund leben, gehen meist nicht zur Vorsorge. Das ist ein Beispiel, wie wir die sehr begrenzten Ressourcen in unserem Gesundheitswesen nicht zielgenau einsetzen.“

Die Zahlen sind seit Langem bekannt. 2035 werden in Deutschland 11 000 Hausärztinnen und -ärzte weniger praktizieren als heute. Etwa 30 000 gehen in Rente, gleichzeitig kommt weniger Nachwuchs nach. Weniger Ärztinnen und Ärzte werden mehr Menschen versorgen müssen. Und die werden älter, haben häufiger chronische Krankheiten und brauchen vielfältige Unter­stützung. Auf diese Herausforderungen ist Deutschland bisher nicht gut vorbereitet – und das, obwohl kein anderes Land in Europa so viel Geld für das Gesundheitssystem ausgibt wie wir.

Yasemin Zeybek, medizinische Fachangestellte, Glückstadt: „Vor ein paar Tagen war eine Patientin in der Praxis wirklich aufgebracht. Aufgrund von Internetproblemen hatte es länger gedauert, bis wir ein Rezept ausstellen konnten, was mir auch leidtat. Unfähig seien wir, chaotisch – das Ganze dann mit viel Augenrollen. Heute kam sie vorbei und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Das hat mir richtig gutgetan – und kommt leider viel zu selten vor. Seit Corona nimmt bei den Menschen die Gereiztheit zu, das merken wir in der Praxis sehr deutlich. Ich kann das in Teilen sogar nachvollziehen und wünschte mir, dass die Patientinnen und Patienten genauso Verständnis für unsere Situation hätten.

Yasemin Zeybek, medizinische Fachangestellte.

Yasemin Zeybek, medizinische Fachangestellte.

Die Corona-Zeit war auch für uns heftig – allein das Chaos bei den Impfungen! Mir und meinen Kolleginnen steckt das noch richtig in den Knochen und es fällt zunehmend schwer, freundlich zu bleiben. Wenn unser Telefonanbieter Probleme hat, können wir dafür genauso wenig wie für die Tatsache, dass wir zu wenige Mit­arbeitende haben und es schwer ist, welche zu finden.

Uns trifft auch die Überlastung der Kliniken, die immer häufiger Patientinnen und Patienten viel zu früh entlassen – in der Hoffnung, dass wir uns kümmern. Gestern erst stand wieder ein Patient an der Anmeldung und sagte, er brauche einen Verbandswechsel. Er kam ohne Termin und mit frischer Operationswunde. Einen Tag zuvor war er entlassen worden – ‚blutige Entlassung‘, wie wir das nennen.

Ich liebe meinen Beruf, seine Vielseitigkeit, aber der Stresslevel ist zurzeit einfach zu hoch. Wenn ich donnerstags Hausbesuche mache, ist das fast schon Erholung. Ich habe mich zur Versorgungsassistentin und nichtärzt­lichen Praxisassistentin weitergebildet und kann so unsere Ärztinnen und Ärzte entlasten, indem ich kranke, meist ältere Menschen zu Hause versorge. Ich messe Werte, nehme Blut ab, impfe. Bei vielen Menschen erlebe ich eine große Dankbarkeit dafür, dass ich zu ihnen komme und mich auch mal ein wenig mit ihnen unterhalte. Es wäre schön, auch in der Praxis wieder mehr Wertschätzung zu erfahren.“

Zu wenig Personal – dieses Problem plagt alle Praxen, die wir für diese Recherche befragt haben. Vor allem MFA, medizinische Fachangestellte, gibt es viel zu wenige. In Bremen etwa suchten acht von zehn Praxen im vergangenen Jahr erfolglos MFA; jede dritte Praxis schränkt deshalb ihren Betrieb ein. In Bayern kamen im vergangenen Jahr laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit nur 69 arbeitslos gemeldete MFA auf 100 offene Stellen.

Selbstständig, nein danke! Junge Ärztinnen und Ärzte wollen oft nicht mehr selbstständig arbeiten. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung neigen 70 Prozent der Studierenden dazu, sich anstellen zu lassen – auch weil Job und Familie leichter zu vereinbaren sind.

Christian Herrmann, leitender Arzt, MVZ, Baruth/Mark: „Ich habe lange als Assistenzarzt in der Klinik gearbeitet. Als ich Vater wurde, wollte ich nicht mehr 60 bis 80 Stunden die Woche arbeiten. Heute arbeite ich angestellt im ersten kommunal getragenen Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Ostdeutschlands – 20 Stunden die Woche.

Christian Herrmann, leitender Arzt, MVZ

Christian Herrmann, leitender Arzt, MVZ

Ich hatte schon vorher das Angebot, in ein neues MVZ eines industriellen Anbieters einzusteigen. Meine Motivation liegt jedoch nicht darin, wirtschaftliche Interessen ­eines Investors zu erfüllen und dafür überflüssige Dienstleistungen oder Medika­mente anzubieten. Unser MVZ ist gemeinnützig. Die Kommune trägt uns – und damit auch die Verluste, die wir momentan noch schreiben. Dieser Weg ist alternativlos: Wären wir nicht da, gäbe es hier im Kreis bald keine Ärzte mehr.

Gerade war wieder ein neuer Patient mit einem ganzen Aktenordner voller Unter­lagen da. Das erleben wir oft: Hier schließen momentan reihenweise Hausarzt­praxen und die Menschen kommen dann zu uns. Kürzlich haben wir beschlossen, bei 100 Neuaufnahmen pro Quartal eine Grenze zu ziehen. Mehr schaffen wir nicht, denn wir nehmen uns für alle Patienten umfangreich persönlich Zeit, um alles Wichtige zu besprechen. Dieses Engagement wird leider nicht ansatzweise durch die gesetzlichen Krankenkassen vergütet.“

Wie wird das Gesundheits­system fit für die Zukunft? Zahlreiche Expertinnen und Experten, zum Beispiel die Gesundheitswissenschaftlerin Professorin Doris Schaeffer aus Bielefeld, fordern einen raschen Ausbau der MVZ – nicht nur, um Kranke besser zu unterstützen, sondern auch, um Kosten zu sparen. 2020 gab es deutschlandweit rund 3850 MVZ. Manche sind in kommunaler Hand, eine wachsende Zahl wird von Investoren betrieben. Laut Fachautor Rainer Bobsin, der seit Jahren im Gesundheitsmarkt recherchiert, waren 2020 750 Standorte in Private-Equity-Besitz. In einigen kommerziellen MVZ erhält das Personal Vorgaben, wie viel Umsatz es machen muss.