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Das Wichtigste zuerst: Nick geht es wieder gut, er hat sich von dem schweren Atemwegsinfekt erholt. Anfang des Jahres sah es noch anders aus: Wegen seiner Lunge musste Nick in die Klinik – nicht zum ersten Mal. Schon im Winter 2021 brachte ihn eine Infektion mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) wegen schwerer Atemnot ins Krankenhaus. Anders als damals gab es diesen Februar allerdings an keiner der drei Kinderkliniken in Münster ein freies Bett. Nick musste hinausgefahren werden, ins rund 50 Kilometer entfernte Rheine. „Es war schlimm“, erinnert sich Mutter Sandra Kruse. „Ich dachte, er stirbt.“

Leben mit RSV

Aber zurück zum Anfang: Nick, der heute dreieinhalbjährige Blondschopf, lebt mit seinen Eltern und seinem zwölfjährigen Bruder in Münster. Mutter Sandra arbeitet seit 16 Jahren als medizinische Fachangestellte, die meiste Zeit davon in einer Kinderarztpraxis. Das ist von Vorteil, weil ihr zum Beispiel niemand erklären muss, wie sie mit Nick richtig inhaliert.

Nick Kruse (3) lebt mit seinen Eltern und seinem Bruder in Münster. Immer wieder hat er mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. Die sind eigentlich meist gut zu behandeln. Eigentlich.

Nick Kruse (3) lebt mit seinen Eltern und seinem Bruder in Münster. Immer wieder hat er mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. Die sind eigentlich meist gut zu behandeln. Eigentlich.

Nick neigt schon immer zu Atemwegsinfekten. Seit der RSV-Infektion vor zwei Jahren scheint seine Lunge besonders anfällig zu sein, immer wieder hat er mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. So auch im Februar: Die Eltern ­inhalieren sechsmal täglich mit ihm, träufeln neben Kochsalz auch Medikamente in das Gerät, die Entzündungen hemmen und die Bronchien erweitern. Abends baden sie ihn mit einem ­speziellen Zusatz als Vorbereitung auf die Nacht, in der der Husten besonders schlimm ist. Nick verbringt sie meist Brust auf Brust bei seiner Mama. Das ist die Position, in der er am besten atmen kann.

Am 7. Februar messen die Eltern bei Nick schließlich hohes Fieber. Mutter Sandra Kruse fährt mit ihm zu seinem Kinderarzt Pedro ­Andreo Garcia, der auch ihr Chef und Kollege ist. Dass es ab jetzt dramatisch werden sollte, das ahnt die Familie zu diesem Zeitpunkt nicht. Und an dieser Situation war weniger die Krankheit schuld als ein Versagen des Systems.

Das Knisterrasseln

Als Sandra Kruse am 7. Februar 2023 mit Nick zu Kinderarzt Pedro Andreo Garcia fährt, hat der Kleine seit mindestens eineinhalb Wochen Dauerhusten. Der Kinderarzt hört ihn ab: „Knisterrasseln“ – ein Zeichen, dass die Entzündung in die unteren Atemwege gewandert ist. Sauerstoff gelangt nicht mehr ungehindert in Nicks Körper hinein, Kohlendioxid nicht problemlos heraus – das wird schnell lebensgefährlich.

Pedro Andreo Garcia ist niedergelassener Kinderarzt mit eigener Praxis in Münster.

Pedro Andreo Garcia ist niedergelassener Kinderarzt mit eigener Praxis in Münster.

Ging der Kinderarzt bisher von einem viralen Infekt aus, kann er nun eine bakterielle Entzündung nicht mehr ausschließen. Er verschreibt ein Antibiotikum und muss erst einmal schauen, ob das Mittel der Wahl überhaupt verfügbar ist. Der Mangel an Arzneimitteln, vor allem an geeigneten Antibiotika, prägt seine Arbeit bis heute: „Weil alles immer möglichst billig sein muss, betreiben wir heute eine Katastrophenmedizin, die mit leitliniengerechter Behandlung oft nichts mehr zu tun hat“, sagt er.

Dramatische Versorgungsengpässe

Zu dieser Zeit behandelt Andreo Garcia bis zu 80 Kinder am Tag – darunter einige, die eher in die Klinik gehören. Die RSV-Welle, die vor allem bei Kleinkindern zu schweren Infektionen führt, kam früh. Dazu Corona, Influenza und Streptokokken. Schon ab September wurde es eng in den Kliniken der Stadt. „Wir haben versucht, Kinder so lange wie möglich bei uns zu behalten und bestellten sie oft täglich ein“, sagt der Kinderarzt. „Gleichzeitig hatten wir Kinder zu versorgen, die viel früher als sonst aus der Klinik entlassen wurden.“

Pedro Andreo Garcia spricht ruhig über diese anstrengende Zeit. Die Wut, die er verspürt, dringt kaum durch. „Die teilweise katastrophalen Zustände im vergangenen Winter kamen mit Ansage“, sagt er. Seit 2020 habe sich die Situation verschlechtert. Nicht nur die Spitzen könnten kaum mehr abgefangen werden, auch die Grundversorgung bereite Probleme – selbst in Münster, das offiziell als kinderärztlich überversorgt gilt.

Die Lage in Münster

141,9 Prozent. So wird der Versorgungsgrad in Münster angegeben. Nur: „Die Grundannahmen sind Jahrzehnte alt“, sagt Andreo Garcia. „Wir haben heute mehr Impfungen, Vorsorgen, Kinder mit chronischen und psychischen Erkrankungen, mehr Dokumentationsaufwand und höhere Ansprüche der Eltern an Ärzte und Gesundheitswesen.“ Und mehr junge Ärzte, die unter zeitgemäßen Bedingungen arbeiten wollen: eher angestellt und familiengerecht, keine 60 Stunden in der Woche. Hier müssen Lösungen her. Das koste Geld, das man nicht auszugeben bereit sei, sagt der Kinderarzt: „Stattdessen feiert sich die Politik für unsere Entbudgetierung.“ Seit April bekommen Kinderärzte ihre Leistungen zumindest nahezu voll vergütet. Das heißt: rund 34 Euro pro Quartal und Kind – egal, wie oft es in dem Zeitraum behandelt wird. Gut zwei Prozent gab es zuletzt mehr.

Die Suche nach einem Klinikbett

Bis Freitag, den 10. Februar 2023, hofft Sandra Kruse auf die Wirkung des Antibiotikums. Doch abends geht es Nick immer schlechter. Er ist blass, regt sich kaum noch. „Darth Vader“, erinnert sich die Mutter, „so hörte sich seine Atmung an.“ Es ist nach 22 Uhr, als sie die Notfallambulanz am St. Franziskus-Hospital erreichen. Das betreibt eine von drei Kinderkliniken in Münster. „Nachdem der Sauerstoffgehalt gemessen war, brach kurz Hektik aus“, erzählt Sandra Kruse. 89 Prozent, viel zu niedrig. Nick bekommt jetzt Sauerstoff.

Dr. Michael Böswald ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am St. Franziskus- Hospital in Münster.

Dr. Michael Böswald ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am St. Franziskus- Hospital in Münster.

Es ist klar: Der Junge muss bleiben. Nur ein Bett für ihn, das gibt es nicht. Auch nicht in den anderen beiden Kinderkliniken. Erst im Mathias-Spital in Rheine, rund 50 Kilometer entfernt, wird man fündig. Mit dem Rettungswagen geht es dort hin. Sandra Kruse zeigt ein Bild von Nick auf der Fahrt: ein Kind mit glühend-roten Backen, das gleichzeitig blass und schlaff wirkt.

Mangelnde Ausstattung der Kliniken

Nicks Fall verlangt keine Hochleistungsmedizin, sondern eine solide Notfallversorgung: ein Bett, medizinische Geräte, Fachkräfte. Daran fehlt es, in Münster wie an anderen Orten. Spätestens, seit Kliniken für Patienten feste Beträge erhalten, die von der Erkrankung abhängen, wurde die Kindermedizin unwirtschaftlich, Tausende Betten verschwanden. Letzten Winter musste jede zweite Klinik kritisch kranke Kinder abweisen. „In der stationären Kinder- und Jugendmedizin ist vor allem in den Herbst- und Wintermonaten jedes Bett belegt“, sagt Dr. Michael Böswald vom St. Franziskus-Hospital in Münster, das keinen Platz für Nick hatte. „Durch Bettensperrungen aufgrund von Pflegemangel und eines Gesetzes, das seit 2021 die Personalunter- grenzen in der Pädiatrie regelt, sind Abweisungen von Patienten auch diesen Herbst und Winter zu erwarten.“

„Planbare Eingriffe wie in der Erwachsenenmedizin sind in der Kinder- und Jugendmedizin eher die Ausnahme“, sagt Böswald. Deswegen sei der von der Politik begonnene Weg der Vorhaltefinanzierung, also dass Kliniken auch Geld dafür bekommen, Personal und Gerät vorzuhalten, in der Kindermedizin ein erster Schritt. Böswald denkt nicht nur an die Spitzen in der Erkältungszeit: „Wir haben auch immer mehr Kinder und Jugendliche in psychischen Belastungssituationen. Die brauchen viel Zeit, Platz und kompetentes Personal.“

Die Suche nach der Ursache

Weil nicht klar ist, an welchem Keim Nick leidet, werden Tests und Abstriche gemacht, er kommt auf ein Isolationszimmer. Der Kleine erhält Sauerstoff und inhaliert, aber anstatt sich zu erholen, geht es ihm von Tag zu Tag schlechter. „Für meinen Mann, der meist in Münster war, weil er arbeiten und sich um unseren Älteren kümmern musste, war das schlimm“, erinnert sich Sandra Kruse. Sie zeigt ein weiteres Bild, auf dem Nick, eigentlich ein fröhliches, aufgewecktes Kind, wie ein Häufchen Elend wirkt. „Manchmal habe ich wirklich gedacht: Wenn der jetzt einschläft, wacht er nicht mehr auf“, sagt seine Mutter heute. Fast fünf lange Tage dauert es, bis sich Nick, dem wohl Adenoviren zum Verhängnis wurden, wieder berappelt. Am siebten Tag verlässt er die Klinik, um noch zwei Wochen zu Hause wieder zu Kräften zu kommen.

Mangel in der Kinderkrankenpflege

Dass Kinder aus Münster nach Rheine verlegt wurden, kam auch früher hin und wieder vor. „Der vergangene Winter war der erste, in dem Münster in größerer Zahl Kinder im Umland verteilen musste“, sagt Dr. Hans-Georg Hoffmann vom Mathias-Spital in Rheine, das Nick schließlich aufnahm. Auch jetzt im August, als wir mit Hoffmann sprechen, musste er schon Kinder aus Münster aufnehmen. Ihm bereitet das Sorgen, schließlich ist sein Haus eigentlich nicht für die Stadt, sondern für das Umland zuständig. „Damit sind wir auch schon gut ausgelastet“, sagt Hoffmann. „Geschafft haben wir das nur, weil wir Kinder im Zweifel mal im Spiel- oder Untersuchungszimmer untergebracht und Personal haben, das bereit war, übers Limit zu gehen. Das hat aber auch Grenzen.“

Dr. Hans-Georg Hoffmann ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Mathias-Spital in Rheine.

Dr. Hans-Georg Hoffmann ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Mathias-Spital in Rheine.

Hoffmann betont eine Stärkung der Pflege. Dass die Politik letzten Winter dazu aufrief, Kräfte aus dem Erwachsenen- im Kinderbereich einzusetzen, davon hielt er nichts. Zu speziell ist die Kinderkrankenpflege. Das ist auch ein Grund, weshalb er die generalistische Pflegeausbildung, die es seit 2020 gibt, ablehnt. „Wir haben gekämpft wie die Löwen, um die Kinderkrankenpflege zu erhalten“, sagt Hoffmann. „Wer mit Kindern arbeiten möchte, geht lieber in die Kita, als sich erstmal vor allem um Erwachsene und Alte zu kümmern.“ Heute, da der erste generalistische Jahrgang fertig ist, sieht er, wie wenige in die Kindermedizin gehen. Und die, die kommen, müssen oft nachqualifiziert werden.

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RSV: „Atembeschwerden sind ein Warnsignal“

Bis zum dritten Lebensjahr infizieren sich fast alle Kinder mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). Kinderärztin Dr. Henriette Rudolph erklärt, warum das Virus bedrohlich sein kann. zum Artikel


Quellen:

  • Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung : Erste Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Empfehlungen der AG Pädiatrie und Geburtshilfe für eine kurzfristige Reform der stationären Vergütung für Pädiatrie, Kinderchirurgie und Geburtshilfe. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin DGKJ e.V. : Kinderkliniken vernünftig finanzieren, Die DGKJ zur Lage der stationären Kinder- und Jugendmedizin. Online: https://www.dgkj.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Bundesgesundheitsministerium: Eckpunktepapier Krankenhausreform. Online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): Trend bleibt: Mehr Teilzeit und Anstellung / Neu: Erstmalig mehr Frauen in ambulanter Versorgung. Online: https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): Arztzeit-Mangel, Warum immer weniger Zeit für die Patientenversorgung da ist. Online: https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Kassenärztliche Bundesvereinigung (KVB): Facharztniederlassung beim Nachwuchs hoch im Kurs. Online: https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. ( DGKJ): Ergänzung der Leistungsgruppen für Kinder- und Jugendmedizin notwendig!, Position der DGKJ zum Eckpunktepapier Krankenhausreform. Online: https://www.dgkj.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ): Offener Brief: Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet. Online: https://www.bvkj.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI) : Aktuelle Klinik-Umfrage belegt: Durchschnittlich kein freies Intensivbett für kritisch kranke Kinder – Notfallmediziner fordern neue Strukturen . Online: https://www.divi.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)
  • Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI) : Aus aktuellem Anlass: Viele Kinderkliniken wegen Atemwegsinfektionen am Limit . Online: https://www.divi.de/... (Abgerufen am 31.08.2023)