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Klima, Krieg und Pandemie: Nahezu pausenlos wird man in den sozialen Medien und Nachrichten-Apps mit Hiobsbotschaften und den Meinungen anderer Leute dazu konfrontiert. Die Auswirkungen dessen haben die Medienwissenschaftler Dr. Stephan Weichert und Dr. Leif Kramp in ihrer Studie zur „Digitalen Resilienz in der Mediennutzung“ – in Kooperation mit dem Wort & Bild Verlag – untersucht. Ein zentrales Ergebnis: Der Konsum digitaler Medien verursache bei vielen Menschen teils „alarmierende Symptome eines psychischen Unwohlseins“. Wie sich Nutzende vor einer digitalen Überlastung schützen und eine dahingehende Robustheit bewahren, erklären die Autoren im Interview.

Herr Dr. Weichert, Herr Dr. Kramp, gerade in Krisenzeiten wollen viele Menschen gut informiert sein. Andererseits scheint die Flut an negativen Nachrichten zu belasten, zeigen die Ergebnisse Ihrer Studie. Ein gefährliches Dilemma?

Stephan Weichert: Ja. Und zwar sowohl für die Nutzenden als auch für die Medien. Das Dilemma auf Nutzerseite besteht darin, dass man einerseits digitale Auszeiten dringend braucht, gleichzeitig aber informiert sein will: Wie läuft es denn jetzt weiter – mit der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine? Medien wiederum haben die Pflicht, die Menschen über die Nachrichtenlage zu informieren. Aber natürlich wollen sie ihr Publikum nicht überlasten.

Leif Kramp: Unsere Studie ergab: Vom Nachrichtengeschehen erschlagen und erschöpft fühlen sich vor allem diejenigen, die sich fast ausschließlich digital informieren und die auch digitale Medien zur Kommunikation und Unterhaltung nutzen. Das heißt, insbesondere jüngere Menschen zwischen 14 und 29 Jahren, aber auch etwas ältere bis 49 Jahre. Menschen höheren Alters greifen oft auch auf andere Medien und ein nicht digitales Freizeit- und Unterhaltungsprogramm zurück. Sie gehen zum Beispiel öfter in den Garten, sind in der Natur. Das ist bei Menschen jüngeren und mittleren Alters nicht in dem Maße ausgeprägt.

Dr. Leif Kramp forscht am fachübergreifenden Zentrum für Medien, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen.

Dr. Leif Kramp forscht am fachübergreifenden Zentrum für Medien, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen.

Eigentlich etwas überraschend: Ausgerechnet den Jüngeren wird das alles zu viel – die mit den digitalen Medien doch aufgewachsen und vertraut sind – Stichwort Digital Natives?

Kramp: Digital Native zu sein, bedeutet nicht unbedingt, mit digitalen Medien gut umgehen zu können. Digital Natives sind lediglich dahingehend sozialisiert worden, einen Großteil ihres Lebens online zu organisieren. Das sieht man auch an der Geräteausstattung: Unter-29-Jährige nutzen oft Smartphone, Laptop oder Tablet im Wechsel, hinzu kommen bei einer wachsenden Zahl auch Sprachassistenten, wie sie zum Beispiel in smarten Lautsprechern zum Einsatz kommen.

Unsere Befragungsergebnisse zeigen, dass gerade diese Gruppe zwar durchaus auch angenehme Empfindungen gegenüber digitalen Angeboten hat. Doch führt die intensive Nutzung letztlich bei einem erstaunlich hohen Teil der jungen Befragten zu psychischem Unwohlsein. Das Internet reguliert sich schließlich nicht von selbst: Es gibt keine Warnhinweise, wann es ungesund wird, online zu sein. Wer also viel digital unterwegs ist, der ist auch eher schädlichen Effekten ausgesetzt und muss lernen, damit zurechtzukommen.

Dr. Stephan Weichert ist Autor, Hochschullehrer, Medienwissenschaftler sowie Mitgründer des VOCER Instituts für Digitale Resilienz.

Dr. Stephan Weichert ist Autor, Hochschullehrer, Medienwissenschaftler sowie Mitgründer des VOCER Instituts für Digitale Resilienz.

Erreichen uns Nachrichten über digitale Kanäle – zum Beispiel über das Smartphone, das die meisten Menschen nutzen – anders als über traditionelle Medien wie etwa das Fernsehen?

Weichert: Wir beschäftigen uns mit Krisenkommunikation seit der 9/11-Berichterstattung, also seit über 20 Jahren. Damals waren die entscheidenden Massenmedien das Fernsehen und das Radio. Die konnte man eher mal abschalten. Mit dem Smartphone interagieren wir ständig: lesen Nachrichten, kommunizieren privat und beruflich, scrollen durch die sozialen Medien. Das triggert verschiedenste Emotionen: Freude, Ärger, Verbundenheit, Angst. Man könnte zugespitzt sagen, dass das Smartphone schon Bestandteil unseres Bewusstseins ist. Denn die Informationen, die uns darüber erreichen, gehen uns viel näher – kognitiv und psychisch – als das vorher bei Fernsehen und Radio der Fall war.

Das schlägt laut Ihrer Studie vielen Menschen auf die Psyche. Wie macht sich das bemerkbar?

Kramp: Weit verbreitet sind vor allem Schlaflosigkeit, generelles Unwohlsein und Nervosität. Diese kann sich recht unterschiedlich äußern: Bei dem einen geht der Blutdruck hoch, ein anderer fängt an zu zittern und wird fahrig – wieder andere werden aggressiv.

Weichert: Manche berichten auch von depressiven Verstimmungen, nachdem sie ausgiebig in den sozialen Netzwerken unterwegs waren. Hier besteht natürlich eine nicht zu unterschätzende Suchtgefahr, die durch verschiedene Funktionalitäten und Algorithmen innerhalb der sozialen Plattformen noch verstärkt wird. Da wollen wir uns auch mit dieser Studie klar positionieren: Diese suchtfördernden Features, die immer wieder neu entwickelt werden, müssen gesellschaftlich stärker diskutiert werden. Es ist vielfach nachgewiesen, dass die überbordende Nutzung dieser Netzwerke auch zu Depressionen führen kann. Wir halten einen Branchen-übergreifenden Blick für wichtig. Suchtverhalten, Depressionen oder Burnout werden leider häufig nur aus der Perspektive einer Disziplin beleuchtet. Dabei wäre es wichtig, gemeinsam therapeutische Ansätze, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, um Rat zu geben.

In dem Zusammenhang sprechen Sie von einer „Digitalen Resilienz“, also einer inneren Widerstandskraft, die es zu stärken gilt. Können Sie das Konzept dahinter erklären?

Weichert: Das Institut für Digitale Resilienz versteht den Begriff ganzheitlich und wendet das Konzept aus der Therapie im Einklang mit Methoden aus Organisationsentwicklung, Beratung und Coaching an: Die Digitalisierung bringt verschiedene Herausforderungen mit sich, die Lösungen erfordern. In den sozialen Medien etwa existiert vieles parallel: private Nachrichten und gezielte Desinformation (Fake News) neben echten Nachrichten. Die Verwechslungsgefahr ist groß. Nach unserer Erfahrung aus der Studie können die Nutzenden das kaum unterscheiden – weil alles auf derselben Infrastruktur stattfindet. Es braucht daher eine Medien- und Nachrichtenkompetenz: Wie kann man Fake News erkennen und was dagegen tun? Wie unterscheidet man persönliche Meinungen von objektiven Nachrichten?

Zum anderen geht es darum, unsere psychische Gesundheit, unsere kognitive Aufnahmefähigkeit und die Fähigkeit zur Verarbeitung und Bewältigung von Krisen, Informationen und Nachrichten zu bewahren. Hier wollen wir an die Selbstwirksamkeit der Nutzenden appellieren, sich von digitalem Ballast wie etwa überflüssigen Apps zu lösen. Wir erarbeiten gerade eine Art Marie-Kondo-Prinzip für digitale Medien, also entrümpeln, aufräumen, sich klar werden: Von was profitiere ich wovon nicht?

Stichwort Digital Detox?

Kramp: Nicht ganz. Es ist wohl niemandem langfristig damit geholfen, digitale Medien zu vermeiden oder abzuschalten. Denn es wird in Zukunft kaum mehr möglich sein, sich vom Internet und von digitaler Medientechnologie insgesamt zu distanzieren. Wir sind auf dem Weg in die digitale Gesellschaft. Entscheidend ist daher, für sich persönlich einen resilienten und souveränen Umgang mit digitalen Medien zu üben.

Wie kann dieser aussehen?

Weichert: Ein von mir befragter Student hat mir erzählt, dass er ganz bewusst die mobilen Daten abstellt, wenn er unterwegs ist – und nur zu Hause ins WLAN geht. Andere haben sich wieder ein altes Handy zugelegt. Ein anderer meinte, nachts nicht von den Streamingdiensten loszukommen. Der hat sich dann vorgenommen, Serien und Filme nur noch gemeinsam mit anderen – also als soziales Event – zu schauen. Das klingt banal. Aber es sind kleine Selbstdisziplinierungsmaßnahmen, die uns helfen, eine Struktur zu finden.

Kramp: Nervosität betrifft übrigens auch sehr stark die zwischenmenschliche Kommunikation über Messenger-Dienste wie WhatsApp. Viele Menschen sagen, die hohe Frequenz eingehender Nachrichten, aber auch der Austausch in bestimmten Gruppen machten sie krank oder unruhig.

Manche Belastungen können die Nutzenden jedoch nicht selbst beeinflussen. Sie erwähnten schon das Thema Fake News. Wie wirkt sich Hassrede (Hate Speech) aus?

Weichert: Herr Kramp und ich haben dazu jahrelang geforscht und wissen: Die Verwahrlosung der Debattenkultur im Netz führt bei vielen Menschen dazu, sich daran nicht mehr beteiligen zu wollen. Nicht, weil sie nicht gern diskutieren würden, sondern weil sie erkennen, dass die dortige Gesprächskultur eine gesamtgesellschaftliche Spaltung vorantreibt.

Kramp: Was uns in der Deutlichkeit überrascht hat, sind die drei größten Wünsche der deutschen Internetnutzenden: Sie wollen, dass stringenter und vehementer gegen Desinformationen im Netz vorgegangen wird, dass in den sozialen Medien höflicher und sachlicher diskutiert wird – und dass konstruktiver und lösungsorientierter über Missstände und Probleme berichtet wird. Gerade letzteres betrifft vor allem die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten.

Nicht nur die Nutzenden selbst, auch die Medien können und sollten also etwas gegen digitale Erschöpfung tun?

Kramp: Genau. Die Medien müssen selbstverständlich aufklären. Sie können sich ihre Themen nur bedingt aussuchen. Sie berichten, was ist. Aber es gibt ganz unterschiedliche Strategien, wie über die Weltengeschicke angesichts von Konflikten, Krisen und den großen Herausforderungen unserer Zeit berichtet werden kann. Da gibt es vielversprechende Ansätze, wie Redaktionen sich krisenresilienter aufstellen können.

Weichert: Das betrachte ich seit der Gründung des Instituts für Digitale Resilienz als eine unserer Kernaufgaben – die Widerstandsfähigkeit solcher stark belasteten Berufsgruppen und deren Organisationen genauer in den Blick zu nehmen und für sie gerade in krisenschweren Zeiten praxisnahe Lösungen zu entwickeln. Da die Belastung inzwischen sehr viele Branchen betrifft, arbeiten wir nicht mehr nur mit Medienschaffenden zusammen, sondern bieten seit kurzem auch Weiterbildungen für Verwaltungen, Unternehmen und Verbände an. Unser Ansatz ist dabei immer ähnlich: Wir halten es für unglaublich wichtig, dass im Digitalen wieder ein konstruktiver und wertschätzender Austausch stattfindet. Das ist nicht nur produktiver, sondern erhöht auch unsere psychische Verarbeitungskapazität. Es ermöglicht mehr individuelle Selbstwirksamkeit und somit auch gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten – gerade in Zeiten von Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe.

Drei Tipps zur Stärkung der digitalen Resilienz:

Die Digitalexperten Stephan Weichert und Leif Kramp haben Empfehlungen für eine resilientere Mediennutzung erarbeitet. Ihr Ratgeber-Sachbuch zu "Digitaler Resilienz" erscheint im Frühjahr 2023. Hier geben sie drei exklusive Tipps zur Stressreduktion in der Nutzung von Smartphone, Social Media & Internet:

Bildschirm-Kontrolle:

Überdenken Sie regelmäßig Ihre digitale Bildschirmzeit: In den Einstellungen vieler Smartphones können Sie leicht nachsehen, wie viel Zeit Sie mit welchen Anwendungen in Anspruch nehmen und wie sich Ihre Nutzungszeiten über längere Zeiträume entwickelt haben. Überlegen Sie einmal, ob Sie beim Klicken und Scrollen durch Videofeeds und Chats vielleicht die Zeit aus den Augen verloren haben und stellen Sie dies den Tätigkeiten gegenüber, für die Sie beruflich oder privat gerne mehr ihrer wertvollen Zeit aufbringen würden.

Benachrichtigungs-Optimierung:

Stellen Sie Ihr Smartphone konsequent auf lautlos und unterbinden Sie sämtliche Geräusche ihrer digitalen Wegbegleiter, zum Beispiel Ping-Töne nach dem Erhalt von Nachrichten via E-Mail, Messenger oder Social Media. Verbieten Sie Ihrem Smartphone zusätzlich die Möglichkeit von Push-Benachrichtigungen und antworten Sie nicht immer sofort, wenn Sie eine Kurznachricht oder E-Mail erhalten.

News-Diät:

Befreien Sie sich vom suchtartigen Checken, Scrollen und Aktualisieren von Neuigkeiten in Nachrichten- und Social-Media-Apps. Seien Sie mutig und machen Sie eine mehrwöchige Nachrichten-Kur, bei der Sie sich darauf konzentrieren, nur ein bis wenige Male am Tag (digitale) Medien zu nutzen, um auf den neuesten Stand zu kommen. Überlegen Sie im Anschluss, was Ihnen in dieser Zeit gefehlt hat oder was Ihnen entgangen ist – und wie viel Fast News Ihnen wirklich wichtig ist und gut tut.

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