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Mussten Sie schon gähnen? Gut möglich, dass bereits die ersten Zeilen dieses Textes das Verlangen schüren, den Mund weit aufzureißen und tief ein- und wieder auszuatmen. Gähnen ist nämlich so ansteckend, dass es nicht nur durch seine Beobachtung oder das Geräusch ausgelöst werden kann, sondern sogar durch das Lesen des Wortes oder den bloßen Gedanken daran.

Ansteckungsgefahr durch emotionale Nähe

Noch besser lässt sich das Phänomen aber in Gruppen beobachten: "Fängt einer an zu gähnen, folgt bald ein Großteil der Anwesenden", sagt Jürgen Zulley, Professor für Biologische Psychologie an der Universität Regensburg und ehemaliger Leiter des schlafmedizinischen Zentrums am dortigen Universitäts- und Bezirksklinikum.

Vermutlich hat die ansteckende Wirkung des Gähnens etwas mit dem Einfühlungsvermögen zu tun. Forschungsergebnisse zeigen, dass sehr mitfühlende Menschen schneller mitgähnen als solche, die sich nur schlecht in andere hineinversetzen können.

Gähnen überträgt sich auch von Menschen auf Tiere

In einer Studie der Universität Pisa wurde außerdem nachgewiesen, dass die emotionale Nähe zum Gähnenden eine entscheidende Rolle für die ansteckende Wirkung spielt. Von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten lässt man sich demnach viel leichter anstecken als von Fremden.

Übrigens: Der Gähn-Drang überträgt sich sogar von Menschen auf Tiere. "Studien zeigen, dass Hunde in der Umgebung von gähnenden Menschen ebenfalls damit anfangen", sagt Zulley. Folgeuntersuchungen belegen, dass dieser Effekt umso ausgeprägter ist, wenn die Tiere die Menschen kennen. Forscher werten dies als Beleg dafür, dass auch Hunde über Einfühlungsvermögen verfügen.

Auch Stress, Langeweile oder Hunger können Auslöser sein

Wenn jemand gähnt, gähnen andere gerne mit, daran besteht kein Zweifel. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt unsere Alltagserfahrung dieses Phänomen. Die Frage nach dem Warum hingegen ist schwieriger zu beantworten: Möglicherweise dient das Gähnen der Stimmungsübertragung und der Synchronisation von Gruppen.

Nach dem Motto: Wenn alle mehr oder weniger gleichzeitig müde oder wach sind, dient das dem sozialen Zusammenhalt. Diese Erklärung aus der Ethnologie lässt allerdings außer Acht, dass wir nicht nur gähnen, wenn wir müde sind. "Auch Stress, Langeweile oder Hunger sind bekannte Auslöser", sagt Zulley. So seien Fälle von Fallschirmspringern bekannt, die vor dem Sprung gähnen müssen. Auch vor wichtigen Prüfungen reißen manche Menschen den Mund auf – mit Müdigkeit lässt sich beides kaum erklären.

Viele Erklärungsversuche, keine Antworten

Seit Jahrzehnten spüren Wissenschaftler den Gründen für das Gähnen nach. Das hat zu einer Reihe von Erklärungsansätzen geführt, eine abschließende Antwort gibt es aber noch nicht. Lange Zeit war zum Beispiel die Sauerstoff-Hypothese populär, die noch heute gerne als Erklärung für das Gähnen herangezogen wird. Dabei ist sie längst widerlegt: Schon 1987 wies der US-Psychologe Robert Provine in einem Experiment nach, dass die Sauerstoffversorgung keinerlei Einfluss auf die Häufigkeit des Gähnens hat.

Ähnlich hartnäckig hält sich der Glaube, dass Gähnen wach macht. Eine Studie aus der Schweiz belegt jedoch, dass die Hirnaktivität vor und nach dem Gähnen keinen Unterschied aufweist. Viele Forscher gehen trotzdem davon aus, dass Gähnen dazu dient, sich wach zu halten oder die Aufmerksamkeit zu steigern. Diese These wird von der Beobachtung gestützt, dass wir oft in langweiligen Situationen oder bei gleichbleibenden Tätigkeiten gähnen.

Hinzu kommt, dass Gähnen auch ein Dehnen und Strecken darstellt. "Steigerung der Aufmerksamkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, wenn man den biologischen Zweck des Gähnens erklären will", ist auch Zulley überzeugt. Das erscheint plausibel: Würde Gähnen tatsächlich dazu dienen, die Aufmerksamkeit zu steigern, dann ergäbe es sowohl in stressigen als auch in langweiligen Situationen Sinn.

Kühlt Gähnen das Gehirn?

Ein weiterer Erklärungsansatz geht davon aus, dass Gähnen der Thermoregulation im Gehirn dient. Amerikanische Psychologen konnten 2010 in einem Tierversuch zeigen, dass Ratten dann gähnten, wenn die Temperatur in ihrem Gehirn stieg.

Durch das Gähnen fiel sie wieder ab. Ausgehend von dieser Hypothese stellten die Forscher Untersuchungen beim Menschen an: War die Außentemperatur höher als die Körpertemperatur, gähnten die beobachteten Personen seltener. In einer anderen Studie wurde beobachtet, dass im Sommer insgesamt mehr gegähnt wird.

Auch dieser Erklärungsansatz lässt also noch viele Fragen offen. Dennoch gibt es Tipps gegen das Gähnen, die auf ihm beruhen, zum Beispiel: Wer sich einen kühlen Waschlappen auf die Stirn legt, lässt sich angeblich weniger leicht vom Gähnen anderer anstecken.

Gähnen wird als nicht so wichtig angesehen

"Weil Gähnen gesundheitlich kaum relevant ist, ist es noch nicht so gut erforscht", sagt Zulley. Immerhin: Im Juni 2010 haben sich in Paris zum ersten Mal Wissenschaftler aus aller Welt zu einem Gähn-Kongress getroffen und dort ihre Forschungsergebnisse ausgetauscht. Es tut sich also etwas in der Forschung. "Aber bis das Gähnen wirklich entschlüsselt ist, wird es sicher noch einige Zeit brauchen", so Zulley. "Bis dahin bleibt es einfach ein ebenso rätselhaftes wie merkwürdiges Verhalten."

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