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Herr Dr. Jahnke, beim Containern holen Menschen Essbares aus den Müllcontainern von Supermärkten und Discountern. Das ist in Deutschland momentan noch strafbar. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Die Grünen) will, dass Menschen dafür nicht mehr belangt werden. Gemeinsam mit Justizminister Marco Buschmann (FDP) wirbt er jetzt dafür, dass Bundesländer Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren ändern. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Ethisch und moralisch stimme ich dem vollkommen zu. Menschen fürs Containern zu verurteilen, macht für mich keinen Sinn. Ich frage mich, was Supermarktbetreiber und Staatsanwaltschaften veranlasst aktiv zu werden, wenn dabei kein Sachschaden entstanden ist und alles sauber hinterlassen wurde. Auch die Bevölkerung sieht Containern überwiegend unkritisch oder befürwortet es sogar. Dies zeigen die Ergebnisse einer deutschlandweiten Onlinebefragung mit rund 1.800 Teilnehmern[1].

Dr. Benedikt Jahnke forscht an der Universität Kassel zu Agrar- und Lebensmittelmarketing.

Dr. Benedikt Jahnke forscht an der Universität Kassel zu Agrar- und Lebensmittelmarketing.

Würde man mit der Straffreiheit auch Lebensmittelabfälle reduzieren?

Rein mengenmäßig wäre die Straffreiheit mehr oder weniger wirkungslos. Menschen würden nicht plötzlich damit beginnen massenhaft ihre Lebensmittel aus den Müllcontainern zu holen. Es wäre hilfreicher, legale Alternativen wie die Tafeln oder Foodsharing (Anmerkung der Redaktion: also Lebensmittel retten und teilen, statt sie wegzuwerfen) auszubauen. Dafür müsste die Weitergabe von Lebensmitteln einfacher und unbürokratischer funktionieren. Die Straffreiheit wäre aber ein deutliches Zeichen und politisches Statement im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung.

Wie realistisch ist ihre Umsetzung?

Ich habe da noch so meine Zweifel, ob es wirklich dazu kommen wird. Inwieweit der Vorschlag tatsächlich auch auf Ebene der Bundesländer politischer Konsens ist, wird sich noch zeigen.

In Ihrer Forschung beschreiben Sie Containern als Protest gegen eine Wegwerfgesellschaft[1], der die Lebensmittelverschwendung bewusst machen möchte. Wie gelingt das?

Es gibt ein paar bekannte Namen, wie Raphael Fellmer vor einigen Jahren oder Caro und Franzi mit ihrer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie sind an die Öffentlichkeit gegangen und arbeiten stark am Bewusstseinswandel mit. Auch im eigenen sozialen Umfeld kann man Aufmerksamkeit schaffen: Die Lebensmittel werden zum Beispiel weiterverteilt, es wird gemeinsam gekocht – auch mit Leuten, die nicht containern. Das bewirkt einen gewissen Wandel und schafft Bewusstsein dafür, wie problemlos die Reste der Supermärkte noch verzehrbar sind.

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Haben Sie selbst schon Lebensmittel aus Müllcontainern gerettet?

Nein, noch nie. Während meiner Forschungsarbeit zum Containern in Deutschland hätte ich das leicht umsetzen können. Aber ich habe mich bewusst dagegen entschieden, um die nötige Distanz zu wahren. Kritische Stimmen mögen das als realitätsfern bezeichnen. Für mich fühlt sich diese Herangehensweise aber immer noch richtig an. Nach Abschluss der Forschungsarbeit wollte ich die fehlenden Erfahrungen nachholen, doch dazu ist es bislang nicht gekommen. Containern steht weiterhin auf der persönlichen To-do-Liste – wenngleich nicht ganz oben.

Der Handel ist für sieben Prozent der Lebensmittelabfälle verantwortlich, private Haushalte hingegen produzieren 59 Prozent[2]. Haben wir ein verzerrtes Bild von der Rolle der Supermärkte?

In der öffentlichen Wahrnehmung kommen die Supermärkte eher schlecht weg. Wenn man sich die reine Statistik anschaut, ist der Handlungsbedarf in den privaten Haushalten größer. Das ist richtig. Auf der anderen Seite hat der Handel eine Schlüsselfunktion in der Wertschöpfungskette. Entscheidungen, die er trifft, wirken sich auf Erzeuger sowie auf Verbraucher aus.

Inwiefern?

Ein Beispiel ist, wie Supermärkte Lebensmittel vermarkten und ob sie damit einen bedarfsgerechten Einkauf ermöglichen. Der Klassiker: Die Paprika im Dreierpack ist günstiger als die lose. Auch Qualitätsnormen, die der Handel setzt, führen dazu, dass bei der Produktion und in der Verarbeitung Lebensmittelabfälle anfallen. Das Containern legt also den Finger an der richtigen Stelle in die Wunde.

Neben Privatpersonen möchten einige Initiativen die Lebensmittelverschwendung verringern – zum Beispiel retten die Tafeln nach eigenen Angaben jährlich 265.000 Tonnen Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können[3]. Trotzdem werfen Supermärkte und Co. Essbares weg. Wie ließen sich diese Abfälle minimieren?

Die Verschwendung von Lebensmitteln lässt sich nur reduzieren, wenn alle Beteiligten – vom Acker bis zum Teller – auch nach den Ansprüchen der nachfolgenden Stufen handeln: Landwirtschaftliche Betriebe, Verarbeitungsunternehmen, Groß- und Einzelhandel müssen sich noch zielgerichteter abstimmen und dabei immer den Endverbraucher im Blick behalten.

Haben Sie ein Beispiel?

Ist es zu trocken, erreichen Möhren nicht die normale Größe. Der Handel bietet sie zu einem reduzierten Preis an. Er zahlt Produzenten aber so wenig für die Möhren, dass sich für sie die Ernte und Lagerung nicht rentiert. Außerdem nehmen Kundinnen und Kunden, trotz reduziertem Preis, die Möhren nicht so an wie erwartet. Dann sind sie irgendwann unverkäuflich und werden entsorgt. Das Verhältnis zwischen Aufwand und Erlös stimmt hier weder für den Handel noch die Landwirte. Um das zu ändern braucht es, frühzeitige Hinweise der Landwirte an den Handel zu den erwarteten Erntequalitäten, reguläre Einkaufspreise für nur optisch nicht makellose Möhren und gemeinsam organisierte Aufklärung der Verbraucher zu den Hintergründen des „ungewohnten“ Aussehens der Möhren.

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Was könnte der Handel noch tun, um Abfälle zu minimieren?

Mit ausgefeilter Logistik und Prognose ist er schon auf einem guten Weg. Auch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden hierbei helfen. Aber der Handel scheut stärker sichtbare Veränderungen für Verbraucher. Dazu zählen unter anderem flexiblere Verpackungsgrößen, bewusst weniger Produkte im Frischebereich zu Randöffnungszeiten anzubieten und auf Preisaktionen für XXL-Verpackungen zu verzichten.

Wird denn grundsätzlich zu viel angeboten?

Problematisch ist das Grundmantra: Regale müssen immer voll sein, es braucht von allen Produkten verschiedene Sorten und eine üppige Warenpräsentation. Der Handel fürchtet auch, dass Kunden zur Konkurrenz gehen, wenn er Produkte nicht anbieten kann. Deshalb wird daran festgehalten, dass zu Randzeiten – hin zum Wochenende oder Abend – noch immer viele Produkte da sind. Wer dann kommt, soll noch die Wahl haben.

Brauchen wir verpflichtende gesetzliche Regelungen, um die Lebensmittelabfälle zu reduzieren?

Die Politik muss mehr tun, um die Ziele zu erreichen, die sie sich bei der Reduktion der Lebensmittelverschwendung vorgenommen hat. Die Vorgängerregierung hat auf freiwillige Selbstverpflichtungen gesetzt. Das reicht aber nicht. Denn die Maßnahmen sind häufig nicht langfristig genug angelegt und nur auf einzelne Produkte beschränkt. Die Selbstverpflichtungen sind insgesamt zu ambitionslos: Ein Einzelhändler bietet zum Beispiel testweise Äpfel mit Hagelschäden an. Der Testzeitraum ist aber zu kurz, als dass Kunden sich an das andere Aussehen der Äpfel gewöhnen können. Der Händler nimmt weniger ein als erwartet und beendet den Test.

Das Problembewusstsein ist da. Aber es fällt noch schwer in die Tat umzusetzen.

Wie könnte es besser klappen?

Ein klarerer gesetzlicher Rahmen wäre sinnvoll – gemeinsam mit finanziellen Anreizen Lebensmittelabfälle aktiv zu vermeiden. Dafür brauchen wir unter anderem ein detailliertes Monitoring der entsorgten Mengen: Einzelne Supermarktfilialen und andere Einkaufsstätten sollten dazu verpflichten sein, zu erfassen, welche Mengen und welche Produkte sie genau wegwerfen. Aus den gewonnenen Informationen könnte man gezielte Maßnahmen ableiten und Lebensmittelabfälle so besser reduzieren. Auch Mitarbeiter und Verantwortliche würden stärker für das Problem Lebensmittelverschwendung sensibilisiert werden.

Gibt es Länder, an deren Regelungen wir uns orientieren könnten?

In anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Tschechien oder Italien gibt es schon seit einigen Jahren Anti-Wegwerfgesetze: Supermärkte ab einer bestimmten Größe sind verpflichtet noch verzehrfähige Lebensmittel an soziale Einrichtungen abzugeben, andernfalls drohen finanzielle Konsequenzen. In Frankreich werden Strafzahlungen verhängt und in Italien bleiben Supermärkten Steuererleichterungen verwehrt. Dadurch stiegen die Lebensmittelspenden massiv. Allerdings verfügten diese Länder zum Zeitpunkt der Gesetzeseinführungen auch nicht über so gut etablierte Strukturen wie in Deutschland mit der Tafel. Daher wäre der Effekt eines Anti-Wegwerfgesetz hierzulande sicherlich etwas geringer – wenn auch nicht wirkungslos.

Die meisten Abfälle fallen bei uns zuhause an. Ist das Problem noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen?

Das Problembewusstsein ist sowohl unter den Forschenden als auch in der Gesellschaft gestiegen. Zum Beispiel haben 89 Prozent in der Umweltbewusstseinsstudie[4] gesagt, es werde bislang zu wenig gegen Lebensmittelverschwendung getan. Das Problembewusstsein ist da. Aber es fällt noch schwer in die Tat umzusetzen.

Woran liegt das?

Zum Beispiel sind wir in unseren Gewohnheiten gefangen. Einkaufen und Kochen läuft bei vielen sehr routiniert ab. Das heißt, wir entscheiden nicht jedes Mal neu, ob dieses oder jenes Produkt in unseren Einkaufskorb wandert oder wir statt 500 Gramm Nudeln nur 350 Gramm kochen. Zudem ist es noch nicht so populär Lebensmittelabfälle zu vermeiden, dass alle mitmachen und es zur Selbstverständlichkeit wird. Schließlich fehlen auch Wissen und Erfahrung. Diese zu fördern – auch bereits in Kindergarten und Schule – würde helfen, mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit Lebensmitteln zu entwickeln und stärker den eigenen Sinnen zu vertrauen als dem Mindesthaltbarkeitsdatum.

Wie kann man Verbraucherinnen und Verbrauchern erleichtern, dass sie nur das kaufen, was sie brauchen?

Es klingt trivial, aber zuerst muss man sich präzise überlegen, was es in den nächsten Tagen zu essen geben soll. Auf Verdacht Lebensmittel mitzunehmen, weil man sie eventuell brauchen könnte, erhöht das Risiko, dass diese am Ende ungenutzt in der Tonne oder auf dem Kompost landen. Außerdem braucht es gewisse Grundkenntnisse zum richtigen Umgang und der Lagerung von Lebensmitteln. Zum Beispiel sollte man gleich nach dem Einkauf die Blätter von Radieschen und Kohlrabi entfernen. Dann bleiben sie im Kühlschrank länger frisch.

Wie vermeiden Sie es zuhause, Lebensmittel wegwerfen zu müssen?

Vor dem Einkaufen inspizieren meine Frau und ich genau den Kühl- und Vorratsschrank. Darauf basierend überlegen wir, was wir in den nächsten Tagen kochen werden. Auf den Einkaufszettel wandert nur, was wir ergänzend benötigen. Beim Kochen reagieren wir flexibel auf das, was vorhanden oder übrig geblieben ist. Gerichte wandeln wir immer wieder so ab, dass Reste verwendet werden. Das gelingt nicht immer gleich gut. Aber unsere Resteaufläufe stehen auch bei den Kindern sehr hoch im Kurs.

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Quellen:

  • [1] Jahnke B und Liebe U: Dumpster Diving for a Better World. In: Nature and Culture: 01.12.2021, https://doi.org/...
  • [2] Statistisches Bundesamt: Lebensmittelabfälle in Deutschland. https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 13.01.2023)
  • [3] Tafel Deutschland: Die Tafeln: Lebensmittel retten. https://www.tafel.de/... (Abgerufen am 13.01.2023)
  • [4] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz: Umweltbewusstsein in Deutschland 2020. https://www.bmuv.de/... (Abgerufen am 13.01.2023)