Ungesunde Ernährung: Was kann die Politik dagegen tun?
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist im Oktober 2021 auf apotheken-umschau.de erschienen. Seine Grundbotschaft hat sich seitdem nicht verändert. Anlässlich des Weltdiabetestags 2022 (14.11.) legen wir ihn unseren Leserinnen und Lesern deshalb erneut ans Herz.
Weiße Strände, rauschende Palmen, das Korallenriff im türkis leuchtenden Meer: Der Inselstaat Amerikanisch-Samoa im Südpazifik ist für viele ein Sehnsuchtsort. Dass sich dort aus medizinischer Sicht seit Jahren ein Albtraum abspielt, dürfte weniger bekannt sein. Rund 75 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind fettleibig, haben also einen Body-Mass-Index (BMI) von über 30, wie die Welt-gesundheitsorganisation (WHO) bereits 2007 feststellen musste.
Hierfür muss ein 1,80 Meter großer Mann mehr als 98 Kilogramm auf die Waage bringen, eine Frau von 1,70 Metern 87 Kilo. Als nomalgewichtig gilt, wer einen BMI zwischen 18,5 und 24,9 hat.
Mehr Adipositas-Fälle durch Fast Food & Co.
Forschende machen genetische Anlagen dafür mitverantwortlich. Der Effekt trat aber umso mehr ein, seitdem auf Amerikanisch-Samoa wie an vielen Orten der Welt die regional typische Ernährung zugunsten importierter und industriell gefertigter, hochgradig verarbeiteter Lebensmittel verdrängt worden ist. Pizza, Burger, Schokoriegel, Kekse und Limonaden: Viele dieser Zubereitungen machen nicht nachhaltig satt, enthalten aber viele Kalorien und treiben den Blutzuckerspiegel schnell in die Höhe. Ein übermaß an Zucker und Weißmehl überfordert nachweislich den Stoffwechsel und lässt die Leber verfetten – was wiederum Diabetes und weitere chronische Folgeerkrankungen bis hin zu Krebs befördern kann.
Krankheits- und Folgekosten: 21 Milliarden Euro im Jahr
Weltweit ist Adipositas auf dem Vormarsch, mittlerweile leben mehr übergewichtige als Unterernährte auf dem Erdball. Auch in Deutschland sind zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen hierzulande ist sogar fettleibig. Ihr Gewicht gerät außer Kontrolle: Hochkalorische Nahrung ist fast jederzeit und überall günstig zu haben.
Bereits heute leiden etwa acht Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes. Die Krankheits- und Folgekosten belaufen sich laut Barbara Bitzer, Pharmazeutin und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), auf 21 Milliarden Euro jährlich. Bis 2040 wird sogar mit bis zu zwölf Millionen Erkrankten gerechnet, wenn sich nichts verändert.
Aufklärung statt Vorschriften: Verantwortung liegt bei Konsumentinnen
„Beweg dich mehr, iss gesünder“: Mit ähnlichen Appellen verschiebt die Politik die Verantwortung auf die Konsumentinnen und Konsumenten. Zudem setze sie fast ausschließlich auf Aufklärung, so Bitzer. Appelle seien bisher jedoch gescheitert: „Erreicht werden dadurch vor allem diejenigen, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Bildungsferne Schichten hingegen werden abgehängt.“
In armen Familien ist das Risiko für Kinder, adipös zu werden, vierfach erhöht. Es brauche deshalb verbindliche Maßnahmen, die es allen erleichtern, sich gesund zu ernähren, das Gewicht unter Kontrolle zu halten, sagt Bitzer. Und Vorgaben an die Industrie.
Expertinnen fordern „gesunde Mehrwertsteuer“
Die DDG empfiehlt genauso wie die WHO und das Wissenschafts- und Medizinbündnis DANK drei verbindliche Maßnahmen: eine „gesunde Mehrwertsteuer“ mit steuerlicher Erleichterung für gesunde Lebensmittel wie Nüsse, Gemüse oder Obst. Einen deutlich erhöhten Steuersatz für zuckerhaltige Getränke. Und eine transparente Kennzeichnung von Produkten sowie ein Werbeverbot für ungesunde Produkte in Bezug auf Kinder.
Ungesunde Lebensmittel herzustellen sei für die Industrie schlichtweg zu lukrativ, warnt Oliver Huizinga vom gemeinnützigen Verein Foodwatch Deutschland: „Die Gewinnspanne bei Keksen, Schoko und Knabberzeug ist drei bis viermal so hoch wie bei Gemüse und Obst.“ Zum einen seien die einzelnen Inhaltsstoffe – Pflanzenfette, Kohlenhydrate und Zuckerarten, Aromen sowie Geschmacksverstärker – günstig. Sie lassen sich oft lange und günstig lagern.
„Hersteller können zudem eine Marke aufbauen und sie in Relation zum Wareneinsatz teuer verkaufen“, so Huizinga. Im Klartext heißt das: „Die Konzerne haben ein großes Interesse, mehr von jenen Produkten zu verkaufen, von denen wir eigentlich weniger essen sollten.“
Süßegrad sollte in Lebensmitteln reduziert werden
Süße Produkte schmecken unbestreitbar gut. Wir gewöhnen uns an den Geschmack und würden, so Bitzer, sogar dahingehend erzogen werden. Denn Zucker wirkt im Gehirn ähnlich wie Suchtmittel, er erzeugt ein Verlangen nach mehr. Kein Wunder, dass er in vielen Produkten enthalten ist, in denen man ihn nicht vermuten würde: Ein Glas mit vermeintlich gesundem Rotkohl kann laut Bitzer 20 Stück Würfelzucker enthalten, manche Cerealien bestehen zu bis zu 40 Prozent aus Zucker.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft fordert deshalb, in allen verarbeiteten Lebensmitteln den Süßegrad zu reduzieren. Das Herstellerinteresse spiegelt sich auch in der Gesetzgebung wider: „Leider haben in Deutschland die Interessen der Lebensmittelindustrie Vorrang“, sagt Barbara Bitzer. Sie sieht ein strukturelles Problem: Der gesundhheitliche Verbraucherschutz ist im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) angesiedelt. „Das Ministerium setzt sich jedoch auch für die Interessen von Erzeugern und Industrie ein.“ Besser aufgehoben wäre der Verbraucherschutz demnach beim Bundesgesundheitsministerium.
Eine steuerliche Begünstigung gesunder Nahrungsmittel gibt es bisher genauso wenig wie eine Zuckersteuer nach britischem Vorbild. Auch ein Werbeverbot für ungesunde Kinderprodukte oder eine deutliche Kennzeichnung ungesunder Lebensmittel seien bislang von der Lebensmittelindustrie erfolgreich verhindert worden, beklagt Huizinga.
Rund 50 verschiedene Begriffe für Zucker: Wie viel steckt also drin?
Immerhin, die von der WHO geforderte transparente Kennzeichnung gibt es zumindest teilweise. Zwar sind rund 50 verschiedene Begriffe für Zuckerarten, die in Lebensmitteln verarbeitet werden, kaum zu durchschauen: Dicksaft, Maltodextrin, Isoglucose, Maltose sind nur einige Beispiele. Oft stecken mehrere davon in nur einem Produkt.
Wer also wissen will, wie viel Zucker ein Fertig-Muffin enthält, muss sich recht gut mit Lebensmittelchemie auskennen. Einen Lichtblick gibt es aber: Im Jahr 2020 wurde der Nutri-Score eingeführt. Die Farbampel von Rot für ungesunde bis Grün für gesunde Lebensmittel vermittelt einen schnellen Überblick zu Nährwerten und ist auf Verpackungen abgedruckt. In Frankreich konnte er das Einkaufsverhalten bereits positiv beeinflussen. Zudem hätten erste Hersteller ihre Rezepturen angepasst. „Niemand möchte eine rote Kennzeichnung auf einem Produkt haben“, sagt Bitzer.
Nutri-Score-Kennzeichnung bisher freiwillig und mit Schwächen
Bis Ende August 2021 hatten sich laut BMEL 214 Unternehmen mit 424 Marken für die Verwendung des Nutri-Score registriert. Doch allein die Zahl der Getränkehersteller lag 2019 bei 555. Solange der Nutri-Score eine freiwillige Kennzeichnung ist, wird er seine Wirkung nicht voll entfalten können. Schwächen hat er obendrein: So schneiden zuckerfreie, mit Süßstoff abgeschmeckte Limonaden gut ab, obwohl sie nicht gerade als gesund gelten und das Verlangen nach Süßem fördern. Es gibt also Nachbesserungsbedarf.
Verbindliche Maßnahmen nötig: Politik muss handeln
Dass die neue Bundesregierung aktiv werden muss, darin sind sich Expertinnen und Experten einig. Geht es nach Huizinga, können wirkungsvolle Maßnahmen nur ohne die Zuckerindustrie erarbeitet werden: „Es wäre ein Trugschluss, zu glauben, sie könne Teil der Lösung sein.“ Sie werde immer alles unternehmen, um wirksame Maßnahmen für weniger Zuckerverzehr zu verhindern.
„Ob an den Preisen oder an nötiger Information, man kann an vielen Stellschrauben drehen“, sagt Professor Ludger Heidbrink, Konsumethiker an der Universität Kiel. „Am Ende bleibt es die Entscheidung der Kunden, ein ungesundes Produkt zu kaufen.“ Man wolle niemandem vorschreiben, was sie oder er einkaufen soll, meint Huizinga. Eine gesunde Wahl müsse aber erleichtert und Kinder vor übergriffiger Werbung besser geschützt werden.
Die DDG will endlich auch verbindliche Standards für Kita- und Schulessen erwirken. Man kann nicht früh genug ansetzen: Denn bereits im Mutterleib werden Geschmacksvorlieben geprägt. Und damit auch die spätere Neigung zu Übergewicht.