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Frau Heller, können Sie verstehen, wenn jemand sagt: „Ich kann das Wort Resilienz nicht mehr hören? Es war seit Beginn der Pandemie so viel darüber zu lesen, aber geholfen hat es ja doch nicht?“

Ich glaube, hier wird oft etwas fundamental missverstanden. Bei der Resilienz geht es nicht darum, härter zu werden oder besser zu funktionieren, um eine Krise zu bewältigen. Es geht auch nicht darum, die Belastung, die wir haben, oder die Angst, die wir erleben, klein zu reden. Vielmehr geht es um einen Weg, sich den Problemen und Fragen zu stellen, die derzeit viele haben: Was bedeutet das, wenn ich Sorge habe, mich anzustecken? Wenn ich einen neuen Lockdown fürchte? Es führt dazu, dass wir in uns Stress erleben, weniger stabil sind. Was machen wir nun damit? Das ist die entscheidende Frage.

Und: Was machen wir?

Erst mal nehmen wir wahr, was ist: Ich bin im Moment nicht so stabil. Nein, mit dieser üblichen Floskel, wenn wir gefragt werden, wie es uns geht – Danke, gut - handeln wir das Thema jetzt mal nicht ab. Zumindest uns selbst gegenüber sollten wir ehrlich sein, genauer hinschauen. Wie geht es uns wirklich, auf einer Skala von eins bis zehn? Wenn eins nicht so doll ist und zehn super gut? Nehmen wir mal an, ich ordne mein Befinden bei einer 4,5 ein. Dann kann ich mich fragen: Was bräuchte ich, um nur einen halben Punkt nach oben zu kommen? Dieser halbe Punkt ist realistisch. Den schaffe ich. Auch, wenn Corona weiter da ist.

Wie zum Beispiel?

Eine meiner Lieblingsmethoden, auch wenn sie zunächst vielleicht ein wenig banal klingt: Die Tasse Kaffee am Morgen. Ich kann auf den Knopf drücken, den Kaffee aus der Maschine lassen. Oder aber ich drücke den Knopf, warte, genieße den Duft. Ich nehme mir dann vielleicht drei sehr bewusste Minuten. Ich spüre die Wärme der Tasse in meiner Hand. Nehme jeden Schluck für sich als etwas Besonderes. Ich erlebe etwas, das mich besser in den Tag starten lässt. Mein Stimmungsniveau ist ein anderes. Klar, für den Moment ist es nur dieser Kaffee. Aber darauf lässt sich aufbauen.

Möglicherweise sinkt die Stimmung aber schon im nächsten Moment, wenn wir die Zeitung aufschlagen oder die Nachrichten hören…

Und da möchte ich auch gar nichts beschönigen, die Situation ist, wie sie ist. Wie wir sie bewerten, liegt allerdings an uns. Ein positiver Bewertungsstil ist im Umgang mit Krisen definitiv förderlich.

Resilienz-Expertin Professorin Jutta Heller aus Stein bei Nürnberg

Resilienz-Expertin Professorin Jutta Heller aus Stein bei Nürnberg

Sie meinen, wer ein Stück weit den Weichzeichner einlegt, fährt besser?

Nein, das meine ich nicht. Es geht nicht um Schönreden. Eher darum, den Blick weit werden zu lassen. Eine kleine simple Übung hilft dabei: Einfach am Ende des Tages drei Dinge aufschreiben, die einen gefreut haben. Machen Sie das sechs Wochen lang, rate ich meinen Kunden. Oft kommt dann schon nach wenigen Tagen diese Rückmeldung: Ich gehe ganz anders durch die Welt. Was uns ärgert, ist vielleicht immer noch da, fällt aber weniger ins Gewicht. Eben, weil wir uns daneben auch anderes rauspicken, Dinge, die uns freuen. Nein, ein Ende der Pandemie ist nicht abzusehen. Aber beim Spaziergang rieseln die Schneeflocken. Die Kerze taucht die Wohnung in weiches Licht. Die Musik beruhigt. Jetzt, in diesem Moment.

Aber kann das nicht ein Stück weit auch eine Flucht sein? Die Welt ist im Alarmzustand und ich schaue mir die Schneeflocken an?

Ich verstehe den Einwand, auch ein Langstreckenläufer würde ihn vermutlich bringen. Für die Bewältigung eines Marathons ist die Frage nach der Länge der Strecke zentral, Sportler teilen sich dahingehend ihre Kraft ein. Allerdings setzt sich in Bezug auf die Pandemie allmählich die Erkenntnis durch, dass wir schlicht nicht wissen, wie lange das alles noch dauert. Daher brauchen wir etwas anderes als Sportlergeist. Jetzt, wo klar ist, dass es wenig Sinn macht, auf einen Tag x zu warten, an dem alles vorbei ist, sollten wir uns umso mehr auf das konzentrieren, was hier und heute, in diesem Moment geht. Auf das, was trotz allem möglich ist.

Ist das eine Strategie, die ruhig werden und abschalten lässt?

Viel mehr als das. Es entsteht ein von Grund auf anderes Krisenmanagement. Die Studienlage ist eindeutig: Einen positiven Bewertungs-Stil kann man lernen und auch, wenn es uns ein Stück weit in die Wiege gelegt ist, ob wir eher optimistisch oder pessimistisch gestimmt sind, so lässt sich durch Training hier durchaus eine Menge erreichen. Der Effekt der abendlichen Aufschreibe-Übung ist übrigens noch größer, wenn wir uns zu den drei Dingen, die uns über den Tag Freude bereitet haben, folgende Frage stellen: Was habe ich selbst dazu beigetragen?

Mal angenommen, ich habe es mir zu Hause schön gemacht. Das mag für den Moment guttun, ändert aber nichts an der Ungewissheit der aktuellen Situation. Es könnte zum Beispiel wieder ein Lockdown kommen. Dagegen hilft Kuschelatmosphäre wenig, oder?

Das mag jetzt wieder floskelhaft klingen: Die Zukunft ist immer ungewiss. Wir können wunderbare Pläne machen und manchmal funktionieren die auch. Aber eben nicht immer. Manche macht das nervös, von einem drohenden Kontrollverlust ist in diesen Tagen wieder viel die Rede. Mir persönlich wäre ein anderer Begriff lieber. Ich finde: Wir brauchen eher eine Ungewissheitstoleranz. Oder auch die Fähigkeit, uns überraschen zu lassen. Sehen wir es doch mal so rum: Vielleicht kommt es ja gar nicht so schlimm, wie wir es uns im Moment ausmalen?

Das wäre die Sichtweise des Optimisten…

Ja, aber es ist auch ein Tool zur Stärkung der Resilienz, so zu denken. Das Entwickeln von Worst-Case- und Best-Case-Szenarien ist übrigens eine beliebte Management-Technik. Man entwickelt verschiedene Prognosen, die erst mal ganz wertfrei nebeneinanderstehen dürfen. Man kann dabei mithilfe von Computersimulationen sehr weit ins Detail gehen. Für den Alltagsgebrauch genügen aber auch ein Blatt Papier und ein Stift. Nehmen wir doch ruhig mal den möglichen Lockdown im neuen Jahr. Was würde der für mich bedeuten? Möglicherweise wäre ich wieder oder noch länger im Home-Office, würde meine Freunde selten sehen. Aber daneben, in einer zweiten Spalte, stehen vielleicht noch andere Dinge. Ich spare Wege. Hab wieder mehr Zeit für Dinge, die zuletzt liegen geblieben sind. Außerdem werden die Tage langsam länger, möglicherweise lässt sich schon bald der Frühling erahnen. Keine Frage: Für bestimmte Berufsgruppen wäre ein neuer Shut-Down ein Drama. Viele haben zuletzt aber gute Routinen entwickelt, online zu arbeiten, auch das ist Fakt. Es kann sehr wohltuend sein, das eigene Worst-Case-Szenario einmal vor sich aufzufächern und genau zu beleuchten. Ja, in vielerlei Hinsicht sind die Aussichten nicht gerade rosig. Aber es gibt auch Punkte, die Mut machen, uns zeigen, in wie weit wir gewappnet sind. Für ein wirklich gutes Erfassen der Situation brauchen wir den komplexen Blick.

Neigen wir dazu, zu einseitig zu denken, ist das ein Problem?

Ja und oft auch zu diffus. Solange die Gedanken kreisen und wenig greifbar sind, fühlen wir uns besonders ausgeliefert und haltlos. Der eher düstere Blick in die Zukunft, der vielleicht schon erste Bewältigungsimpulse mitbringt, ist da mitunter sogar besser als das ziellose Springen im Kopf von einem Thema zum nächsten. Und übrigens: Wer sagt denn eigentlich, dass der Lockdown sicher kommt? Auch das Zeichnen eines dritten Bildes ist denkbar: Die Variante breitet sich weniger aus als befürchtet. Die Einschränkungen bleiben im Rahmen. Unwahrscheinlich, mag der ein oder andere jetzt sagen. Als tendenziell optimistischer Mensch würde ich gegenhalten: Ich kalkuliere nie nur mit der totalen Katastrophe.

Eine besonders belastete Gruppe in der Pandemie waren und sind Familien. Stichwort geschlossene Spielplätze, Schulstunden vor dem PC und der Papa arbeitet im Schlafzimmer… Hier dürften die Punkte auf der Positivseite der Liste eher begrenzt sein. Was raten Sie?

Für Familien ist es eine extreme Situation, das sehe ich auch. Allein, wenn alle einen großen Teil der Zeit im gleichen Raum sind, es wenig Ausweichmöglichkeit gibt. Viele meiner Kunden mit Kindern haben begonnen, die kleine Übung mit dem Tagesrückblick nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Familie zu nutzen. Abends beim Essen zum Beispiel. Was war heute gut? Was hat uns gefreut? Und ganz wichtig: Was hat der Einzelne dazu beigetragen? Ich habe hier wirklich schöne Rückmeldungen bekommen. Klar, das Zusammenleben bleibt trotz allem anstrengend. Aber man sieht auch die Momente, in denen die Familie Kraft spendet. Wenn das Leben kein Entweder-Oder ist, sondern ein Sowohl-als-auch, ist schon viel gewonnen. Manche Eltern haben mir berichtet, dass sie den Tagesrückblick ins zu-Bett geh-Ritual einbauen. Eine schöne Idee, finde ich. Die Kinder können dann besser einschlafen. Unterschätzen wir nicht, wie viel sie von unserer Anspannung mitbekommen. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, nach außen stabil zu wirken.

Haben Sie auch einen Tipp für Kinder von alten Eltern? Ältere Menschen sind durch die Pandemie ja bekanntlich auch ziemlich belastet…

Hier fällt mir spontan ein Spruch aus der Bibel ein: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich muss mich doch um meine Eltern kümmern, sagt die Kundin. Okay sage ich, aber Sie müssen sich auch um sich kümmern, sonst ist ihre Energie irgendwann nicht mehr ausreichend vorhanden. Ich weiß, bei vielen kommt dann der Einwand: Aber meine Mutter oder mein Vater fühlen sich dann im Stich gelassen. Hier würde ich zu klaren Absprachen raten. Etwa so: Mama, ich muss jetzt mal was für mich machen, aber übermorgen bin ich wieder für dich da. Ohne den zweiten Halbsatz wäre das Ganze vielleicht schwierig, aber so gebe ich eine Perspektive mit. Und ich kann das Ganze ja auch betont lieb und fürsorglich vorbringen. Fakt ist: In einem guten Zustand kann ich besser für andere Menschen sorgen.

Das gilt vermutlich auch für die Pflegekräfte, die durch die Pandemie besonders strapaziert sind?

Absolut. Ich denke da an Studien aus der Palliativmedizin, die zeigen, wie unglaublich wichtig es für diese Menschen ist, sich auszutauschen, um so Entlastung zu finden. Vieles, was Intensivpflegekräfte brauchen, scheint alles andere als selbstverständlich. Die bessere Bezahlung ist das eine. Wichtig darüber hinaus ist, dass gezielt Räume für Begegnungen geschaffen werden. So geht es mir wirklich – das muss raus können. Und ich denke dabei keineswegs nur an die Schwere der Arbeit, die kommuniziert werden sollte. Auch eine Pflegekraft erlebt trotz allem sicher hier und da Schönes in ihrem Beruf. Wenn auch diese Dinge in den Austausch einfließen, kann das sehr kraftspendend sein.

Darf man fragen, wie es Ihnen selbst aktuell geht? Sind sie besorgt beim Blick in die Zukunft?

Ich mache mir natürlich schon auch Gedanken, aber meine Zukunft beginnt aktuell vor allem morgen, mit einem Urlaub. Da weiß ich jedenfalls schon mal, was ich heute Abend notieren kann. Große Vorfreude! Ich werde ausschlafen, viel an die frische Luft gehen, gute Musik hören. Salsa vor allem, das bringt die Sonne mit. Und dann, zum Jahresende, wird mein Rückblick etwas intensiver ausfallen als zum Ende eines jeden Tages. Was habe ich in diesem Jahr alles geschafft? Eine ganze Menge, glaube ich und damit stehe ich weiß Gott nicht allein. Sehr viele Menschen haben in den vergangenen zwei Jahren sehr viel geleistet. Das sollte gewürdigt werden. Ja, man darf sowas auch mal feiern. Und natürlich kann so ein Rückblick auch Gelegenheit sein, sich bewusst zu machen, was in diesem Jahr schwer und schmerzhaft war. Um sich im nächsten Moment von diesen Dingen zu verabschieden und loszulassen, ganz bewusst.

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