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Frau Sawatzki, in Ihrem Buch „Brunnenstraße“ erzählen Sie, wie Sie als Kind Ihren demenzkranken Vater gepflegt haben. Wie lange haben Sie diese ­Geschichte mit sich herumgetragen?

Nachdem mein Vater gestorben war, bin ich davon ausgegangen, dass sich die Erinnerungen an das Erlebte von allein auflösen würden. Das hat anfangs ganz gut funktioniert. Erst mit Mitte 30 hatte ich dann das Bedürfnis, mich an meine Kindheit heranzutasten. Ich war gerade zum ersten Mal Mutter geworden, aber mir fehlte der Zugang zu meiner eigenen Kindheit. Die war wie ausgelöscht, und das war für mich ein Alarmzeichen. Erst vor fünf Jahren habe ich begonnen, über dieses Buch nachzudenken.

Hat das Aufschreiben mehrere Anläufe gebraucht?

Ja, ich schätze, ungefähr 15. Die letzte Fassung habe ich sehr schnell geschrieben, innerhalb von zwei Wochen in einem Lockdown während der Pandemie. Aber ich ­habe mich lange davor gedrückt, meine Geschichte aufzuschreiben.

Warum?

Ich hatte Angst, dass ich mich zu weit nach vorne wage, zu viel von mir preisgebe, was mir dann zum Vorwurf gemacht werden kann. Doch ich erlebe das Gegenteil: Das Buch findet großen Anklang, die Lesungen sind ausverkauft. Ich glaube, die Menschen haben ein großes Bedürfnis, über diese Themen zu sprechen: unverarbeitete Kindheitstraumata oder Schuldgefühle, die mit der Pflege eines Angehörigen einhergehen, wenn man einfach nicht mehr kann.

Hatten Sie diese Schuldgefühle damals auch? Sie waren noch ein Kind, acht Jahre alt, als Ihr Vater an Alzheimer erkrankte, 15, als er starb.

Ich glaube, dass ich damals sehr unter mir gelitten habe. Darunter, dass ich nicht hundertprozentig funktioniert habe. Dass ich es nicht geschafft habe, ihn davon abzuhalten, meine Mutter tagsüber zu wecken – sie hat als Krankenschwester in der Nachtschicht gearbeitet. Aber dieses Bedürfnis zu funktionieren, die Aussichtslosigkeit, die Erschöpfung, waren in dieser Zeit so groß, dass ich erst einmal keine Schuldgefühle zulassen konnte. Und auch später habe ich sie jahrelang weggedrückt. Ich wollte nicht damit konfrontiert werden, ich hatte Angst, sie nicht verarbeiten zu können.

Auch davor, dass sie einen überrollen?

Ja. Aber durch die Arbeit an mir habe ich festgestellt, dass man als Kind in so einer Situation keine Schuld haben kann. Man ist noch klein und absolut überfordert, braucht selbst Hilfe. Durch meine Lesungen durfte ich in Bochum ein wundervolles, auf Spenden basierendes Projekt der Alzheimer-Gesellschaft Bochum, St. Vinzenz e. V. und der LWL-Universitätsklinik Bochum kennenlernen: Bei „KidsDem“ nimmt man sich den Kindern und Jugendlichen an, die in der gleichen Situation stecken wie ich damals.

Was hat Sie daran besonders berührt?

Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass es auch heute noch Kinder gibt, die so alleingelassen werden mit kranken Elternteilen. Deutschlandweit sind es circa 400 000 Kinder und Jugendliche. Das macht mich sprachlos. Wieso hilft man diesen Familien nicht gezielter? Ich dachte beim Schreiben meines Buchs tatsächlich, meine Erfahrungen seien eben den 1970er-Jahren, dem Wegsehen, geschuldet gewesen.

Gab es einen Punkt in Ihrer Kindheit, an dem Ihnen bewusst wurde: Die Pflege, diese Verantwortung bürdet man einem Kind nicht auf?

Nein. Ich musste funktionieren, sonst wäre alles zusammengebrochen. Auch hatte ich keine Vergleichsmöglichkeiten. Für mich war diese Kindheit in gewissem Sinne normal und auch nicht so fürchterlich, wie es vielleicht bei manchen Leuten ankommt. Mir ging es vor allem darum, meine Mutter zu unterstützen, sie zu entlasten. Ich musste Stärke bewahren, für uns beide.

Beim Lesen hatte ich sehr viel Mitgefühl mit dem Mädchen, das Sie einmal ­waren. Wie haben Sie sich diesem Kind angenähert?

Das hat lange gedauert. Ich habe anfangs festgestellt, dass ich die kleine Andrea in mir ablehnte. Es kamen zu viele Bilder hoch. Zu vieles, was ich mir im Nachhinein übel genommen habe. Im Umgang mit meinem Vater, als ich älter wurde und sich unser Kräfteverhältnis verschoben hat. Inzwischen habe ich gelernt, dieses kleine Mädchen in den Arm zu nehmen und zu sagen: Das war dieser Zeit geschuldet, das waren Hilferufe. Ich war tatsächlich noch zu klein und zu jung für diese Situation.

Wie haben Sie es geschafft, so schonungslos über diese Gefühle – die Hilf­losigkeit, die Wut – zu schreiben?

Ich wusste erst nicht, wie weit ich gehen darf. Aber ich wollte die Wahrheit schreiben, auch die Wahrheit über mich, weil es vielen Menschen so geht wie mir damals. Da gibt es nichts zu beschönigen: Alzheimer ist eine Krankheit, die auch die Pflegenden zum Äußersten treibt, vor allem wenn man keine Hilfe bekommt. Mein Vater konnte keine Minute sitzen bleiben, er wollte immer weg. Der ganze Tag drehte sich um ihn, es gab keinen Moment der ­Ruhe, keine Möglichkeit der Flucht.

Ihre Eltern haben spät geheiratet, ein Familienleben gab es erst, als Sie acht Jahre alt waren. Kurz darauf begann die Alzheimer-Erkrankung Ihres Vaters und Sie waren für ihn verantwortlich.

Das größte Problem war sicher, dass wir uns vorher nicht kennengelernt hatten. Ich hatte mir natürlich einen richtigen Vater gewünscht, doch er war ein Fremder für mich, von Anfang an unberechenbar. Er war mir unheimlich. Wir haben nicht begriffen, dass das der Beginn der Krankheit war. Das tut mir im Nachhinein sehr leid, er konnte nichts dafür. Es muss fürchterlich für ihn gewesen sein – nicht zu wissen, wo man ist, wer die Menschen um einen herum sind, wo man herkommt oder hinwill.

In manchen Situationen haben Sie sich als Krankenschwester ausgegeben. Der Vater hat es Ihnen abgenommen.

Immer! Es gibt durchaus Erlebnisse aus dieser Zeit, denen ich positive Aspekte abgewinnen kann. Die Erfahrung, dass mir mein Vater die Schwester Emmi – eigentlich meine Mutter, sie war ja Krankenschwester – abgenommen hat, war ganz wichtig. Wenn ich ihn nachts wieder ins Bett brachte, war ich die Krankenschwester, die sagte: Bitte gehen Sie ins Bett, Sie sind in einem Krankenhaus, Sie stören sonst die anderen Patienten. Ich bin die Schwester Emmi, mich kennen Sie ja. Ich glaube, dieses Verstellen, das Hineinschlüpfen in andere, hat mich letztendlich dazu bewogen, die Schauspielerei für mich zu finden.

Haben Sie sich auch damit auseinandergesetzt, selbst zu erkranken?

Es gab eine Zeit, in der ich mich sehr davor gefürchtet habe. Aber mittlerweile habe ich diese Angst im Griff, weil ich das Leben so schön finde. Ich bin optimistisch. Ich habe nichts vom Leben, wenn ich es nicht genieße und immer diese Angst in mir trage. Die Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken, liegt bei ungefähr 50 Prozent.

Was fühlen Sie heute, wenn Sie an Ihren Vater denken?

Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ein Kästchen mit Briefen entdeckt, die er ihr geschrieben hat, als er noch nicht mit uns zusammenlebte. In diesen Briefen hat er geschrieben, wie sehr er mich liebt, wie gerne er einmal mit uns zusammenleben würde. Das ist mir sehr zu Herzen gegangen. Dass er mich geliebt haben könnte, war mir nie klar. Ich hatte das Pech, ihn nur als kranken Menschen zu kennen. Er war nicht er selbst, nicht der Mann, der er vorher war: ein großartiger Theaterkritiker, ein fantastischer Journalist. Ich würde ihn gerne noch einmal treffen und richtig mit ihm reden. Ich spüre eine ganz tiefe Liebe ihm gegenüber.


Quellen: