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In Deutschland leben etwa acht Millionen LSTBI*-Menschen. LSBTI* steht für Lesbisch, Schwul, Bi, Transgender und Intergeschlechtlich. Das Sternchen soll zeigen, dass das Spektrum geschlechtlicher Vielfalt größer ist.

Etwa eine Million der LSBTI*-Menschen ist älter als 65 – zumindest ein Teil davon lebt oder könnte in Zukunft in Pflegeheimen leben. Doch die sind nicht immer auf die speziellen Bedürfnisse der LSBTI*-Menschen vorbereitet. In der Stadt Düsseldorf gibt es darum seit 2019 die Fachstelle „Altern unterm Regenbogen“: Die soll Pflegeinrichtungen und Seniorentreffs zum Thema sensibilisieren und allgemein eine Anlaufstelle für LSBTI*-Menschen ab 55 Jahren sein.

Die Fachstelle wird von der Stadt Düsseldorf finanziert und von drei Menschen umgesetzt: Dr. Inka Wihlelm von der Frauenberatungsstelle Düsseldorf, René Kirchhoff von der Aidshilfe Düsseldorf und Bernd Plöger von der Arbeiterwohlfahrt Düsseldorf. Im Interview erklären die drei Projektmitarbeiter warum ihre Arbeit nötig ist, was eine sensibilisierte Pflegeeinrichtung ausmacht und wie Bürgerinnen und Bürger im Kampf gegen Diskriminierung helfen können.

Seit 2019 gibt es die Fachstelle „Altern unterm Regenbogen“. Warum braucht es eine extra Interessensvertretung für ältere Menschen aus der LSBTI*-Community? Können sie sich nicht an die vorhandenen Beratungsstellen wenden?

Inka Wilhlem: Ältere LSBTI*-Menschen haben im Alter natürlich oft die gleichen Probleme wie andere Menschen, aber gewisse Sachen unterscheiden sie von der Mehrheitsgesellschaft: Wie Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen durch ihre Mitmenschen. Aber es gab auch lange eine staatliche Diskriminierung.

Was meinen Sie damit?

Inka Wilhelm: Schwule Männer zum Beispiel wurden bis 1994 durch Paragraf 175 kriminalisiert …

… der sogenannte „Schwulenparagraf“, der homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen in Ostdeutschland bis Ende der 1950er, in Westdeutschland bis Anfang der 1970er unter Strafe stellte …

Inka Wilhelm: … und landeten wegen dieses Gesetzes teilweise sogar im Gefängnis. Bis zum 22. Juli 2022 können sie dafür übrigens noch einen Antrag auf Entschädigung stellen. Oder lesbische Frauen verloren bis in die 90er Jahre das Sorgerecht für ihre Kinder, wenn sie sich aus einer heterosexuellen Ehe lösten.

Bernd Plöger: Und Transpersonen mussten sich vor einigen Jahren noch einer Zwangssterilisation unterziehen, wenn sie ihren Personenstand ändern wollten. Das war ein starker Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das körperliche Selbstbestimmungsrecht. Und denken Sie auch an intergeschlechtliche Menschen: Die haben Zeit ihres Lebens mit geschlechtsnormierenden Operationen zu kämpfen und leiden noch heute unter den Folgen.

Inka Wilhelm: Diese Erfahrungen führen dazu, dass das Vertrauen in staatliche Institutionen und öffentliche Einrichtungen anders ist: Es gibt sogar Teile der Community, die sagen: Ich würde mir eher das Leben nehmen, als dass ich in eine Pflegeeinrichtung gehe.

Wie wollen Sie Menschen mit solchen negativen Erfahrungen helfen?

René Kirchhoff: Indem wir Einrichtungen für das Thema sensibilisieren: Wir gehen in die Pflegeheime oder Senioreneinrichtungen, geben Mitarbeitenden Workshops und erklären, dass LSBTI*-Personen andere Bedürfnisse haben.

Was sind das für Bedürfnisse?

Inka Wilhelm: Die Erfahrungen der Gruppe führen dazu, dass sie sich einen Safe Space wünschen. Also einen sicheren Rückzugsort für LSBTI*-Menschen, wo sie nicht mit der Mehrheitsgesellschaft vermischt werden. Denn ich als ältere lesbische Frauen möchte vielleicht erstmal nicht zu einem Angebot für die Mehrheitsgesellschaft gehen, weil ich mich fürchte, dort erneut diskriminiert zu werden.

Ist es nicht kontraproduktiv für die Akzeptanz, wenn LSBTI*-Personen von anderen Menschen getrennt werden?

Bernd Plöger: Programme wie ein Jazzkurs oder ein Frühstück nur für LSBTI*-Personen helfen, dass diese Menschen generell in solchen Einrichtungen vorkommen, wo sie vielleicht sonst nicht hingehen würden. Die Angebote sollen aber immer so sein, dass sie sich mit der Zeit für alle öffnen.

René Kirchhoff: Wir organisieren auch selbst Veranstaltungen, bei denen wir die Mehrheitsgesellschaft mit der Community zusammenführen. Wir hatten zum Beispiel eine Filmvorführung mit dem Film „Die Ehe des Herrn Schultze“ über ein älteres schwules Ehepaar in einer Senioreneinrichtung. Dann gab es eine Podiumsdiskussion mit dem Ehepaar Schulze, dem Filmemacher und uns. Da war eine 90-jährige Dame, die Feuer und Flamme für das Thema war: Denn sie hatte einen Bruder, der schwul war und sich sein Leben lang verstecken musste. Das hatte ihr so leidgetan, weshalb sie sich jetzt für das Thema einsetzt.

V. l. n. r.: René Krichhoff, Inka Wilhelm und Bernd Plöger von der Fachstelle „Altern unterm Regenbogen“.

V. l. n. r.: René Krichhoff, Inka Wilhelm und Bernd Plöger von der Fachstelle „Altern unterm Regenbogen“.

Machen ältere Menschen aus der LSBTI*-Community heute noch negative Erfahrungen mit Institutionen?

René Kirchhoff: Es gibt noch heute negative Erfahrungen, zum Beispiel mit Pflegeeinrichtungen beim Thema HIV: Bei manchen Einrichtungen sind Pflegekräfte noch auf dem Stand der 80er oder 90er. Sie wissen nicht, dass HIV-Positive im Alltag nicht einfach so das Virus übertragen können und lehnen solche Menschen darum generell ab. Für unseren Klienten ist so eine Diskriminierung eine Retraumatisierung: Die AIDS-Krise sitzt bei vielen tief. Manche waren damals beinahe jede Woche auf einer Beerdigung eines Freundes oder Bekannten.

Inka Wilhelm: Wenn man nicht über die speziellen körperlichen Bedürfnisse oder Lebenslagen Bescheid weiß, kann schnell neue Diskriminierung entstehen. Zum Beispiel bei Transmenschen: Wenn im Ausweis ein männlich gelesener Name steht, aber ich die Person, die ich sehe, als weiblich wahrnehme, kann es zu Verwirrung kommen, wenn man die Person nicht mit dem gewünschten Pronomen anspricht. Also wenn man jemanden, der sich als Mann wahrnimmt, als „sie“ bezeichnet oder andersrum. So kann man die Person unabsichtlich verletzen. Das hat auch was mit mangelnder Sensibilisierung aufseiten der Einrichtungen zu tun.

Wie sieht eine sensibilisierte Pflegeeinrichtung aus?

Bernd Plöger: Die Pflegeeinrichtungen müssen ihre zu pflegenden Personen und deren Biografien kennen – auch in Bezug auf Verfolgung und Diskriminierung. Wenn zum Beispiel eine Pflegekraft nicht weiß, dass er eine lesbische Frau behandelt und so etwas sagt wie: „Haben Sie nicht den richtigen kennengelernt oder warum sind Sie solo?“, kann das verletzend sein. Ein anderes Beispiel: Eine Pflegekraft platzt bei einem älteren Mann ins Zimmer, obwohl er und sein Besucher sich gerade nahe sein wollen. Der Mitarbeitende rechnet aber nicht damit, weil er bei zwei Männern nicht von so etwas ausgehen würde.

René Kirchhoff: Mit einer Regenbogenfahne an der Tür ist es eben nicht getan. Aber es ist ein schönes Symbol dafür, dass die Leute sich willkommen fühlen. Das ist aber nur der erste Schritt, von da aus muss man weitergehen.

Was sollten Einrichtungen noch tun?

Bernd Plöger: Mehr queere Kultur anbieten. Prüfen: Wie hoch ist der Anteil queerer Bücher in der Einrichtung? Oder: An wie vielen Filmabenden werden queere Filme gezeigt?

Inka Wilhlem: Wichtig ist auch: Die eigene Handlung und Vorurteile zu dem Thema zu reflektieren. Habe ich Vorurteile, die mir gar nicht bewusst sein? Selbstreflexion ist ein wichtiger Punkt, den wir in unseren Sensibilisierungsworkshops versuchen, zu vermitteln.

Wird denn die zukünftige Generation an Pflegekräften auf das Thema vorbereitet?

Inka Wilhelm: Zumindest wurde das Thema LSBTI* im Rahmencurriculum der generalisierten Pflegeausbildung aufgenommen. Das heißt: Das Thema wird mit einem gewissen Stundenumfang in der Ausbildung behandelt.

Klingt doch super.

Inka Wilhelm: Ja, aber es ist am Ende ein lachendes und ein weinendes Auge: Den Ländern und Pflegeschulen ist es selbst überlassen, wie stark sie das Thema umsetzen. Wir werden aber in Düsseldorf ab diesem Sommer mit einer Pflegeschule kooperieren und Auszubildende in einem Tagesworkshop sensibilisieren. Das ist keine einmalige Sache, sondern wird regelmäßig bei jedem neuen Kurs stattfinden. Generell kann man sagen, dass unser Angebot sehr gut angenommen wird: Seit Anfang 2022 melden sich immer mehr Einrichtungen bei uns, die das Thema vorantreiben wollen.

Kontaktdaten der Fachstelle Altern unterm Regenbogen

René Kirchhoff: 0211 77095-20

Inka Wilhelm: 0211 686854

Bernd Plöger: 0152 2168 6029

Helfen Sie der Community noch anders?

René Kirchhoff: Darüber hinaus beraten wir auch generell zu Fragen um das Thema Altern: Wie beantragt man einen Pflegegrad? Oder wie bekommt man Unterstützung im Haushalt? Ich helfe zum Beispiel Leuten beim Stellen von Anträgen oder Hilfsmitteln. Viele ältere LSBTI*-Menschen sind einsam und haben sonst niemanden, der ihnen dabei helfen würde.

Das klingt alles nach viel Arbeit für drei Personen.

René Kirchhoff: Das ist es. Wir haben auch nur drei halbe Stellen und bei unseren jeweiligen Trägern und Organisationen noch andere Aufgaben.

Bernd Plöger: Wir sind zudem nicht paritätisch besetzt: Also wir vertreten persönlich nur einen Teil der Community. Wir wünschen uns Verstärkung, um Trans- oder Intermenschen besser vertreten zu können. Wir sind zudem auch nicht in der Regelförderung drin und kämpfen alle zwei bis drei Jahre darum, dass unsere Fachstelle neue Gelder bekommt. Das kostet Kraft und Ausdauer, was die nachhaltige Arbeit angeht.

Wie können Bürgerinnen und Bürger denn helfen, um Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen?

René Kirchhoff: Sachbezogene Spenden, Abgeordneten schreiben oder auf Demos mitlaufen. Sie können auch auf die Organisationen zugehen und fragen, wie man vor Ort helfen kann. Man kann allgemein auch bei Diskriminierung den Mund aufmachen. Egal ob in der U-Bahn oder in den Institutionen.

Inka Wilhelm: Es reicht oft auch, auf der Arbeit in der Kaffeerunde dagegenzusprechen, wenn jemand von „Schwuchteln“ oder „Kampflesben“ spricht.

Was ist mit Menschen, die in Pflegeheimen wohnen? Was können die tun, wenn sie beispielsweise merken, dass einer ihrer Mitbewohner LSBTI* ist?

Bernd Plöger: Fragen Sie im Zweifel, mit welchem Personalpronomen jemand angesprochen werden will. Oder, ob bestimmte Begriffe für die Person in Ordnung sind. Es gibt natürlich Grenzen: Fragen, die zu intim sind, würden man sicher keinem stellen. Aber es tut generell gut, ein Signal gesendet zu bekommen, dass das Gegenüber beim Thema LSBTI* offen ist. Die Menschen outen sich dann lieber. Das kann man so auch mal am Kaffeetisch fallen lassen.

Inka Wilhelm: Im Grunde geht es nur darum, respektvoll sowie wertschätzend zu sein und die andere Person in ihrem Sein zu akzeptieren. Das und in einem Umfeld zu leben, in dem man sich sicher fühlen kann, ist etwas, was sich alle Menschen wünschen. Und letztendlich sind wir LSBTI*-Personen Menschen wie alle anderen auch.

Frau Wilhelm, Herr Kirchhoff, Herr Plöger, vielen Dank für das Gespräch.

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