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Sara (Name geändert) war noch keine acht Jahre alt, als der Vater sie zur Beschneidung brachte. „Meine Mutter war dagegen, weil ich noch so klein und zart war“, erzählt die zierliche junge Frau. „Aber mein Vater hat mich trotzdem beschneiden lassen.“ Sie hat schlimme Er­innerungen an diesen Tag in ihrem Heimatland Somalia: „Ich war wach, als sie geschnitten haben, ich habe alles gefühlt. Das kann man nicht einfach vergessen.“

Das passiert bei der „Beschneidung“

Sara ist eine von 200 Millionen Frauen und Mädchen, die nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen sind. Das Ritual ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und in Deutschland strafbar. Hier leben nach einer Dunkelzifferschätzung der Organisation Terre des Femmes mehr als 100 000 Betroffene, die meisten sind Geflüchtete. Verbreitet ist die Praxis in etwa 30 Ländern Afrikas, auf der arabischen Halbinsel und in einigen asia­tischen Ländern. Der Begriff „Beschneidung“ verharmlost, was den Mädchen angetan wird. Zwischen 4 und 14 Jahre sind sie alt, wenn sie zur Beschneiderin gebracht werden. Frauen sind Opfer und Täterinnen zugleich. Die Beschneiderin ist meist eine Frau aus dem Dorf ohne medizinische Kenntnisse oder Ausbildung. Viele verwenden unhygienische Instrumente, alte Messer oder Rasierklingen.

Je nach Brauch wird den Mädchen mindestens der sichtbare Teil der Klitoris, die Klitoriseichel, entfernt, häufiger auch die kleinen und großen Vulvalippen. Bei der ­sogenannten pharaonischen Beschneidung (Infibulation) werden die Wundränder ­zusammengenäht oder mit Dornen verschlossen. Zurück bleibt eine wenige Millimeter große Öffnung, „manchmal nur so groß wie die Spitze eines Kugelschreibers“, sagt Gynäkologin Dr. Eiman Tahir. Nach dem Eingriff bindet man den Mädchen über Wochen die Beine zusammen, damit die Naht verschlossen bleibt.

Folgen der Genitalverstümmelung

Eiman Tahir sieht in ihrer Praxis in München täglich Frauen, die unter den Folgen der Genitalverstümmelung leiden. Weil die Vaginalöffnung so winzig ist, können sie nur schlecht Wasser lassen. Menstruationsblut und Urin stauen sich in der Vagina. Das vernarbte und verklebte Gewebe reibt und juckt. Wenn Geschlechtsverkehr möglich ist, dann nur unter Schmerzen. Die ­Betroffenen kämpfen ständig mit Infek­tionen und Entzündungen sowie starken Krämpfen während der Periode.

„Sie können nur kleine Schritte machen, weil das Gewebe so fest verschlossen wurde. Sport oder Fahrradfahren sind undenkbar“, erzählt Fadumo Korn. Auch sie stammt aus Somalia, erlitt die Genitalverstümmelung mit sieben Jahren. Sie sagt: „Es wird nicht groß über den Eingriff gesprochen, sondern nur gesagt: Du wirst gereinigt.“ Bis sie 1979 nach Deutschland kam, sei sie der ­festen Überzeugung gewesen, alle Frauen seien beschnitten.

Keine religiöse Praxis

Korn hat 2012 den Verein Nala e. V. mitgegründet, der betroffenen Frauen hilft sowie über Genitalverstümmelung aufklärt. Was viele nicht wissen: Die Genitalverstümmelung von Frauen ist keine religiöse, sondern eine seit vielen Jahrtausenden über­lieferte Praxis. „Keine Religion verlangt das“, sagt Fadumo Korn. Vielmehr gehe es da­rum, den Frauen die Sexualität zu nehmen. Die Klitoris werde als gefährliche ­Waffe, als Stachel beschrieben, der den Mann töten könne. Mädchen und Frauen wird erzählt, das Ritual fördere die Fruchtbarkeit und ­ermögliche leichtere Geburten – eine absurde Verdrehung der Tatsachen.

„Am Tag sehe ich in meiner Praxis mindestens zwei bis drei betroffene Frauen“: Dr. Eiman Tahir betreut in ihrer Münchner Praxis seit Jahren von der Genitalverstümmelung betroffene Frauen.

„Am Tag sehe ich in meiner Praxis mindestens zwei bis drei betroffene Frauen“: Dr. Eiman Tahir betreut in ihrer Münchner Praxis seit Jahren von der Genitalverstümmelung betroffene Frauen.

„Es fehlt an Aufklärung“, sagt Eiman ­Tahir. Sie hat für ihre Doktorarbeit mehr als 500 verstümmelte Frauen in ihrem Heimatland Sudan interviewt. Frauen, deren Kinder unter der Geburt starben, weil die Vulva zu fest verschlossen war. Die jahrelang schwer inkontinent im Krankenhaus bleiben mussten. Warum wird das Ritual weiter praktiziert, wenn die Folgen so schlimm sind? „Die Menschen bringen solche Komplikationen nicht mit der Beschneidung in Verbindung. Sie kennen die anatomischen Zusammenhänge nicht“, sagt Tahir. Feh­lendes Wissen und fehlende Bildung sind mit dafür verantwortlich, dass Genitalverstümmelung weiter praktiziert wird.

Aufklärung ist wichtig

Fadumo Korn kämpft daher auf vielen Gebieten. Sie reist regelmäßig nach Burkina Faso, wo der Verein Nala junge Frauen und Männer ausbildet, die in den Dörfern über die Genitalverstümmelung aufklären – zum Beispiel mit großformatigen Fotos, die zeigen, was die Beschneidung bei den Mädchen anrichtet und wie schwer es für die Frauen ist, ein Kind zu gebären. In München arbeitet Korn als Dolmetscherin bei einer Gesundheitsberatung für Migrantinnen. Für betroffene Frauen ist sie oft die erste und wichtigste Ansprech­partnerin. Viele verstehen erst im Gespräch mit ihr, was ihnen widerfahren ist. „Eine sagte nur voller Wut: Man hat mich beraubt“, erzählt Fadumo Korn.

Auch Sara ist ihr im vergangenen Jahr zum ersten Mal begegnet. Die zierliche junge Frau, die so selbstbewusst erzählt, ist heute 18 Jahre alt. Als ihr Vater sie zwingen wollte, einen viel älteren Mann zu heiraten, floh sie aus Somalia. Gerade einmal 13 Jahre alt war sie damals. Seit zwei Jahren lebt sie in Deutsch­land. Erst hier hat sie erfahren, was die Beschneidung bedeutet. „Ich war bei einer Ärztin, die sagte, ich muss das operieren lassen. Aber ich wollte nicht. Ich sagte, das ist meine Kultur, ich darf das nicht rückgängig machen“, erzählt Sara.

Jede Untersuchung eine Tortur

Eine Rück-Operation, die so­genannte Defibulation, kann die Frauen von den vielen Beschwerden befreien. „Wir sehen vor allem Frauen, die die Rück-OP wegen gesundheit­licher Probleme wollen oder weil sie schwanger sind“, sagt Assistenzärztin ­Céline Kohll von der Spezialsprechstunde Genitalverstümmelung am Münchner Klinikum rechts der Isar. Wenn die Schwangere spontan gebären möchte, muss die Narbe spätestens während der Geburt geöffnet werden, um Komplikationen zu verhindern. Besser ist es, der Eingriff findet einige Wochen vorher statt, etwa um die 20. Schwangerschafts­woche. „Die Frauen haben dann Zeit, sich an das neue Empfinden zu gewöhnen. Auch Untersuchungen, etwa des Muttermundes, sind dann leichter oder überhaupt erst möglich“, erklärt Céline Kohll.

„Leider wollen nicht einmal zehn Prozent meiner Patientinnen diesen Eingriff“, sagt Eiman Tahir. „Sie haben solche Angst, die Schmerzen der Beschneidung noch einmal zu erleben, lieber ertragen sie alles andere.“ Ein ganz normaler Frauenarztbesuch ist für viele eine Tortur, oft sind Untersuchungen gar nicht möglich. Tahir nimmt sich daher viel Zeit für diese Patientinnen, spricht ­lange mit ihnen, berät. Wenn ein vaginaler Ultraschall nicht möglich ist, schallt die ­Gynäkologin von außen über den Bauch. In der Vergangenheit hat sie all dies regulär mit den Krankenkassen abgerechnet und damit fast ihre Existenz aufs Spiel gesetzt.

Folgen für den Alltag

Als sich Fadumo Korn und Sara zum ersten Mal treffen, wiegt die junge Frau gerade einmal 32 Kilogramm. Sie isst und trinkt wenig, damit sie nicht so oft zur Toilette muss. Während der Periode hat sie so schlimme Schmerzen, dass sie immer wieder ohnmächtig wird. Die Rück-OP würde ihr helfen, trotzdem lehnt sie diese entschieden ab: „Fadumo hat mir alles erklärt, aber ich wollte mehr Zeit haben.“

Ein langes Telefonat mit ihrer Mutter stimmt sie schließlich um. Zum ersten Mal seit Langem haben sie wieder Kontakt. Sie sprechen auch über die Beschneidung, ­Saras Beschwerden und die Möglichkeit, die Narbe zu öffnen. Sara hat Angst, dass ihre Mutter dagegen ist, aber sie spricht ­offen mit ihr: „Ich habe ihr erzählt, wie schlimm es ist, und sie hat gesagt: Deine Gesundheit ist am wichtigsten. Du bist nicht mehr in Somalia, niemand kann dich abhalten.“ Für Sara sind diese Worte unglaublich wichtig. Sie entscheidet sich für die Operation, Fadumo Korn begleitet sie.

Rück-OP kann helfen

Vor dem Eingriff bekommt Sara Panik, zittert so, dass der Anästhesist Prob­leme hat, die Nadel für die Narkose zu setzen. „Ich dachte, ich werde alles spüren – wie damals. Ich werde hören, wie sie mich schneiden.“ Doch alles läuft gut und problemlos. Der Eingriff dauert nicht lange. „Es ist eine relativ kleine Operation ohne Komplikationen. Man öffnet die Narbe und vernäht die Wundränder“, erklärt die Münchner Expertin Céline Kohll. „Das geht mit einer lokalen Narkose oder einer Periduralanästhesie (PDA). Aber die meisten Frauen möchten ­eine Vollnarkose.“

Saras Operation ist mittlerweile mehrere Monate her. Es geht ihr gut, sie braucht ­keine Medikamente mehr. Sie hat zugenommen und „ist nicht mehr so dünn, dass der Wind sie gleich umweht“, sagt Fadumo Korn. „Ich bin einfach froh, dass ich das ­gemacht habe“, sagt Sara. Wenn sie von ­ihrem Leben in Deutschland erzählt, strahlen ihre Augen. Sie will noch besser Deutsch lernen, im Sommer ihren Schul­abschluss machen und eine Ausbildung in der Altenpflege beginnen.

Ihr größter Wunsch: eine eigene Wohnung. Noch lebt sie in einer Wohngruppe mit vier anderen jungen Frauen. Sie schlafe sehr schlecht, erzählt Sara. Wenn es nachts laut wird, ­gerät sie schnell in Panik. Sie kann nicht vergessen, was sie auf ihrer Flucht erlebt hat. Wenn sie davon erzählt, zittert ihre Stimme. Auch die Erinnerungen an die Beschneidung sind immer noch da. „Ich will die Frau suchen, die mir das angetan hat“, sagt Sara. „Und was machst du dann mit ihr?“, fragt Fadumo Korn. „Ich schlage sie“, sagt Sara. Sie lacht kurz auf, aber ihre Stimme ist fest und ihr Blick ernst.

Hilfe für betroffene Frauen und Mädchen

Mit der globalen Migration verbreitet sich die grausame Tradition der Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen zunehmend auch in Europa. Auch in Deutschland leben nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes mittlerweile mehr als 100 000 Mädchen und Frauen, deren Genitalien beschnitten wurden, mehr als 17 000 Mädchen in Deutschland seien derzeit potenziell gefährdet.

Rund 50 Beratungs- und Anlaufstellen in den einzelnen Bundesländern bieten Unterstützung für betroffene Familien. Ein Handbuch für Betroffene der Organisation Plan International bietet zusätzlich Hilfe auch auf Englisch, Französisch und Arabisch. (dpa)

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Quellen:

  • Mama Afrika e.V. : Genitalverstümmelung, Warum ist dieses Thema wichtig?. Online: https://mama-afrika.org/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM). Online: https://www.bmz.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Intact Mädchenhilfe: Weibliche Genitalverstümmelung - Informationen/Spenden. Online: https://www.intact-ev.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • WHO: 2022/ WHO HQ/UHL/SRH/AVP/01 Doc. Ref: RFP_MediumValue_V.03 2021_20210804 Systematic Reviews to Inform the Update of the World Health Organization’s Guidelines on Female Genital Mutilation. Online: https://cdn.who.int/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Terres des Femmes: Weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland, Dunkelzifferschätzung 2022. Online: https://www.frauenrechte.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Nala e.V.: Female Genital Mutilation (FGM) / weibliche Beschneidung. Online: https://nala-fgm.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Ministerin Giffey stellt Zahlen zu weiblicher Genitalverstümmelung vor, An die 67.000 Frauen und Mädchen in Deutschland betroffen . Online: https://www.bmfsfj.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Terres des Femmes: Akutelles zum Thema weibliche Genitalverstümmelung. Online: https://www.frauenrechte.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)
  • Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Stadtjugendamt: Verhinderung von Genitalverstümmelung. Online: https://stadt.muenchen.de/... (Abgerufen am 27.03.2023)