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Herr Professor Stehr, der Fall eines vierjährigen Jungen, der nach einer medizinisch nicht notwendigen Beschneidung notoperiert werden musste, führte im Jahr 2012 dazu, dass das Kölner Landgericht rituelle Beschneidungen zu Straftaten erklärte. Wenige Monate später erließ der Bundestag ein Gesetz, das sie legalisierte. Wie erlebten Sie die Situation damals?

Ich bin in die Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Beschneidung von Jungen schon früh eingestiegen, wenn ich sie nicht sogar mitinitiiert habe. Den ersten, die Beschneidung kritisch beurteilenden Fachartikel publizierte ich Anfang der 2000er Jahre. Das Kölner Landgericht berief sich bei seiner Entscheidung dann auch im Wesentlichen auf eine weitere Arbeit von einem juristischen Kollegen und mir. Das führte zu viel Kritik und auch Anfeindungen.

Prof. Maximilian Stehr ist Koordinator der Leitlinie „Phimose und Paraphimose bei Kindern und Jugendlichen“.

Prof. Maximilian Stehr ist Koordinator der Leitlinie „Phimose und Paraphimose bei Kindern und Jugendlichen“.

Von wem kamen die?

Insbesondere von Religionsgemeinschaften, die sich in ihrer Identität bedroht fühlten. Das kann und konnte ich übrigens nachvollziehen, schließlich ist für viele Juden und Muslime die Beschneidung ein glaubensstiftendes Ritual. Mein Fokus ist aber ein anderer. Ich bin Arzt und beleuchte das Thema rein medizinisch. Dementsprechend halte ich das Gesetz, das der Bundestag daraufhin beschlossen hat, auch bis heute für unselig.

Wieso?

Weil es widersprüchlich ist. Zum Beispiel heißt es darin, die Eingriffe müssten nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Gleichzeitig erlaubt es die Beschneidung von Kindern unter sechs Monaten durch Personen, die keine Ärzte oder Ärztinnen sind. Dann aber können die Eingriffe nicht nach den Regeln der Kunst erfolgen, weil diese zum Beispiel eine Narkose vorsehen. Mal ganz abgesehen davon, dass Beschneidungen grundsätzlich nur nach sehr hart gestellter medizinischer Indikation erfolgen sollten. Das Gesetz wischt die medizinische Betrachtungsweise weg und gibt dem Religiösen und Kulturellen Vorrang.

Medizinisch angezeigt ist eine Beschneidung nur, wenn durch eine Vorhautverengung für den Jungen oder Mann Probleme etwa beim Wasserlassen oder durch Entzündungen von Penis und Eichel entstehen.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren?

Jeder Mensch hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Deshalb sollte der Paragraf § 1631d BGB hinterfragt und abgeschafft werden und die Glaubensgemeinschaften könnten hinterfragen, ob Ersatz-Rituale nicht die gleiche Kraft und Bedeutung haben wie eine durchgeführte Beschneidung. Neben der vielen und teils heftigen Kritik habe ich damals auch Zuspruch bekommen. Es gibt zum Beispiel unter Rabbinern durchaus einige, die selbstkritisch sind und sagen, dass es möglich sei, die Beschneidung als Ritual zu ersetzen.

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Kritik waren Sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewohnt – allerdings eher von Kollegen und Kolleginnen, deren Umgang mit Beschneidungen Sie grundsätzlich hinterfragten.

Das stimmt. Als Assistenzarzt, also in den 1990er Jahren, erlebte ich, wie Beschneidungen bagatellisiert wurden. Damals wurde die Vorhaut im Rahmen anderer Operationen wie zum Beispiel nach einem Leistenbruch schnell „mitgemacht“. Zwei kleine Schnitte und nur Vorteile – das war damals die vorherrschende Meinung. Mich hat das irritiert, also begann ich zu recherchieren und fand schnell heraus, dass das ganz sicher kein nebenwirkungsfreier, einfacher Eingriff ist.

Wie wird das heutzutage gesehen?

Die Zeiten haben sich glücklicherweise geändert, heute ist die Sensibilität für das Thema bei Ärztinnen und Ärzten sehr viel größer. Bei der aktuellen Leitlinie, die wir vor einem Jahr veröffentlicht haben, arbeiteten viele verschiedene Gruppen mit. In dieser Leitlinie wird auch herausgearbeitet, was mögliche körperliche und psychische Folgen nach einer Beschneidung sein können.

Welche sind das zum Beispiel?

Zum einen sind da die akuten Komplikationen, die bei etwa fünf Prozent der Kinder selbst in spezialisierten Kliniken oder Praxen auftreten – Nachblutungen und Infektionen etwa. Dann gibt es langfristige körperliche Folgen wie beispielsweise eine mögliche Verengung der Harnröhrenöffnung, die zu Problemen beim Wasserlassen führen kann. Abgesehen davon, dass die Vorhaut selbst aus sensiblem Gewebe besteht, das bei der Beschneidung verloren geht, verhornt die Oberfläche der Eichel. Folgen für die sexuelle Entwicklung sind hier nicht ausgeschlossen.

Die Vorhaut ist kein evolutorisches Überbleibsel ohne Funktion.

Und damit psycho-sozialen Auswirkungen...

Genau. Die Kenntnislage hat sich gerade in diesem Bereich in den vergangenen Jahren verbessert. Dabei geht es allerdings nicht „nur“ um die Folgen einer wenig erfüllenden Sexualität. Besonders schwer wiegt für Betroffene zum Beispiel die Tatsache, nie um Einwilligung gebeten worden zu sein. Sie haben zeitlebens das Gefühl, möglicherweise grundlos einem verstümmelnden Eingriff ausgesetzt worden zu sein. Das wirkt sich vielfach auch auf das Urvertrauen zu den eigenen Eltern aus. Die sind aber vielleicht auch nur einem falschen Rat gefolgt.

Beschneidungsgegnern zufolge kommt das auch heute noch oft vor. Tatsächlich registrierten die Gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2020 noch mehr als 32 000 medizinisch indizierte Eingriffe. In der Regel wurde eine „Phimose“, also eine Vorhautverengung, als Grund angegeben. Die Kritiker sprechen von Scheindiagnosen und grundlosen Beschneidungen nicht nur aus rituellen Gründen, sondern aufgrund von Unwissen und Mythen bei Eltern und Ärzten.

Über die Hintergründe kann man nur mutmaßen. Fakt ist, dass schon diese Zahl um ein Vielfaches über dem liegt, was medizinisch notwendig wäre. Bei 360 000 Knaben pro Jahrgang wären das wahrscheinlich nur um die 5000 Eingriffe. Jedoch ist davon auszugehen, dass die Zahlen lückenhaft sind, also womöglich noch höher liegen. Wie gesagt, wächst die Sensibilität dem Thema gegenüber aber zum Glück. In der Medizin geht es um einen Generationswechsel, und bei den Eltern darum, ihnen das nötige Wissen zu vermitteln. Ich erlebe oft eine große Unsicherheit, wenn es um den Penis und die Vorhaut ihrer Jungen geht.

Was sollten Eltern denn wissen?

Grundsätzlich, dass die Vorhaut kein evolutorisches Überbleibsel ohne Funktion ist. Sie schützt die Eicheloberfläche und sorgt als sehr sensibles Körperteil für Empfindungen. Dabei ist es ganz normal, dass die Eicheloberfläche mit dem inneren Vorhautblatt in den ersten Jahren oftmals „verklebt“ ist. Das gewaltsame Losreißen, das auch lange praktiziert wurde und manchmal noch wird, führt deshalb oft zu Verletzungen und mitunter zu Vernarbungen, wegen derer dann wiederum eine Beschneidung notwendig werden kann.

Bis wann sollte sich die Vorhaut denn gelöst haben?

Man muss und kann der Physiologie viel Zeit geben – im Zweifel bis zum Ende der Pubertät. Dass sich bis dahin der natürliche Trennungsprozess nicht vollzieht, ist lediglich bei 0,6 bis 1,5 Prozent der Jungen der Fall. Und auch dann ist die Beschneidung das letzte Mittel – nach einer Behandlung mit hormonhaltigen Salben zum Beispiel.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Auf Seiten der Medizin müssen wir die Ausbildung schon im Studium verbessern und die Sensibilität weiter steigern und schärfen. Damit gäbe es schon eine Säule, die einer vermeidbaren Beschneidung entgegensteht. Gesellschaftlich würde ich mir wünschen, dass man mit den Religionsgemeinschaften besser in den Kontakt tritt und überlegt, wie man diesen Konflikt lösen könnte. An der Leitlinie hat auch eine Betroffenenorganisation mitgearbeitet, in der sich auch rituell beschnittene Männer engagieren. Die treffen sich nicht, weil es lustig ist, sondern weil sie ein Problem haben.